Jonas Grethlein: Das Geschichtsbild der Ilias. Eine Untersuchung aus phänomenologischer und narratologischer Perspektive (= Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben; Bd. 163), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 381 S., ISBN 978-3-525-25262-8, EUR 64,90
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Grethlein will in seiner Habilitationsschrift das Verhältnis 'Ilias - Geschichte' neu beleuchten. In zwei in die fortlaufende Analyse eingeschobenen Kapiteln legt G. die von ihm dafür benützten theoretischen Prämissen ausführlich dar.
Da der Mensch vor jeder Handlung schon in der Geschichte stehe, sei jede Geschichte in der Lebenswelt verankert und deshalb nicht objektiv. Deswegen wird der Begriff Geschichte durch Geschichtsbild ersetzt. Die Ilias sei ein Ausdruck eines solchen Geschichtsbildes. Grethlein stellt sich in eine "phänomenologisch-hermeneutische Tradition" (H.-G. Gadamer), für die Geschichte von der "Seinsweise des Menschen" bestimmt ist. Diese lasse sich dort fassen, wo sich Erfahrung und Erwartung eines Menschen kreuzen. Doch dieser Punkt ist in seiner jeweiligen Spezifik von Kontingenz abhängig. Kontingenz führe somit zu einer vom Menschen nur erfahrbaren, nicht aber beherrschbaren Spannung zwischen Erfahrung und Erwartung.
Um diese Art der Kontingenz näher beschreiben zu können, unterscheidet Grethlein unter Bezug auf Odo Marquard zwischen Schicksalszufälligkeit und Beliebigkeitszufälligkeit. Im ersten Fall kann eine Art von Instanz für die Zufälligkeit benannt werden, im andern Fall entzieht sich die Zufälligkeit einer externen Vorgabe. Zur Festlegung der mit diesen Formen von Kontingenz in Verbindung stehenden Möglichkeiten der "Seinsweise des Menschen" werden die von Jörn Rüsen angeführten vier Formen von Sinnbildung herangezogen. Dies erweist sich für die Untersuchung als sehr nützlich, weil diese Formen der Sinnbildung mit verschiedenen Formen des Erzählens parallelisiert werden: traditionales Erzählen - pränarrative Sinnbildung; exemplarisches Erzählen - regelhafte Vorgänge; kritisches Erzählen - Ankämpfen gegen Traditionen; genetisches Erzählen - zeitliche Veränderung. Auf dieser Grundlage differenziert Grethlein zwischen drei Formen von Geschichtsbildern innerhalb der Ilias und im Blick auf die Ilias: Das Geschichtsbild der Helden - das Geschichtsbild der Ilias - die Ilias in der Geschichte.
Im zweiten theoretischen Kapitel führt Grethlein die These aus, dass die Erzählung mit der Refiguration geschichtlicher Zeiterfahrung gleichzusetzen sei. Die Ilias weise selbst keinen konkreten (historischen) Situationsbezug auf. Deshalb komme es in der Erzählung nur in Ansätzen zu einer exemplarischen und traditionalen Sinnbildung. Dennoch greifen die Helden innerhalb der Erzählung auf ihre Vergangenheit zurück. Dies erfolge innerhalb einer doppelten Zeitstruktur, einer Zeit der Charaktere (= Helden, Akteure) und einer Zeit der Rezeption (bzw. der Rezipienten) der Erzählung. Der Rückgriff der Charaktere auf die Vergangenheit sei weniger intensiv als die Darstellung der Vergangenheit außerhalb dieser von Helden-Erzählungen. Grethlein operiert bewusst mit einem narratologischen Instrumentarium, das er nur als ein heuristisches Mittel zur technischen Analyse der Erzählstruktur versteht, nicht als eine Methode, mit der selbständige interpretative Ergebnisse zur erzielen sind. Die Handlung einer Erzählung sei nicht einfach sequentiell, sondern sei nach der doppelten Zeitstruktur gestaltet. Aus dieser ergebe sich eine Spannung zwischen den jeweiligen eigenen Erwartungen und den Erfahrungen der Rezipienten der Ilias und den "Charakteren" in der Erzählung. Weil der Ilias ein konkreter historischer "Situationsbezugs" fehle, wird der Text als eine "Als ob"-Erzählung angesehen werden. In ihr werde die Refiguration der geschichtlichen Zeit durch die narrative Struktur repräsentiert.
Die beiden theoretischen Kapitel stellen die Grundlage für drei Kapitel dar, in denen das "Geschichtsbild der Helden", das "Geschichtsbild der Ilias" und die "Ilias in der Geschichte" als voneinander zu unterscheidende Formen von Kontingenzerfahrung und Sinnbildung vorgeführt werden. Hinzukommt noch ein knappes Kapitel "Vom Geschichtsbild in der Ilias zum Geschichtsbild der Ilias" und eine Zusammenfassung. Verschiedene Register (Stellen, Griechische Wörter, Personen, Sachen und Begriffe) und zwei Appendices (Exempla in der Ilias, kai in Il. 6, 200) schließen den Band ab.
