Joachim Fischer / Michael Makropoulos (Hgg.): Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne, München: Wilhelm Fink 2004, 241 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7705-3708-2, EUR 29,90
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Dass die Modernität des Potsdamer Platzes ursprünglich gerade darin bestand, dass es sich hierbei im engeren Sinne gar nicht um einen Platz handelte, sondern um einen amorphen Verkehrsknotenpunkt, lässt die heutige spektakuläre Bebauung kaum mehr erahnen. Dennoch wird stets vom wieder auferstandenen "Mythos Potsdamer Platz" gesprochen, an dessen Gestaltwerdung der Hauptstadttourist schon mit dem ersten Spatenstich Anteil nehmen durfte. Von der roten Infobox aus ließ sich die "Arbeit am Mythos" sprichwörtlich nachvollziehen bis das steinerne Ergebnis jener vermeintlich "kritischen Rekonstruktion" nahezu vollständig mit dem durch die Zwanzigerjahre geprägten Bild einer in jeder Hinsicht dynamischen Metropole verschmolz.
In der vorliegenden Aufsatzsammlung wird nun der Versuch unternommen, jenes virtuelle Gesamtkunstwerk aus bildgewaltigen Vergangenheitsprojektionen und spektakulärer Architektur internationalen Zuschnitts wieder zu entwirren, um die sich dahinter verbergenden weniger mythischen Strategien, Ziele und Machtstrukturen heraus zu präparieren. Die hierzu in Anschlag gebrachten soziologischen Theorien erheben allerdings nicht den Anspruch, Schein und Sein des Platzes jeweils erschöpfend interpretieren zu können. Vielmehr versteht sich das Unternehmen als Versuchsanordnung, an deren Ende sich dem Leser sieben unterschiedliche Bilder des Potsdamer Platzes präsentiert haben werden. In der Analyse eines konkreten Ortes soll sich also die methodische Vielfalt einer Disziplin erweisen, die sich ebenso wie ihr Gegenstand der urbanen Kultur der Moderne verdankt.
Damit entspricht jene soziologische Leistungsschau dem zuletzt mehrfach artikulierten Bedürfnis nach einer erneuten Hinwendung der Soziologie zu Fragen der Architektur. [1] Nicht alle Beiträge des Bandes stellen jedoch in diesem Sinne ein gelungenes Plädoyer dar. Unklar bleibt etwa der spezifische Erkenntnisgewinn, den der systemtheoretische Ansatz Luhmanns in der Analyse räumlicher Phänomene zu leisten imstande ist, obwohl sich die Autoren Andreas Ziemann und Andreas Göbel redlich bemühen, den an sich unräumlichen Sinngrenzen sozialer Systeme Raum zu geben. Am Ende ihrer häufig mäandrierenden Ausführungen schlagen sie vor, die Bauten des Potsdamer Platzes als eine Art steinernen Text oder "physisch-mediales Substrat" des jeweiligen Systemgedächtnisses zu lesen (79). Die Frage nach dem komplexen Wirkungszusammenhang von Architektur und Betrachter muss hierbei unerwähnt bleiben.
Dies ist umso bedauerlicher, da die Architektur weit davon entfernt ist, nur Mittel zur autistischen Selbstbeschreibung sozialer Systeme zu sein. Darüber hinaus sucht die Architektur des Potsdamer Platzes nach einem Repräsentationsmodus, der die Differenz zwischen einzelnen Systemen sowie deren Binnenstruktur eher zu verdecken als offen zulegen sucht. Dies gelingt vor allem durch die kommunikative Bezugnahme auf den Mythos Potsdamer Platz, dessen integrative Kraft schon allein dadurch deutlich wird, dass alle beteiligten Systeme - Politik, Wirtschaft und bestimmte Teile des kulturellen Establishments - hierin ein Konzentrat aller positiven Eigenschaften Berlins wie Weltoffenheit, Demokratie, Kreativität und Dynamik sehen wollen. Die Projektion dieses Bildes auf eine an sich eigenschaftslose globale Architekturfläche soll den Betrachter an dieser Bilderwelt teilhaben lassen. Und zwar unabhängig von der systemspezifischen Codierung seines Blickes auf den Gegenstand. Erst vor diesem Hintergrund erklärt sich die eigenartige Indifferenz Ort und Zeit enthobener Modernität, mit der der Platz dem Betrachter begegnet.
