Rüdiger Hohls / Iris Schröder / Hannes Siegrist (Hgg.): Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte. Festschrift für Hartmut Kaelble zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 490 S., ISBN 978-3-515-08691-2, EUR 56,00
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Dass Geschichten Europas oder Europäische Geschichten nur allzu oft kontextarme Chronologien des Europagedankens sind - zumeist unter expliziter Ausklammerung von Anti-Europa-Diskursen -, ist ein Allgemeinplatz. Dasselbe gilt in der Regel für einschlägig betitelte Quellensammlungen, deren Auswahlkriterium nicht selten ebenfalls Europa-Emphase ist. Von beiden Genres hebt sich die Festschrift für den Berliner Sozial- und Europahistoriker Hartmut Kaelble deutlich ab: Zum einen liegt ihr ein integrales Verständnis der "modernen europäischen Geschichte" zu Grunde, das Europäzität nicht an Europarhetorik festmacht, sondern sowohl auf den "Container" Europa wie auf die gleichnamige "Konstruktion" abhebt und mitunter Strukturen deutlich werden lässt. Zum anderen kombiniert der Band edierte Quellen mit Analyse in Form von historisch-kritischen Essays. Vor allem die große Zahl an Quellen, deren epochale und regionale Bandbreite sowie ihr breites Gattungsspektrum bewirken, dass dergestalt ein wenn nicht lückenloses, aber doch dechiffrierbares Mosaik entsteht. Der chronologische Bogen reicht dabei von einem schwedischen Kriegsmanifest des Dreißigjährigen Krieges bis zu Joschka Fischers "Humboldt-Rede", und neben Zahlen- und Textquellen finden sich auch solche visueller Art wie Briefmarken, Karten, Filmfotos, Reklame oder Karikaturen.
Die 66 Essays und ca. 100 Quellen sind in sieben Blöcken gebündelt, die mit "Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft", "Religion und Wertewandel", "Selbst- und Fremdbilder zwischen Nation und Europa", "Europa und die Welt", "Autokratie, Diktatur und Demokratie", "Krieg und Frieden" sowie "Organisation und Institutionalisierung Europas" überschrieben sind. Ein Ortsnamens- und ein Personenregister erschließen den Band, dem eine bibliografisch gut unterfütterte Einleitung der Herausgeber vorangestellt ist.
Da "Europa und die Europäer" - wiederum in wohltuendem Kontrast zu thematisch ähnlichen Sammelwerken - auch und gerade das östliche Europa in einem Dutzend Quellen und Essays behandelt, seien pars pro toto einige Beiträge aus diesem Bereich beleuchtet. Der Berliner Südosteuropahistoriker Holm Sundhaussen stellt der Lausanner Konvention über Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der neuen Türkei aus dem Jahr 1923 das Abkommen von Dayton über die Befriedung Bosniens und der Herzegowina von 1995 gegenüber und demonstriert so einen "Paradigmawechsel bei der Lösung ethnonationaler Konflikte". Denn in Lausanne wurde das Prinzip des ethnisch möglichst homogenen Nationalstaats zu Grunde gelegt, während in Dayton das Recht auf Rückkehr aller Flüchtlinge, Vertriebener und ethnisch Gesäuberter an ihre ursprünglichen Wohnorte - und zwar ungeachtet ihrer ethnoreligiösen Zuordnung - festgeschrieben wurde. Den Grund dafür, dass am Ende des 20. Jahrhunderts "Entmischung" nicht länger als Konfliktlösungsprinzip galt, sieht er dabei in dem Umstand begründet, dass die Regelung von Dayton unter dem massiven Druck der Staatengemeinschaft zu Stande kam, wohingegen in Lausanne zwei Konfliktparteien einen Kompromiss ohne externen Druck eingingen. Den Umfang des besagten Paradigmawechsels belegt überdies die Interventionsentscheidung samt Protektoratslösung im Falle des Kosovo-Konflikts 1999: Auch hier stand die - erfolgreiche - Rückführung einer großen Zahl von ethnisch Gesäuberten im Zentrum.
