Torsten Fischer: Y-a-t-il une fatalité d'hérédité dans la pauvreté? Dans l'Europe moderne: les cas d'Aberdeen et de Lyon (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte; Bd. 187), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 236 S., ISBN 978-3-515-08885-5, EUR 60,00
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Torsten Fischer hat sich viel vorgenommen. In der vorliegenden Studie werden nicht nur zwei städtische Gesellschaften, das französische Lyon und das schottische Aberdeen, vergleichend untersucht, sondern zudem zwei Jahrhunderte abgedeckt. Sein Ziel ist es zu klären, inwieweit Armut über mehrere Generationen hinweg 'vererbt' wird. Fischer hat dabei offenkundig nicht eine biologische Heredität im Sinn, obwohl er dies nicht explizit klarstellt. Vielmehr geht es ihm um das Problem der sozialen Mobilität: Hatten Abkömmlinge armer Familien die Chance, sozial aufzusteigen, oder stieß sie die 'Fatalität' der Umstände immer wieder in die Armut zurück? Fischer will Letzteres beweisen: Während in besser situierten Familien die Verarmung eines einzelnen Mitglieds durchaus revidierbar gewesen sei und der Zustand der Bedürftigkeit spätestens in der nächsten Generation habe überwunden werden können, sei es Familien aus den unteren sozialen Schichten meist unmöglich gewesen, der Not dauerhaft zu entrinnen.
Das Buch ist die überarbeitete Fassung seiner an der Universität Kiel eingereichten Dissertation, mit der Fischer den Titel eines Doctor Communitatis Europeae erwarb. Dieser schließt ein Promotionsprogramm ab, das von den im Northern European Historical Research Network zusammengeschlossenen Universitäten getragen wird. Betreut wurde die Arbeit von Thomas Riis und Jean-Pierre Gutton, zwei namhaften Experten für die frühneuzeitliche Armutsgeschichte. Sie baut auf einer Mémoire de D.E.A. auf, die Fischer zuvor an der Universität Lyon erstellte, weshalb nun auch die Dissertation auf Französisch vorliegt. Der institutionelle Rahmen, in dem das Werk entstand, ist somit ebenso europäisch-transnational wie der Untersuchungsraum. Warum umfasst dieser ausgerechnet Lyon und Aberdeen? Die Wahl von zwei Städten, die sich in praktisch jeder Hinsicht gewaltig unterschieden, soll die Repräsentativität der Ergebnisse untermauern: Wenn trotz völlig abweichender Rahmenbedingungen in beiden Gesellschaften die Erblichkeit von Armut nachgewiesen werden könne, dann, so Fischer, spreche dies für ihre generelle Gültigkeit im Europa der Frühen Neuzeit.
Methodologisch beruft sich Fischer auf mikrohistorische Ansätze und insbesondere auf die Annales-Schule. Serielle Quellen wie Register von Armenfürsorgeempfängern, Notariatsakten und Kirchenbücher aus dem 17. und 18. Jahrhundert bildeten seine zentrale Materialgrundlage für die anvisierte generationenübergreifende Familienrekonstitution. Startpunkt waren dabei einige systematisch erfasste Unterstützungsregister, von denen ausgehend Fischer andere Quellengruppen gezielt auf zusätzliche Informationen zu bestimmten Personen und ihren Familien durchforstet hat. Für Lyon wählte er das Ausgangssample einerseits aus den alten Pensionären des Hôpital de la Charité, die für die 'gewöhnlichen' Armen stehen sollen, andererseits aus den diskret unterstützten 'verschämten Armen', welche die Verarmten aus höheren Schichten repräsentieren. In Aberdeen stammt das Ausgangssample zum einen aus den Empfängern von offener kommunaler Armenhilfe, zum anderen aus den von ihren Korporationen unterstützten Handwerkern, wobei Letztere wiederum für die Verarmten aus besseren Verhältnissen stehen.
