Christine G. Krüger: "Sind wir denn nicht Brüder?". Deutsche Juden im nationalen Krieg 1870/71 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 31), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, 323 S., ISBN 978-3-506-75648-0, EUR 39,90
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Das Thema der mehrfach preisgekrönten Tübinger Dissertation von Christine G. Krüger sind die "Wechselbeziehungen zwischen Krieg, Nationalstaatsbildungen und Integrationserwartungen" (14), welche die Erfahrungswelt deutscher Juden 1870/71 prägten. Ihr Problem bestand darin, dass die Nation als Letztwert keine anderen Götter neben sich duldete, was die Verteidigung von Gruppenloyalitäten stark erschwerte. Gleichwohl stand es für die führenden Vertreter des deutschen Judentums außer Frage, dass man sich im werdenden Nationalstaat als Gemeinschaft behaupten müsse. Auf breiter Quellenbasis gelingt Christine G. Krüger der Nachweis "spezifisch jüdische[r] Diskussionen" (23), womit die ältere Sichtweise Eric Lindners und Jacob Tourys entscheidend modifiziert wird. Dabei wird nicht nur die identitätsstabilisierende Wirkung dieser Debatten deutlich, sondern auch der Erwartungsdruck, unter dem das deutsche Judentum als sorgfältig beobachtete Minderheit stand.
Der Faktenkranz ist rasch wiedergegeben. Etwa 14.000 Juden nahmen auf deutscher Seite am Krieg teil, 337 erhielten das Eiserne Kreuz oder andere Auszeichnungen. Antijüdische Einstellungen scheint es unter den Soldaten nur in geringem Umfang gegeben zu haben, doch sind sie als Wahrnehmungsmuster in der deutschen Öffentlichkeit fraglos vorhanden. In der quasi-offiziösen "Allgemeinen Zeitung des Judenthums" stellte man nachdrücklich die innere Einheit des deutschen Volks heraus, wobei allerdings antikatholische Untertöne unverkennbar sind. Einen besonderen Stolz empfand man angesichts der vier Feldrabbiner, für deren Entlohnung die jüdischen Gemeinden selbst aufkamen. Angesichts der "[m]ehr als dreihundert christliche[n] Feld- und Lazarettgeistliche[n]" (119) scheint ihre Zahl gering, doch allein schon die Tatsache, dass eine Betreuung jüdischer Soldaten gegen Vorbehalte erstritten wurde, sollte diesem Phänomen die Aufmerksamkeit des Historikers sichern.
Die meisten deutschen Juden standen der Reichseinigung positiv gegenüber. Programmatisch sprach die "Allgemeine Zeitung des Judenthums" am 31. Januar 1871 vom "'Blutkitt'" der die deutschen Stämme und "'die Bekenner aller Confessionen'" zusammenschließe (47). Wie wichtig man auch im orthodoxen Judentum die Kriegsereignisse nahm, erhellt die Tatsache, dass für die Nachricht von Napoleons Kapitulation der Gottesdienst unterbrochen wurde. Abweichende Stimmen waren selten, doch unter den führenden Intellektuellen gab es sie durchaus. So äußerte der Reformrabbiner Abraham Geiger, die Kriegsnachrichten hätten ihn kaum berührt, und der bekannte Historiker Heinrich Graetz hob hervor, dass sein Mitgefühl für die Deutschen im Krieg nicht größer geworden sei: "Der Hochmuth kommt zur Barbarei, die von der Cultur nur die Oberfläche hat, hinzu." Doch dies waren Äußerungen, wie sie gewöhnlich nur privat zirkulierten, wusste man doch um die Erwartungen, welche die Öffentlichkeit der jüdischen Bevölkerung entgegenbrachte. Nicht zuletzt galt dies für die religiöse Grundierung des Patriotismus. Ihr wurde eine zentrale ideologische Bedeutung zugewiesen, "da man im Gottvertrauen der Truppen gemeinhin eine Garantie für den militärischen Erfolg ausmachte" (127).