Mit der philosophischen Anthropologie, die durch einen Beitrag des Mitherausgebers Joachim Fischer vertreten ist, ließe sich daher im zweifachen Sinne von Maskierung sprechen. Die Maskierung ersten Grades gründet gleichsam in der Natur des Menschen. Als exzentrisch positioniertes Wesen, dessen körperlicher Ausdruck im Gegensatz zum Tier nicht von instinktiver Notwendigkeit begleitet ist, muss der Mensch künstliche Grenzziehungen vornehmen, die ihn vor Kontingenz bewahren. Er bekleidet daher seinen nackten Körper und verleiht ihm damit sogleich denjenigen Ausdruck, der seinem Selbstverständnis am ehesten entspricht. Im gesellschaftlichen Kontext übernehmen diese Funktion die Institutionen, die gleichsam als Körper aus Körpern zu betrachten seien. Deren architektonische Bekleidung ist den "Masken und Kleidern der Menschen an ihrem Körper" (15) ähnlich. Die Stadt wird somit zu einem Ort der Maskierungen und künstlichen Grenzziehungen, die Fischer im Falle des Potsdamer Platzes als Überlebenskampf des Bürgertums interpretiert. Im Unterschied zum 19. Jahrhundert, vollziehe sich dieser jetzt aber mit Blick auf die Masse, womit die Maskierung zweiten Grades, das heißt die architektonische Überzeichnung der vormals penibel eingehaltenen Grenzziehungen, benannt wäre.
Bestätigt wird jene Diagnose durch Christine Reschs und Heinz Steinerts Beitrag aus der Perspektive der Kritischen Theorie, wenngleich der Ausgangspunkt ein ganz anderer ist. Demnach konfrontiert uns der Potsdamer Platz mit einem gewandelten Verständnis von Herrschaftsarchitektur. Sie versteht sich jetzt nicht mehr als monumentale und Respekt gebietende Machtdemonstration Einzelner, sondern als Unterhaltungsarchitektur, die den Anspruch auf Ewigkeit weitestgehend aufgegeben habe: "Man führt vor, dass man es sich leisten kann, jede Mode mitzumachen" (137). Der Erlebnischarakter jener ephemeren und konsumfreundlichen Tendenzarchitektur nehme den Besucher gleichsam in sich auf, überbrücke die ehemals eingehaltene Distanz und suggeriere so die selbst bestimmte Aneignung des öffentlichen Raumes, dessen Aufteilung und Inbesitznahme tatsächlich längst vollzogen ist. Damit der Platz dennoch als kollektives Gut betrachtet werden kann, wird stets die Widergeburt eines mythischen Ortes beschworen, dessen kommunikative Konstruktion, wie Resch und Steinert richtig feststellen, im Wesentlichen auf einer Verklärung der Weimarer Republik bei gleichzeitiger Ausklammerung der Nazi-Herrschaft beruht. Die 'Stunde Null' des Jahres 1989 ist demnach kein Neuanfang, sondern der Versuch, im Sinne einer sich dynamisch, modern und kreativ gebenden Wirtschaft, die vermeintlich goldene Zeit der Weimarer Republik zur kulturellen Identität der Stadt schlechthin zu erheben.
Ob diese Diagnose jedoch ein Indiz dafür ist, dass der Staat vollständig vor der Wirtschaft kapituliert hat, ist zumindest aus der Sicht der Rational-Choice-Theorie fraglich. Sie betrachtet den Potsdamer Platz vielmehr als eine räumliche Konfiguration von Reibungsverlusten. Senat und Investoren trafen die jeweils aus ihrer Sucht vernünftigste Entscheidung, um mit dem geringsten Aufwand den größten Nutzen zu erzielen. Die Stadt verfolgte das Ziel eines möglichst einprägsamen Kollektivsymbols, ohne dass sie hierfür allein die Mittel hätte aufbringen können, die Investoren hingegen waren an der werbeträchtigen Vereinnahmung des neuen Filetviertels interessiert und benötigten hierzu die öffentliche Legitimation. Beide Seiten profitierten demnach voneinander und mussten dennoch einen Preis zahlen, der die vollständige Durchsetzung der jeweiligen Vorstellungen verbot. Mit der weit reichenden Folge, dass sich der privatwirtschaftliche Raum im Gewand des öffentlichen Raumes präsentiert, die Stadt somit nur noch magisch-symbolhaft präsent ist.
