Bruno Reudenbach / Gia Toussaint (Hgg.): Reliquiare im Mittelalter (= Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte. Studien, Theorien, Quellen; Bd. 5), Berlin: Akademie Verlag 2005, IX + 221 S., ISBN 978-3-05-004134-6, EUR 39,80
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Als Bischof Anno die von ihm gegründete Kirche des heiligen Georg in Köln weihen wollte, wurde der feierliche Akt zunächst durch den Mangel entsprechender Reliquien verzögert. In einem Traumgesicht jedoch, wurde ihm vom Heiligen selbst eine Lösung für das Problem angeboten: So schien es dem Bischof "dass der Märtyrer mit freudigem Antlitz, leuchtenden Gewändern und von starkem Glanz umflossen aus der Kirche des heiligen Pantaleon herauskam. Er begab sich in die neue Kirche, die geweiht werden sollte, und betrat sie geraden Schrittes." [1]
Schon der knappe Ausschnitt dieser Heiligenvita vermittelt ein Bild von der zentralen Rolle, die den Reliquien als Stellvertreter der Heiligen in der mittelalterlichen Kultpraxis zukommt. Der vitale Umgang mit den irdischen Relikten der Heiligen lässt sich auch an der Vielfalt ihrer Präsentations- und Aufbewahrungsformen ablesen. Wie kaum ein anderer mittelalterlicher Funktionstyp überliefern Reliquiare eine Fülle verschiedener stilistischer und ikonografischer Merkmale, die in einer rein typologischen oder formanalytischen Entwicklungsgeschichte nicht angemessen zu erfassen ist. Nachdem Arnold Angenendt das mittelalterliche Reliquienwesen aus theologischer und frömmigkeitsgeschichtlicher Perspektive systematisch beschrieben hat [2], ist auch die Kunstgeschichte neue Wege in der Erforschung des Reliquiars gegangen. Ein erstes Zwischenergebnis präsentiert der vorliegende Band, der an zehn exemplarischen Fallstudien verschiedene Fassetten des Themas auffächert.
Zu den zentralen Problemen der mittelalterlichen Reliquienpräsentation gehört zweifellos das spezifische Verhältnis von Reliquie und Bild oder anders formuliert von Präsenz und Repräsentation des Heiligen. Auch wenn das Bildaufgebot des Reliquiars auf die im Innern geborgene Reliquie verweisen kann, ist das Verhältnis selten so eindeutig kongruent, wie man es lange Zeit für Körperteilreliquiare angenommen hat. So kann auch Susanne Wittekind am Beispiel verschiedener Kopfreliquiare zeigen, dass das Antlitz als künstlerisches Bild nicht nur das reale und ideale Bild des Heiligen evoziert, sondern darüber hinaus den Heiligen als Teil der himmlischen Gemeinschaft und in ihm Christus als Haupt der Ecclesia repräsentiert. Durch das zusätzliche Bildprogramm der Sockelarchitektur wird die auratische Wirkung relativiert und dem Betrachter ein Medium zur Reflexion über die verschiedenen Repräsentationsmodi des Heiligen angeboten. Insofern ist es nur konsequent, wenn die Autorin diese auf das 12. Jahrhundert beschränkte Gruppe von Kopfreliquiaren in die innerkirchliche Debatte zum klerikalen Bildgebrauch einordnet.
Einen Sonderfall der angesprochenen Verbindung von Bild und Reliquie untersucht Silke Tammen am Beispiel eines Christusreliquiars, bei dem die fehlenden Körperreliquien durch eine szenische Inszenierung einer Sekundärreliquie aufgehoben werden. Das Spinareliquiar, das ursprünglich ein Partikel der Dornenkrone präsentiert hatte, rückt mit der Darstellung des Schmerzensmannes die Reliquie in einen Bildkontext, der die Herkunft der Reliquie zugleich dokumentiert und beglaubigt. Diese neuartigen Reliquiarformen des 14. Jahrhunderts sind bisher gattungsgeschichtlich entweder als Abwertung der Reliquie, deren Bedeutung vom Bildwerk überlagert wird, oder aber als Zwischenstufe auf dem Weg zum autonomen Bild diskutiert worden. Völlig zu Recht insistiert Tammen jedoch auf die spezifischen Wahrnehmungsangebote dieses Reliquiartyps und beschreibt, wie die "devotionale Nahsicht" (200) auf die Reliquie und der Blick auf den Bildkörper des Schmerzensmannes sich gegenseitig überlagern. Die Bedeutung dieser Wahrnehmungsangebote, so formuliert die Autorin ein dringendes Forschungsdesiderat, wäre noch in die Geschichte der Bildandacht zu integrieren. Die unmittelbar damit zusammenhängende Frage nach der Sichtbarkeit der Reliquie stellt Gia Toussaint, indem sie im Vergleich mit der byzantinischen Kultpraxis das Spannungsverhältnis von Ver- und Enthüllen als eine typisch westliche Praxis beschreibt. Dagegen waren Sichtbarkeit und Berührbarkeit der Reliquien in Byzanz gängige Praxis: das Reliquiar diente dort vor allem als ein Aufbewahrungs- und Schutzbehältnis. Insofern ist die seit dem 13. Jahrhundert zunehmende Sichtbarkeit der Reliquie nicht allein auf die beginnende Schaufrömmigkeit zurückzuführen, vielmehr leitet Toussaint die neuen Reliquiartypen und damit einhergehenden Wahrnehmungsmuster auch aus den Reliquienimporten nach der Plünderung Konstantinopels ab.
