Robert Gerwarth: Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt, München: Siedler 2007, 288 S., ISBN 978-3-88680-871-7, EUR 19,95
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1913 war es soweit: Der Ausschuss zur Errichtung des Bismarck-Nationaldenkmals hatte sich endlich auf den Standort und die Ausführung geeinigt. Monumental sollte dieses Bismarck-Denkmal werden. Der Entwurf sah einen 60 Meter hohen Kuppelturm vor, in dem eine kolossale Bismarck-Figur saß - unter dem Motto aus Goethes "Faust": "Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Aeonen untergehen". Das Ganze war auf den Höhen des Hunsrücks, in Sichtweite des Niederwalddenkmals bei Bingen am Rhein geplant. Offenbar hatten die Initiatoren keine Ahnung davon oder wollten sich nicht mehr erinnern, wie abfällig Bismarck über die gegenüberliegende Germania gesprochen hatte; aber wenigstens hätte ihm der geschlossene Turm diesen posthumen Anblick wohl erspart. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte den Bau zunächst.
Ausgerechnet, aber rein zufällig am 30. Januar 1933 wurden an gleicher Stelle die Bauarbeiten für das Bismarck-Nationaldenkmal in Angriff genommen (und bald darauf, im Frühjahr 1934, wieder eingestellt), und diese Wiederaufnahme der alten Denkmalsidee wurde in der Presse fälschlicherweise Hitler gutgeschrieben. Nicht nur Nationalsozialisten, sondern auch weite nationalkonservative Kreise glaubten dem nur allzu gerne.
1958 wurden die alten Pläne noch einmal ausgegraben, und der Rückgriff auf die Ortswahl zeigt, dass Bismarcks kleindeutscher Staat immer noch die Folie für die Hoffnung auf die deutsche Wiedervereinigung abgab: Die regionale FDP forderte die Errichtung eines Denkmals an genau diesem Ort - nun aber nicht mehr als Bismarck-Denkmal, sondern als Mahnmal für die deutsche Einheit. Nicht nur die "Tausend Jahre", sondern auch Fausts "Aeonen" waren inzwischen offenbar vergangen. Die Zeit, in der man Bismarck-Denkmäler baute, war vorüber, zumindest in ihrer materiellen Form - in der Historiografie währte der Kampf zwischen Denkmalerrichtern und Denkmalstürzern noch länger. Die Bonner Republik schuf mit dem Rückgriff auf 1832 und 1848 ihren eigenen und dieses Mal integrierenden "Mythos" und drängte Bismarck in den Hintergrund.
Was zwischen 1913 und 1933 liegt, steht im Zentrum von Gerwarths Arbeit, der deutschen Übersetzung einer wohltuend kurzen (200 Textseiten) und brillant geschriebenen Oxforder Dissertation. Der englische Originaltitel ("The Bismarck Myth. Weimar Germany and the Legacy of the Iron Chancellor") lässt die Konzentration auf die Zeit der Weimarer Republik - mit einem knappen Prolog für die Kaiserzeit und einem ähnlich knappen (und für die Zeit nach 1945 vielleicht etwas zu holzschnittartigen) Epilog für die Jahre 1933 bis 1990 - schneller erkennen: Gerwarth stellt den öffentlichen Streit um die Deutung des Reichsgründers und damit um die Deutungshoheit über die legitime Staatsform in den Mittelpunkt, einen wesentlichen Aspekt aus dem "Bürgerkrieg der Erinnerungen und historischen Symbole" (14). Der Hinweis auf ein paar kleine Flüchtigkeitsfehler ist nicht besserwisserisch gemeint, sondern einer 2. Auflage nützlich: Die Verträge wurden in Locarno nicht am "26.", sondern am 16. Oktober 1925 "paraphiert" und nicht "unterzeichnet" (113); Erdmanns inzwischen bekannter Entwurf eines Geschichtsbuchs trägt den Titel "Erbe der Ahnen", nicht "Erde der Ahnen" (236, Anm. 28); dass Brüning ein "hochdekorierter" Frontoffizier gewesen sei (142), lässt sich angesichts der Zahl der insgesamt verliehenen "Eisernen Kreuze" des Ersten Weltkriegs vielleicht etwas relativieren.