Udo Göttlich und Rainer Winter sehen in dieser Camouflage 'eine neue Stufe der Konsumkultur' (104), die sie aus der Sicht der Cultural Studies wie sie in den Sechzigerjahren unter anderem von Stuart Hall begründet wurden, zu beleuchten suchen. Dabei handelt es sich nahezu um den einzigen Beitrag, der das wahrnehmende Subjekt und dessen Bewegungen in den schönen neuen Welten des Platzes mit einbezieht. Jenseits des Nachweises kunstvoll verschleierten Hegemonialstrebens gelingt so auch ein Psychogramm der neuen "Konsum-Subjektivität", die die Architektur als "Bühne für ein neues virtuelles Selbst" betrachtet, dass es mit den bekannten Stereotypen aus Film und Werbung zur Deckung zu bringen sucht (105). Die Künstlichkeit jener Identität korrespondiere gleichsam mit dem Wunsch des Menschen, eine Fantasiewelt zu erschaffen, eine zweite Natur, die seinen Wünschen vollkommen entspricht.
Wie Michael Makropoulos in seinem diskursanalytischen Beitrag ausführt, ist die Voraussetzung hierzu die Deontologisierung des Potsdamer Platzes. Er wird so zu einem transhistorischen Bild massenkultureller Urbanität, das mit der Verstetigung des modernen Menschenbildes als "Möglichkeitswesen" korrespondiert (186). Mit Barthes gesprochen, offenbare sich somit nicht mehr als die uralte Neigung des Menschen, durch Mystifizierung, die Geschichte durch Natur zu ersetzen. Derart betrachtet, scheint die Architektur des Potsdamer Platzes über jede soziale Frage und deren Thematisierung erhaben, was die Betrachtung ihrer diskursiven Unterkonstruktion als umso wichtiger erscheinen lässt. Denn erst, wenn die Eigenschaften einer nur oberflächlich eigenschaftslosen Architektur deutlich benannt werden, kann eine umfassende Analyse gelingen.
Wie der vorliegende Band zeigt, kann die Konsultation der Architektur- und Kunstgeschichte in diesem Zusammenhang durchaus hilfreich sein. Zumindest dann, wenn die angestellten kunsthistorischen Rückprojektionen einigermaßen überzeugend sein sollen und nicht nur dazu dienen, den Platz mit vorgefertigten Interpretationen zur Deckung zu bringen. Denn weder ist Renzo Pianos gläserner Turm am Entree des Viertels mit Ludwig Mies van der Rohes Hochhausentwurf an der Friedrichstraße zu vergleichen noch lassen sich irgendwelche Bezüge zwischen Marcel Duchamps "Großem Glas" und dem Dach des Sony-Forums plausibel herleiten. Letzteres schon gar nicht, um anschließend die äußerst wacklige "Architektur einer Geschlechterkonstruktion" zu behaupten, wie dies in Hannelore Bublitz' und Dirk Spreens Beitrag geschieht (139-159). Richtig ist indessen, dass der Platz die Soziologie "wie durch ein Vergrößerungsglas auf die Gesellschaft" blicken lässt (157). Was der Einzelne hierin zu erkennen vermag, hängt wie immer von der Bereitschaft ab, die Farbe des Glases auch mal zu wechseln. Zu dieser Erkenntnis liefern die soziologischen Theorien zu einem Ort der Moderne einen erhellenden Beitrag.
Anmerkung:
[1] Bernd Schäfers: Architektursoziologie. Grundlagen - Epochen - Themen, Opladen 2003.
Carsten Ruhl