Christophe v. Werdt: Stadt und Gemeindebildung in Ruthenien. Okzidentalisierung der Ukraine und Weißrusslands im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte; Bd. 66), Wiesbaden: Harrassowitz 2006, 326 S., ISBN 978-3-447-05363-1, EUR 68,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die in sieben Kapitel gegliederte Arbeit des Schweizer Osteuropahistorikers Christophe v. Werdt besitzt als Herzstück eine Darstellung der Stadtgeschichte im Bereich entlang der Polnisch-Litauischen Ostgrenze, die das Buch zweifellos zu einem Standardwerk machen wird. Sowohl das die äußeren Einflüsse behandelnde Kapitel zu den Prozessen des Landesausbaus und der Urbanisierung (51-151) wie auch der den Fokus nach "innen" richtende Abschnitt zum städtischen Kommunalismus in Ruthenien (153-249) setzen einen neuen Standard in der Stadtgeschichtsforschung zum fraglichen Raum. Um diese beiden Kapitel herum gruppieren sich eine Einleitung (1-28), in welcher vor allem der territoriale und zeitliche Rahmen abgesteckt wird, ein Forschungsbericht (29-49), in dem neben der deutschen besonders die polnische und russische Stadtgeschichtsforschung kritisch beleuchtet wird, eine resümierende Schlussbetrachtung (251-258), eine Bibliographie sowie Personen-, Orts- und Sachregister.
Die Meriten beginnen mit der Definition des Themas in den Kategorien von Raum und Zeit, wobei das Produkt eine Kombination aus beiden darstellt: Der Raum, also die polnischen und litauischen Gebiete im Berührungsfeld mit Russland, konstituierte sich erst, als er den Charakter einer "lateinisch-orthodoxen Übergangszone" (10) annahm. Bistumsnetz, Kirchengemeinden und Landesverwaltung zusammen schufen theoretisch schon nach der polnisch-litauischen Union von 1385, praktisch aber doch erst seit den administrativen Maßnahmen von 1434 ff. einen eigenen Raum, den der Verfasser konsequenter Weise auch eigens benennen will: Ruthenien. Kosakenbewegung, Nordischer Krieg und andere für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der Rzeczpospolita abträgliche Ereignisse um die Mitte des 17. Jahrhunderts "beendeten" den Raum dann wieder - die lateinisch-orthodoxe Übergangszone ging zusammen mit ihren Städten unter (18). Als Zäsur sieht v. Werdt die polnisch-litauische Realunion 1569 mit ihren territorialen und rechtlichen Änderungen (145). Dass die Konfessionsgrenze dabei in den Rang einer "strukturellen Kulturgrenze" (3 ff.) erhoben wird, versteht sich damit fast von selbst; allenfalls erstaunt, warum als theoretisches Unterfutter für diese Thesenbildung Niklas Luhmann herhalten muss und nicht auf das in der Frühneuzeit bestens bekannte Diktum von der Religion als eines 'vinculum societatis' rekurriert wird. Auch Jürgen Osterhammels Begriff der "kulturellen Grenzen" wäre probat gewesen. Letztlich spielt für die vorliegende Untersuchung Religion oder Konfession ja nicht als Einheit im theologischen Sinne, sondern als Faktor kultureller Differenzierung im historisch-soziologischen Sinne eine Rolle.
Was die vom Verfasser angeführte "Terminologie der Übergangszone" (18 ff.) angeht, fällt bei allen Verdiensten, die er sich hier bei der Entwirrung gleichbedeutender und differenter Landes- und Volksbegriffe erwirbt, die Absenz der späteren österreichischen Diktion auf; Ruthenen gab es bekanntlich auch im Habsburgerreich, nur dort bedeutete das Wort nicht dasselbe wie im vorliegenden Buch. Gleichwohl: Die vom Verfasser vorgeschlagene Raumdefinition "Ruthenien" verdient es, eingebürgert zu werden - auch wenn die präzise Umschreibung schwierig ist. Denn anders als auf Seite 10 suggeriert, gehört dazu nicht das ganze östliche Litauen, sondern nur dasjenige, das als direkte Kontaktzone zwischen lateinischem und orthodoxem Europa gelten kann (vgl. 77). Auf der anderen Seite fragt man sich, ob zu dem solchermaßen identifizierten Raum nicht auch das alte (d.h. vor den rotreußischen Erwerbungen bestehende) Ostpolen dazugezählt werden müsste - zumindest im Falle Lublins (mit seiner Schlosskapelle im orthodoxen Stil) würde das sehr einleuchten.