Nationale Mythen sollen üblicherweise dazu beitragen, politisch-gesellschaftliche Identitäten zu bilden. In einer tief gespaltenen Gesellschaft - wie derjenigen der Weimarer Republik - sind sie jedoch ein Kampfinstrument, um kulturelle Hegemonie zu erringen. Der "Bismarck-Mythos" diente dazu, das konkurrierende demokratische Geschichtsbild der Erfüllung von 1848 zu delegitimieren und den starken Mann, den messianischen Erlöser, als Schutz gegen äußere, vor allem aber vermeintliche innere Feinde Deutschlands zu fordern. Die Anhänger des Bismarck-Mythos waren am Ende erfolgreich, auch weil es ihrem Gegenüber nicht gelang, einen "republikanischen Mythos" zu schaffen, der auf breite Zustimmung gestoßen wäre. Gerade der Rückgriff der Republik auf 1848 erwies sich von Anfang an als wenig tragfähig, galt diese Revolution doch in weiten Kreisen als misslungen und eher als Beleg dafür, dass Parlamente nicht in der Lage waren, ein einiges Deutschland zu schaffen.
Gerwarth kann unter Rückgriff auf ein breites Spektrum an Quellen (aus Zeitungen und anhand von Wahlplakaten, Filmen, Reden und Reichstagsdebatten sowie Schreiben aus Parteiarchiven und Privatnachlässen) aufzeigen, dass fast alle großen politischen Themen in den 14 Jahren der Weimarer Republik auch mit dem Rückgriff auf Bismarck diskutiert wurden. In der Regel nutzten die deutschnationalen und völkischen Rechten diese Diskussion zum Angriff auf die Republik, wobei Bismarck als Kronzeuge für ihren Antiparlamentarismus und die Notwendigkeit heroischer Führerschaft herhalten musste. Dass dabei zahlreiche Historiker assistierten, ist bekannt, und neben wenigen Außenseitern der Zunft sahen auch nur einzelne andere Geisteswissenschaftler, dass der Weg zur Festigung der Demokratie "über die Trümmer des Bismarckkultes" (Hermann Kantorowicz) führen müsse.
Ein gewissermaßen vermittelnder Versuch wie derjenige Stresemanns, sich im Kampf um seine Außenpolitik gegen die rechte antirepublikanische Front ebenfalls auf Bismarck zu beziehen und dabei den Reichsgründer vor allem als Realpolitiker darzustellen, konnte zwar einen gewissen Erfolg verbuchen, zumal der Außenminister mit der gleichzeitigen positiven Betonung der Tradition von 1848 durchaus daran arbeitete, beide Geschichtsbilder - und damit die Republik - zu integrieren. Aber schon Mitte der Zwanzigerjahre zeigte der für die weitere Geschichte der Weimarer Republik so verhängnisvolle Reichspräsidentenwahlkampf von 1925, wohin die Reise ging: Paul von Hindenburg wurde von seinen Wahlkampfagitatoren zum "zweiten Bismarck" stilisiert, und sein Gegner Wilhelm Marx erlitt mit seiner Berufung auf die Traditionen von 1848 und 1918 Schiffbruch. Als der "Kladderadatsch" wenige Tage nach der Wahl Hindenburg in Anlehnung an die berühmte Karikatur von 1890 unter dem Motto "Der Lotse besteigt das Schiff" abbildete, wähnte sich die antirepublikanische und antiparlamentarische Rechte auch als Siegerin im Ringen um die Geschichtsbilder.
Unter den Vorzeichen der Wirtschaftskrise wurde die Wirkung des Bismarck-Mythos noch deutlicher. So gelang es Hitler und seiner Propaganda, sich nationalkonservativen Kreisen als ein Bismarck redivivus anzupreisen, als derjenige, der die kleindeutsche Einigung durch eine großdeutsche Weiterung ausbauen und dafür den verhassten Parlamentarismus erledigen würde. Kaum ein Beleg verdeutlicht diesen Übergang des Bismarck-Mythos von Hindenburg auf Hitler besser als die regionale Betrachtung der Reichstagswahlergebnisse vom Juli 1932: Wo 1925 Hindenburg seine besten Ergebnisse hatte, fuhr diese nun Hitlers NSDAP ein; wo Hindenburg weniger Zuspruch fand, widerfuhr dies auch der NSDAP.
Nach 1933 glaubten die Nationalkonservativen, die Hitler zur Macht mitverholfen hatten, nun sei die Rückkehr zur glorreichen Bismarckzeit angebrochen. Einige von ihnen erkannten sehr schnell, viele erst später, dass die Auslieferung der Bismarck-Deutung an die Nationalsozialisten nur den Anfang vom Ende des Bismarckschen Nationalstaates einläutete. Ulrich von Hassell notierte im Juli 1944 nach einem Besuch in Friedrichsruh in sein Tagebuch: "Kaum zu ertragen, ich war dauernd an Tränen beim Gedanken an das zerstörte Werk. [...] Es ist bedauerlich, welch falsches Bild wir selbst in der Welt von ihm erzeugt haben, als dem Gewaltpolitiker mit Kürassierstiefeln [...]. In Wahrheit war[en] die höchste Diplomatie und das Maßhalten seine große Gabe."
Wolfgang Elz