Torsten Fischer hat eine beeindruckende Menge an Quellenmaterial verarbeitet. Aber dennoch wachsen bei der Lektüre die Zweifel, ob er die an sich selbst gestellten hohen Ansprüche wirklich einlösen kann. Das zentrale Ziel der Studie, der Nachweis einer familiären Vererbung von Armut, muss letztlich als nicht erreicht bezeichnet werden. Fischers Schlussfolgerungen sind zwar nicht falsch: Dass die frühneuzeitliche Gesellschaft keine Chancengleichheit bot und Menschen aus den unteren Schichten stets in Gefahr schwebten, in existentielle Not abzurutschen, es mithin einen schwer zu entkommenden 'Teufelskreis' der Armut gab, ist sicher eine zutreffende Feststellung. Aber die Art seiner Beweisführung ist doch mit etlichen Fragezeichen zu versehen.
Zunächst erregt die geringe Fallzahl gewisse Bedenken: Fischers Argumentation basiert im Lyoner Teil auf gerade mal fünf Familien von 'gewöhnlichen' und zwei von 'verschämten' Armen; in Aberdeen sind es drei respektive zwei. Gewiss sind bereits diese insgesamt zwölf Stammbäume eine beachtliche, mit großem Arbeitsaufwand verbundene Leistung. Aber für generalisierende Schlussfolgerungen bilden sie doch ein eher schwaches Fundament.
Grundsätzlichere Kritik provoziert Fischers Konzeptionalisierung von 'Armut', mit der die Plausibilität seiner Überlegungen zwangsläufig steht und fällt. In der Einleitung kündigt er zunächst an, mit einer absoluten Armutsschwelle arbeiten zu wollen, die an der Kaufkraft des Einkommens festgemacht ist (34). Davon ist in den zentralen Kapiteln nicht mehr die Rede. In der Lyoner Fallstudie fixiert Fischer stattdessen eine Vermögensschwelle, unter der absolute Armut beginne, und zwar bei 190 livres tournois, korrigiert um die Geldentwertung seit 1602 (63, 80). Aber auch an diese Definition hält er sich nicht. Vielmehr klassifiziert er diverse Personen in den Stammbäumen als arm, obwohl die punktuell verfügbaren Vermögensdaten - aus Eheverträgen, Testamenten oder Nachlassinventaren - diese Schwelle deutlich übersteigen. So beispielsweise das Ehepaar Broccard-Vernet (86), von dem bloß bekannt ist, dass die mittlerweile verwitwete Frau ihrem Sohn zur Hochzeit immerhin 300 - korrigiert 276 - livres übertrug; dennoch muss es als Beleg für die familiäre Weitergabe von Armut herhalten. Bei etlichen anderen Personen fehlen Vermögensdaten ganz, was Fischer aber nicht hindert, auf ein Leben in Not zu schließen, wie etwa im Fall des zweiten Sohnes des genannten Ehepaars.
Die Einstufung derjenigen Familienmitglieder, die im Alter in die Charité eintraten, als arm erscheint teils ebenfalls fragwürdig, denn an anderer Stelle weist Fischer selbst darauf hin, dass die Pensionäre keineswegs durchweg materiell bedürftig waren und auch andere Motive hinter dem Wunsch stehen konnten, seinen Lebensabend im Hospital zu verbringen. Fischer unterstellt sogar, dass Antragsteller mit einem gewissen Besitz, der nach ihrem Tod an die Charité fallen würde, bevorzugt aufgenommen worden seien. Es wirkt arg widersprüchlich, wenn er den Eintritt dann doch ohne weiteres als Beleg für die Unentrinnbarkeit der Armut deutet. Etwas weniger problematisch erscheint Fischers Vorgehensweise im Teil zu Aberdeen: Hier versucht er gar nicht erst, Vermögen zu ermitteln, sondern konzentriert sich auf die Suche nach Familienmitgliedern in den Registern der offenen Armenfürsorge. Die Annahme, dass die dort Figurierenden - vielfach Witwen - effektiv Not litten, ist plausibel.
Trotz der logischen Schwächen zumal des Lyoner Teils handelt es sich in mancher Hinsicht um eine interessante Studie, deren Lektüre durchaus lohnt. Zum einen bietet sie jenseits ihres Kernanliegens viele erhellende Einblicke in die Praktiken der frühneuzeitlichen Armenfürsorge und in die Lebensumstände der unteren sozialen Schichten. Und zum anderen schärft sie, gerade weil Fischers Vorgehen zu Widerspruch animiert, den Blick für methodische Fallstricke, die künftige Forschungen vermeiden sollten.
Beate Althammer