Der Valenz des eigentlichen Untersuchungsteils tun diese Fragen keinen Abbruch. Der Verfasser widmet sich der Frage, wo die kommunal verfasste Stadt in Ruthenien entstanden ist und wie sie im Innern ausgesehen hat. Er geht dabei scheinbar den alten, seit dem frühen 20. Jahrhundert häufiger beschrittenen Weg der klassischen Verfassungsgeschichte (R.F. Kaindl, G. Schubart-Fikentscher), aber der Untersuchungsaufbau ist doch ein ganz anderer. Nicht nur wird erstmals das gesamte Spektrum der beteiligten Nationalhistoriographien mit einbezogen, die Forschung also schon im Methodischen "internationalisiert". Es geht v. Werdt darüber hinaus auch darum, den immer wieder begegnenden Vorstellungen eines von West nach Ost fortschreitenden "Abstiegs" in der Stadtentwicklung und -kultur generell ein anderes Modell gegenüberzustellen. Immer wieder ist die Forschung in der hermeneutischen Sackgasse stecken geblieben, das agrarische Aussehen vieler Städte, die Tatsache, dass es oft Privatstädte des Adels waren oder dass sie ihre Gründung nur mehr oder weniger militärischen Anforderungen verdankten, als eine Verkümmerung oder Zurückgebliebenheit - immer gemessen an einer "westlichen" Idealform! - zu interpretieren. Der Verfasser setzt neue Maßstäbe, indem er diese Kategorien aufgibt. Die Faktoren werden angemessen, d.h. in Relation zu Zeit und Raum, gewichtet - und dabei stellt sich heraus, dass Ruthenien sehr wohl an der von Gerhard Dilcher so genannten "städtischen Revolution Europas" partizipiert hat (251). Sichtbar wird eine eigenständige Entwicklung, die zwar weiterhin große Unterschiede zur "westlichen" Entwicklung aufweist, aber, wegen der grundsätzlichen Auflösung von Stadt und Land, ebenso auch zur russischen Stadtgeschichte. Das ist methodologisch ein immenser Fortschritt, der noch dadurch an Gewicht gewinnt, dass der Verfasser ein ausgezeichneter Kenner der Quellen und der Literatur ist. Auf sicherer Grundlage können so auch quantifizierende Aussagen etwa zur Urbanisierung Rotreußens gemacht werden (Grafiken 62-64) wie auch zu deren Charakter, der von Klein- und Kleinststädten geprägt war (67). Dieselbe Sorgfalt in der Bestandsaufnahme und der Strukturbestimmung liegt den Abschnitten zur Stadtgenese in Podlachien und Litauen zu Grunde; dass es Phasen "verdichteter Urbanisierung" im Großfürstentum Litauen gegeben hat und wo sie sich befanden, weist der Verfasser auch graphisch eindrucksvoll aus (103 f.). Selbst wo v. Werdt über lange Strecken bereits bekannte Forschung resümiert, ist der Gewinn nicht unbeträchtlich - hat doch vor allem die zur Sowjetzeit in Weißrussland (für Litauen) und der Ukraine (für Rotreußen) betriebene Geschichtsschreibung nicht selten ideologischen Ballast mitgeführt, den es erst abzuwerfen gilt (siehe z.B. die Kritik 106).