Das Geschichtsbild der Helden bestehe in seiner Focussierung auf die Schicksalskontingenz, die der "lebensweltliche(n) Verankerung des griechischen Pessimismus" entspreche. Es erlaube keine Orientierung für das Handeln in der Gegenwart. Aus diesem Dilemma würden die Helden durch einen ansatzweisen Rückgriff auf traditionale und exemplarische Sinnbildung auszubrechen. Dieser Versuch, Schicksalkontigenz aufzuheben, stünde aber nicht nur grundsätzlich in Spannung zu deren Dominanz im Text, sondern könne auch deswegen nicht erfolgreich sein, weil in der Ilias der Entwicklungsgedanke fehle. Wegen der so fehlenden Möglichkeit der Orientierung werde der Wandel von den Helden besonders stark empfunden. Diese Schlussfolgerungen werden u. a. aus dem Blättergleichnis und aus dem Schicksal Achills abgeleitet. An Achill wird auch vorgeführt, dass die Helden ihre Vergänglichkeit und die Macht der Kontingenz nur überwinden können, wenn sie durch Ruhm zum Teil der epischen Tradition geworden sind. Nur solche die eigene Situation übertreffende und nicht kritisierbare Exempel können zur exemplarischen Sinnbildung und so zur Relativierung der Schicksalkontingenz beitragen. Ein anderes Mittel zum Zweck der Überwindung der Schicksalkontigenz seien die (wenigen) Ansätze zu traditionaler Sinnbildung in Gestalt der Genealogien.
Das Geschichtsbild der Ilias entspreche dem der Helden der Erzählung. Der Tod kommt zufällig ("Fehltreffer"), die Wechselhaftigkeit des Schicksals ist nicht beherrschbar. Eine Entwicklung von der Vergangenheit in die Gegenwart liege außerhalb des Blickfeldes. Die Vergangenheit sei zwar paradigmatisch, aber deswegen nicht qualitativ besser. Die früheren Mauern und die altertümlichen Gegenstände stellten nur eine punktuelle Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit dar, seien aber keine Archaisierung in dem Sinn, dass verschiedenen Zeiten wie im modernen Geschichtsverständnis Individualität zugeschrieben würde. Dieses Geschichtsbild der Ilias sei der narrativen Struktur "eingeschrieben" über die Kürze der Haupthandlung, den Zusammenhang von Götter- und Menschenhandlung, und vor allem das dichte Netz von Analepsen und Prolepsen.
Die heroische Erfahrung wird von Grethlein als Erfahrung von Schicksalskontingenz interpretiert. Durch die von Göttern oder Menschen getätigten Prolepsen entstehe eine Diskrepanz zwischen dem Wissen der Charaktere und der Rezipienten. Die Rezipienten könnten die Erwartungen der Charaktere als nichtig erkennen (z. B. Tod des Patroklos oder des Hektor, Begriff des nepios). Die Spannung werde durch den Bezug verschiedener Teile der Ilias zueinander gesteigert (z.B. Andromache im 6. und 22. Buch oder parallele Handlungsstränge in der Dolonie). Die Rezipienten mit ihrem Wissen über die Götterhandlung über die Tradition machten so wie die Helden die Erfahrung der Kontingenz. Solches Erfahren werde durch Analepsen bestätigt, in denen die Charaktere in der Einsicht, geirrt zu haben, über eigene Erwartungen reflektieren. Auch die Erwartungen der mit der Ilias vertrauten Rezipienten blieben in der Schwebe. G. argumentiert hier intensiv mit dem Ende der Ilias, das statt dem Fall Troias die Versöhnung von Achill und Priamos bringt und das die Rezipienten anders als die Akteure erfahren würden.
Zudem solle auch die Rezeption der Ilias zur Bewältigung von Kontingenz fungieren. Die Helden würden die Schicksalskontingenz durch Ruhm bewältigen, die Rezipienten gewännen einen Einblick in Kontingenz auf der Handlungsebene. Das erlaube ihnen die Bewältigung von Kontingenz durch die Einsicht, dass sowohl die Helden als auch die Götter (Zeus) der Schicksalskontingenz in der Form der Moira unterliegen. Auf diesem Weg vermittle die Ilias - als der Anfang der griechischen Literatur - narrative Kompetenz, mit der in späteren Erzählung im Modus der traditionalen und exemplarischen Sinnbildung Kontingenz tatsächlich aufgehoben werden konnte. So werde die Ilias in der Geschichte wirksam. Die Geschichtsbilder erwiesen sich geschichtlich, was sich auf Erfahrungen und Erwartungen in den Umbrüchen der archaischen Zeit mit ihren neuen Identifikationsprozessen ausgewirkt habe. In der Rezeption sei eine Orientierung für die griechischen Aristokraten durch die Schaffung von traditionaler (Rückführung bzw. die Berufung auf die Ilias) und exemplarischer Sinnbildung (Ilias als Speicher von Paradigmata)möglich geworden. In der Rezeption habe die Ilias zum Mittel werden können, Schicksalskontingenz aufzuheben.
All das wird mit umfangreichen Textzitaten und in lehrreichen und lesenswerten Analysen begründet. Die Spezifik des Buches liegt in seiner erklärten phänomenologischen Haltung. Ein Problem dieses Zugangs besteht darin, dass ein nicht historisch verorteter Text mittels narratologischer Analyse ein Verhältnis zur Geschichte abgerungen wird, das dann in den Kontext eines historisch eindeutigen Publikums ("griechische Aristokratie") eingebettet wird. Diese Unklarheit ist damit zu parallelisieren, dass in den Textanalysen nicht selten auf die mögliche innertextliche Kontextualisierung verzichtet wird (z.B. der Zusammenhang von nepios und Alter der "Charaktere") oder dass der Wandel der Charaktere als eine Möglichkeit, der Schicksalskontingenz zu begegnen, keine Rolle spielt. Hier scheint sich eine Schwäche des phänomenologischen Zugangs zu zeigen, der sich nicht nur gegenüber dem Zusammenhang von historischer Situation und Text als sperrig erweist, sondern auch gegenüber der Frage der Intention eines Textes, die sich nicht als "Lebenswelt" oder noch deutlicher: als "Wesen" fassen lässt.
Christoph Ulf