Obwohl Frankreich das Stammland der Judenemanzipation war, warf die Kriegslegitimation im deutschen Judentum keine größeren Schwierigkeiten auf. Gerade in der Diskussion mit den französischen Glaubensbrüdern wurde immer wieder betont, dass der deutsche Emanzipationsweg zwar langsamer, dafür aber umso sicherer sei. Harte Angriffe richtete man gegen Napoleon III., der die päpstliche Herrschaft in Rom stabilisiere, welche die jüdischen Rechte stark beschneide, und fühlte sich mehrheitlich im Einklang mit der Geschichte. Den Krieg sah man als "Gottesgericht über die französische Nation" (191), die für ihre Irreligiosität zu büßen habe. Und als französische Blätter über den massiven Exodus elsässischer und lothringischer Juden berichteten, hielt die "Allgemeine Zeitung des Judenthums" dies für maßlos übertrieben. Freilich heißt dies nicht, dass es den deutschen Juden gänzlich an Empathie oder Verständnis für das französische Judentum fehlte. Seinen Patriotismus empfand man als legitim und verwies zudem immer wieder auf den gemeinsamen Glauben. So stellte Julius Landsberg aus Berlin in seiner Neujahrspredigt die plakative Frage, "Sind wir denn nicht Brüder?", womit er seiner Kritik am gewaltbereiten Nationalismus in verhaltener Form Ausdruck verlieh. Im Titel des Buchs von Christine G. Krüger findet sie sich wieder, womit zugleich auf den problematischen Charakter der jüdischen Selbstbilder im Krieg angespielt wird. Die meisten deutschen Juden scheinen freilich mit der Uneindeutigkeit der Begriffsbestimmungen keine größeren Schwierigkeiten besessen zu haben und vertrauten für die endgültige Klärung der eigenen Rolle auf die Zukunft. Allerdings war der Fortschrittsglauben, den protestantische Geistliche mit größter Selbstverständlichkeit von der Kanzel verkündeten, innerjüdisch durchaus umstritten. Hier lag die Bruchlinie in den Kriegsdeutungen von Reformern und Orthodoxen, die der Verherrlichung der Geschichte mit großer Skepsis begegneten. Weitgehender Konsens bestand hingegen darin, dass der Friedensidee ein besonderer Wert in der Geschichte der Menschheit zukomme.
Die Ausführungen zum Kriegserlebnis deutscher Juden lassen in puncto inhaltlicher Präzision und analytischer Klarheit nichts zu wünschen übrig. Vor allem die sorgfältige Quellenkritik dürfte den Ergebnissen der Studie bleibende Bedeutung sichern. Weniger gesichert erscheint mir hingegen der im letzten Kapitel dargestellte "Kampf um das Kriegsgedenken". Christine G. Krüger verweist auf die Akzeptanz des Sedanstages im deutschen Judentum, der insbesondere beim 25-jährigen Jubiläum 1895 intensiv gefeiert worden sei. Sie betrachtet es als gewiss, dass der "nationale Krieg" von den deutschen Juden bald nach 1870/71 "als Zenit der Integration" (285) gefeiert wurde, und beschwört die "große[n] Integrationshoffnungen" (289) der deutschen Juden im August 1914. Wie erklärt sich vor diesem Hintergrund jedoch das jüdische Engagement für das Armeerabbinat in den ersten Kriegstagen, und insbesondere die vielfach vertretene Auffassung, die Erfahrungen des Deutsch-Französischen Kriegs dürften sich nicht wiederholen? Und warum existieren so viele Privatquellen, die Zweifel an der Tragfähigkeit des "Burgfriedens" äußern? Vermutlich ist die Erinnerungsgeschichte des deutschen Judentums von ähnlicher Komplexität und innerer Heterogenität wie seine Erfahrungsgeschichte, die Christine G. Krüger für den "nationalen Krieg 1870/71" mustergültig bearbeitet hat.
Ulrich Sieg