Die Berliner Orientalistin Ingeborg Baldauf hat einen Auszug aus dem Bericht des russländischen Tataren Fatix Kärimi über eine Mittel- und Westeuropareise im Jahre 1899 übersetzt und ediert. Europa, so ihre Quintessenz von Kärimis 1902 in St. Petersburg veröffentlichtem Reisebuch "Avrupa Säjaxatnamäse", ist "technologisch führend, es ist gebildet und bildungsbürgerlich, auffallend weiblich, moralisch beinahe einwandfrei und sehr grün" (270). "Wer nach Europa reist", so das Resümee des 1937 der Stalinschen Säuberung zum Opfer gefallenen europaphilen Muslims, "wird viel nachzudenken haben und sich manches Scheibchen abzuschneiden finden, und dass ihm um das Geld, das er dafür ausgeben muss, nicht Leid sein wird, steht gewiss fest" (276).
Eine Quelle ganz besonderer Art hat der Leipziger Gesellschaftshistoriker Hartmut Zwahr ediert, nämlich seine eigenen Aufzeichnungen aus den Tagen der ungarischen Revolution im Herbst 1956. Der zwanzigjährige Sorbe Zwahr, der damals an der Karl-Marx-Universität Leipzig Geschichte und Germanistik studierte, informierte sich nicht nur aus westlichen Medien über den Aufstand in Budapest und seine Niederschlagung durch sowjetische Truppen, sondern auf Grund seiner Sprachkenntnisse auch aus polnischen Tageszeitungen und Radiosendern sowie vor allem in Gesprächen mit sorbischen Mitstudenten. Seinen Notizen vom 30. Oktober zufolge rechnete er mit der Erosion sowjetischer Hegemonie über Ostmittel- und Südosteuropa sowie mit dem Zusammenbruch der DDR. Frappierend dabei ist, welche Rolle der deutsch-deutsche wie der deutsch-ungarische Fußball wohl nicht nur in der Perspektive des Leipziger Studenten als Gradmesser krisenhafter politischer Entwicklungen spielte.
Gleichfalls eine autobiografische Quelle präsentiert und interpretiert Michael Mitterauer, nämlich "A Zadruga in Bileća Rudine" aus der Feder des US-amerikanischen Osteuropahistorikers montenegrinischer Herkunft Wayne Vucinich (*1913). Hier beschreibt der später in Kalifornien Lehrende den als Zadruga bezeichneten und 29 Mitglieder umfassenden patrilinearen Mehrfamilienhaushalt in einem herzegowinischen Dorf, dem sein Onkel Rade vorstand und in dem er selbst als verwaistes Kind von 1918 bis 1925 lebte. "Onkel Rade war eine kluge Persönlichkeit. Er hatte zwei Jahre lang die Schule besucht und konnte lesen und schreiben. Er führte den Haushalt autokratisch und effizient. Er behielt streitende Frauen und Kinder im Auge und wahrte den häuslichen Frieden mit eiserner Faust" (89). Auch wie diese eiserne Faust genau aussah teilt Vucinich mit: "Weil eines seiner Beine amputiert war, konnte [Onkel Rade] die Kinder nicht verfolgen, um zu bestrafen, wenn sie ihn störten. Aber er hatte ein langes Gedächtnis und wartete ruhig, bis ein Kind sich in seine Reichweite begab, und schlug es dann mit seinem schweren Stock" (ebd.). 1925 lösten Rade und seine Brüder Ivan und Georg den von ihrem Großvater Todor um 1830 gegründeten, als agrarischen Mittelbetrieb fungierenden Mehrfamilienhaushalt mittels Teilung von Gebäuden und Geräten auf. "So kam es zum Ende unserer Zadruga. Nur wenige andere Zadrugas in Bileća Rudine überlebten eine Weile länger" (90).
Es ist die durch die Quellen vermittelte Multiperspektivität, die den Band zu einer spannenden und häufig überraschenden Lektüre macht. Umso hilfreicher für Forschung und vor allem Lehre ist es daher, dass sämtliche Beiträge des Bandes auf einem neuen Clio-online-Themenportal "Europäische Geschichte" (www.europa.clio-online.de) bereits jetzt zu finden sind bzw. demnächst zur Verfügung stehen werden. Auch ist geplant, die elektronische Quellensammlung durch Aufnahme weiterer Essay-Quellen-Kombinationen zu erweitern.
Stefan Troebst