Der spannungsvolle Kontrast zwischen der vergleichsweise glanzlosen Substanz der Gebeine und ihrer kostbaren Präsentation hat die theologische Diskussion stetig herausgefordert. So wandte sich Bernhard von Clairvaux im Rahmen seiner Bildkritik auch gegen den übermäßigen Materialprunk, denn "die Heiligen bedürfen keines Schmucks, weil ihre Heiligkeit jeden materiellen Wert ohnehin übersteige" (129). Brigitte Buettner beschreibt in ihrem Beitrag die wechselseitige Wertsteigerung von Gebein und Edelsteinen als semantischen Prozess, der auch wechselseitige Bedeutungszuschreibungen erzeugen kann. Hedwig Röckelein dagegen nähert sich dem Phänomen aus der Perspektive der Vitenproduktion, die sie parallel zu den goldenen Hüllen der Reliquien als rhetorischen Schmuck des Heiligen definiert, womit einerseits die Authentizität der Reliquien verbürgt, andererseits in der Lesung der Heilige vergegenwärtigt und darüber hinaus die kommunikative und soziale Funktion des Heiligen bestimmt wird. Unter dem programmatischen Titel 'Gold und Asche' untersucht schließlich Michele C. Ferrari mit den 'Flores epytaphii sanctorum' Thiofrieds von Echternach einen mittelalterlichen Reliquientraktat, der die Reliquie als Kommunikationsmedium zwischen Diesseits und Jenseits definiert und zugleich dem Reliquiar eine ähnliche, wenn auch abgeschwächte, mediale Funktion zuweist. Die Konsequenz dieser Gleichsetzung hebt Ferrari deutlich hervor: Den Materialkontrast von Gold und Asche relativiert Thiofried als einen akzidenziellen, nicht substanziellen Unterschied und zeigt damit, dass seine Wahrnehmung auf einer sinnlichen Erfahrung basiert, in der die "Objektivierung der Reliquie" (71) schon deutlich vor dem Einsetzen neuer Inszenierungsformen im Reliquienkult zu fassen ist.
Auch wenn die kunsthistorische Betrachtung oftmals das einzelne Reliquiar fokussiert, gehören Reliquien und Reliquiare in der Regel einem Sammlungskontext an und bilden somit Schatzensembles, die Cynthia Hahn in Anlehnung an sammlungstheoretische Überlegungen als Erzählungen liest. Am Beispiel der Domschätze von Grado und Monza zeigt die Autorin, wie die alten Stücke des Schatzes auf Gründungsfiktionen verweisen, sukzessive Stiftungen in einer prinzipiell offenen Erzählung die Geschichte der geistlichen Gemeinschaft nachzeichnen und besondere Stücke deren Bedeutung legitimieren. Dieser Prozess der Schatzbildung wäre noch um eine weitere Perspektive der Akkumulation von Wert zu ergänzen, denn neben der ideellen Bedeutung, die Hahn eindrücklich beschreibt, bilden mittelalterliche Schätze auch materielle und pekuniäre Wertsysteme ab.
Lisa Victoria Ciresi thematisiert ebenfalls den Zusammenhang verschiedener Reliquiare und erweitert am Beispiel der Aachener Reliquienschreine die Perspektive auf die politische Dimension des Reliquienkults. Die an diesen Schreinen präsente Sitzfigur Mariens sieht Ciresi in Analogie zur Ikonografie der Magieranbetung als Ziel der Prozessionswege, in denen der König während des Krönungszeremoniells eine Stiftung zu offerieren hatte, so wie es bereits von der Stifterfigur Ottos IV. im Kölner Dreikönigeschrein vorgebildet ist. Von der Frage einmal abgesehen, warum das Bildmotiv zuerst in Köln und erst danach in Aachen auftaucht, bleibt diese Interpretation auch deshalb problematisch, weil entsprechende Figurengruppen ebenso bei anderen Schreinen auftreten, etwa dem im Zusammenhang einer Krönungsthematik gänzlich unverdächtigen Elisabethschrein in Marburg. Dennoch ist dem Reliquienkult oftmals eine politische Funktion eingeschrieben, die auf die Legitimation herrschaftlicher Würde abzielen konnte, wie Horst Bredekamp und Frank Seehausen am Beispiel des Reliquiars des heiligen Isidor in León zeigen können.
Der schmale, gleichwohl ertragreiche Tagungsband führt weit über das traditionelle kunsthistorische Paradigma der ikonografischen oder stilgeschichtlichen Beschreibung hinaus. Bestehende Desiderate sind nicht als Schwäche des Bandes zu beschreiben, sondern müssen vielmehr der Komplexität des Themas zugerechnet werden. So bleiben etwa Aspekte der Mobilität von Reliquie und Gläubigen in Prozessionswesen und Wallfahrt, Fragen zum Ausstattungskontext oder der Umdeutung mittelalterlicher Reliquiare in der neuzeitlichen Sammlungsgeschichte vorerst noch unscharf. Dennoch bereichert Bruno Reudenbach in seinem Beitrag zu einem Reliquiar mit verschiedenen Gesteinspartikeln der loca sancta die Gattungsdefinition, jenseits ihrer Bindung an bestimmte Objektformen, um eine funktionale Dimension, in der erst ein Bild- und Zeichensystem die Wirkmacht der Reliquie steigern kann. Darauf wird man weiterhin aufbauen müssen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Mauritius Mittler OSB (Hrsg.): Vita Annonis Minor, Die jüngere Annovita, Siegburg 1975, (Siegburger Studien X), lib. 1, cap. XII, 2ff.
[2] Vgl. Arnold Angenendt: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994.
Viola Belghaus