Im zweiten Hauptkapitel wird das, was im ersten als "Kulturdiffusion" von der Stadtwerdung und als "moderne Herrschaft" von der Stadtpolitik her bestimmt wurde (139), einer Analyse unter dem Paradigma des Kommunalismus unterzogen. Das erscheint auch insofern innovativ, als der Verfasser bereits im ersten Teil auf die unscharfen Grenzen zwischen Dorf und Stadt aufmerksam gemacht hat und als Erklärung dafür eine funktionale Komponente ins Spiel bringt: die geostrategische Bedeutung der polnisch-litauischen Ostgrenze, die dazu führte, dass sich dort eine "Grenzlandgesellschaft" (151) herausbildete. Wie sah sie aus? Der Verfasser konzentriert sich auch hier auf den rechtlichen Rahmen, d.h. er fragt nach den Souveränitätsmerkmalen als Konstituenten von Kommunen. Als Ergebnis entsteht eine streng normative Typologie, differenziert nach Burgstadt und Magdeburger Rechtsstadt, wobei viel mit Beispielen gearbeitet wird. Für die ruthenische Burgstadt steht Polack (163 ff., wobei freilich überrascht, dass die breite Diskussion des Problems bei Stefan Rohdewald, "Vom Polocker Venedig", Stuttgart 2005, 90-177, mit keinem Wort erwähnt wird), für die kommunalistische ruthenische Burgstadt die Eidgenossenschaft von Orša (191 ff.). Für die Stadt nach Magdeburger Recht werden in erster Linie Kiew, Polack, Lemberg und Bar herangezogen. Besondere Aufmerksamkeit verdient der Abschnitt, in welchem v. Werdt die Hindernisse für eine Lokation nach Magdeburger Recht behandelt (205 ff.) - bedeutete doch das kommunale Prinzip mit seiner - wie weit auch immer ausgeprägten - Selbstverwaltung eine beständige Herausforderung für das vom polnischen Adel hochgehaltene Prinzip der Goldenen Freiheit. Genauso bedeutsam ist die Betrachtung des Phänomens der "konfessionsethnischen Sondergemeinden" am Beispiel von Lemberg und Bar (216). Der große territoriale Rahmen der vorliegenden Untersuchung bildet damit die Grundlage für die Einordnung von Ergebnissen, wie sie aus Einzeldarstellungen oder Mikrohistorien vor allem der ukrainischen Forschung (Miron Kapraľ) momentan erwachsen.
Deutlich wird, dass die Veränderungen in der ruthenischen Stadt nicht viel schwächer ausgeprägt waren, als dies für die westlich gelegenen Länder mit Magdeburger Stadtrecht (Kernpolen, Schlesien) gilt - nur dass die weitere Entwicklung meist anders verlaufen und somit ein anderes Endprodukt zu beobachten ist. In der Fernperspektive erlauben es die vorgelegten Ergebnisse, die Ausdehnung Mitteleuropas in einem strukturgeschichtlichen Sinn zu präzisieren. Der Unterschied zur Entwicklung in Kleinpolen oder Schlesien, zwei bis drei Jahrhunderte früher, erscheint nach dieser Arbeit nicht mehr kategorial, sondern eher als Variante innerhalb desselben (mitteleuropäischen) Paradigmas. Dieses Ergebnis wird noch dadurch bekräftigt, dass der Verfasser den ruthenischen Städteraum nicht als Einheit sieht, sondern in sich differenziert. Heraus kommen drei Unterzonen, die sich nach dem Grad ihrer Kontakte zwischen lateinischem Westen und orthodoxem Osten gliedern lassen: erstens Podlachien, Rotreußen und Podolien, zweitens der Nordosten des Großfürstentums Litauen und drittens der Südosten Rutheniens, also die Ukraine. Es zeichnet die Darstellung aus, dass v. Werdt nicht krampfhaft die "Verwestlichung" im östlichen Ostmitteleuropa sucht, sondern die Parallelen zur russischen Geschichte immer mit im Auge behält. Ruthenien wird als "Brückenland" plausibel, und die künftige Diskussion könnte u.a. der Frage gewidmet sein, ob von einem einzigen Schub einer "Europäisierung Europas" auszugehen ist, wie der Verfasser andeutet (258), oder ob man nicht viel mehr zwei Phasen annehmen sollte - eine hochmittelalterliche vom 11.-13. Jahrhundert (in Böhmen, Polen und Ungarn) und eine spätmittelalterliche ab Mitte/Ende des 14. Jahrhunderts (in Rotreußen und Litauen).
Thomas Wünsch