Christoph Boyer (Hg.): Zur Physiognomie sozialistischer Wirtschaftsreformen. Die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, die DDR und Jugoslawien im Vergleich (= Das Europa der Diktatur; Bd. 14), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2007, XLII + 324 S., ISBN 978-3-465-04026-2, EUR 69,00
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Uneingeweihten mag der Begriff "sozialistische Wirtschaftsreform" als ein Oxymoron erscheinen. Nach der klassischen marktwirtschaftlichen Theorie und nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sind sozialistische Planwirtschaften ökonomische Phänomene, die sich nur durch ihre Aufhebung in marktwirtschaftliche Systeme reformieren ließen.
Der von Christoph Boyer herausgegebene Sammelband rekonstruiert die Verläufe der planwirtschaftlichen Wirtschaftsreformen in den Staaten des RGW vom Beginn des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR bis zum Ende der planwirtschaftlichen Systeme um 1990 und versucht, sie durch den Vergleich ihrer ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen, ihrer Instrumente und ihrer Ergebnisse zu analysieren. Entgegen allen Erwartungen haben die systemimmanenten Reformen (und Reformversuche) der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaften eine längere Geschichte, die im Fall Polens bis zum Beginn der Entstalinisierung im Jahre 1956 zurückreicht. Im Fall der ČSSR, der DDR und Ungarns begann die graduelle Abkehr von der detaillierten Mengenplanung der Industrieproduktion ("Tonnenideologie") und die stärkere Gewichtung von Rentabilitätszielen ("ökonomische Hebel") um 1962 mit der Erschöpfung des extensiven industriellen Wachstumspfades, der sich in der ČSSR in einer schweren Wirtschaftskrise und in den übrigen ostmitteleuropäischen RGW-Staaten in abflachenden Wachstumsraten manifestierte.
Es ist das besondere Verdienst der guten, ja teilweise ausgezeichneten Beiträge von Wirtschaftshistorikern und Wirtschaftswissenschaftlern, dass sie an den Beispielen ihres Landes die innenpolitischen und ökonomischen Handlungsspielräume für systemimmanente Reformen herausgearbeitet und präzise analysiert haben. Bis auf den Beitrag von Jaroslav KuČera über die tschechoslowakische Wirtschaftsreform der 1960er-Jahre und den RGW konzentrieren sich die Beiträge jedoch auf die Binnenverhältnisse der RGW-Staaten und berücksichtigen die von der Sowjetunion gestatteten (bzw. wieder verengten) innenpolitischen Handlungsspielräume zu wenig. Die institutionellen Defizite des RGW für eine effektivere internationale Arbeitsteilung in der sozialistischen Staatengemeinschaft kommen dabei ebenso ein wenig zu kurz wie die Tatsache, dass die nationalen Reformspielräume auch durch die Kräftekonstellationen in der sowjetischen (Innen-)Politik bestimmt wurden. Während in der Ära Chruschtschow die nationalen Reformspielräume erweitert wurden, wurden sie in der wirtschaftspolitischen und kulturellen Restaurationsperiode unter Breschnew zunächst deutlich verringert.
Allen planwirtschaftlichen Reformen war gemeinsam, dass sie von einer technokratischen Elite von Wirtschaftsfunktionären eingeleitet wurden und ihre Grenzen im ungeteilten Machtanspruch des Parteiapparates finden mussten. Die in den 1960er-Jahren von westlichen Politikwissenschaftlern und Soziologen vertretene Konvergenztheorie von der systemischen Annäherung marktwirtschaftlicher und planwirtschaftlicher Systeme durch die Ablösung der traditionsorientierten Parteifunktionäre durch eine technokratische "neue" Elite traf nur für Polen und Ungarn zu, die in den 1970er-Jahren flexiblere Modelle einer volkswirtschaftlichen Rahmenplanung mit einer höheren Selbstständigkeit der Betriebe und einem größeren privaten Sektor in Handwerk und Dienstleistungssektor verwirklichten. Während das polnische Reformmodell an gravierenden Planungsmängeln, zu ehrgeizigen Zielen und einer Überforderung seiner ökonomischen Ressourcen scheiterte und Ende der 1970er-Jahre eine systemgefährdende Wirtschaftskrise erlebte, erwies sich das ungarische Reformmodell als so anpassungsfähig, dass es am Ende eines evolutionären Prozesses Anfang der 1990er-Jahre in eine dezentrale Marktwirtschaft überführt werden konnte.
Die Autoren analysieren die Reichweite und die Erfolgschancen der planwirtschaftlichen Reformprozesse im engen Zusammenhang mit den politischen Reformspielräumen, die im Fall der ČSSR durch die militärische Intervention der UdSSR abrupt beendet wurden, während die Parteielite der DDR eine funktionelle Differenzierung und eine Pluralisierung der Gesellschaft als Vorbedingungen für eine erfolgreiche Wirtschaftsreform erst gar nicht zuließ.
In seiner sehr systematischen Einleitung bündelt Christoph Boyer die Ergebnisse der Einzelstudien und fasst sie in verallgemeinerungsfähige Ergebnisse zu den Vorbedingungen und den systembedingten Grenzen einer (real-)sozialistischen Reformpolitik zusammen. Ihm und den übrigen Autoren gebührt der Verdienst, den intrasozialistischen Systemvergleich als Instrument für die Erforschung von wirtschaftlichen Reformspielräumen entdeckt und heuristisch fruchtbar gemacht zu haben.
Christopher Kopper