Heinz Halm: Die Schiiten (= C.H. Beck Wissen; Bd. 2358), München: C.H.Beck 2005, 128 S., ISBN 978-3-406-50858-5, EUR 7,90
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Mit dem Band "Die Schiiten" hat der C. H. Beck Verlag seine Reihe "Wissen" im Bereich "Religion/Philosophie" um einen Themenkomplex bereichert, der dem aktuellen Informationsbedürfnis in breiten Gesellschaftskreisen entgegenkommt. Die Gesamtzahl der Schiiten in den islamischen Kernländern (nicht mitgerechnet ist die Diaspora) beträgt wohl mehr als 120 Millionen Menschen. Damit stellen die Schiiten ungefähr ein Zehntel der Muslime insgesamt. Der Verfasser Heinz Halm, Professor für islamische Geschichte an der Universität Tübingen, hat bereits mehrere Standardwerke zum Thema vorgelegt und gilt als einer der momentan besten Kenner der Schia weit über Deutschland hinaus. Der Band "Die Schiiten" ist in allgemein verständlicher Sprache der Zielsetzung der Reihe gemäß für das breite Publikum geschrieben. Zusätzliche Materialien wie drei Abbildungen im Text, eine Karte und zwei Übersichtstafeln im Vor- und Nachspann (der Stammbaum der Imâme sowie der geschätzte Anteil der so genannten Zwölfer-Schiiten an der Bevölkerung islamischer Länder) erleichtern den Zugang gerade auch für den interessierten Laien.
In der Einleitung präzisiert der Autor ausgehend von aktuellen politischen Ereignissen sowie von der 1979 Iran umwälzenden schiitischen Revolution seine Fragestellung und reduziert sein Vorhaben auf die Religion der die große Mehrheit der Schiiten bildenden Zwölfer-Schiiten. Dies ist etwas bedauerlich, waren doch beispielsweise die Ismailiten (die Siebener-Schiiten) historisch zeitweise von großer Bedeutung. Bis heute spielen sie mit dem Agha Khan an ihrer Spitze eine herausragende Rolle in der islamischen Kultur- und Wissenschaftsförderung. Die Entwicklungshilfeprojekte der Ismailiten genießen einen vorbildlichen Ruf, und innerhalb der islamischen Welt gelten sie als eine der dialogfähigsten und offensten Gruppen. Auch andere kleinere schiitische Gruppen wie die indischen Bohras oder die jemenitischen Zaiditen finden keine Berücksichtigung, ebenso wenig wie die das gesellschaftliche und politische Leben in Syrien und im Libanon mitbestimmenden Nusairî-Alawiten oder die Drusen. Der vom Verlag vorgegebene knappe Umfang des Bandes (128 Seiten) dürfte der Grund für diese Konzentration auf das Wesentliche sein.
Die Darstellung gliedert sich in fünf große Bereiche. Die historisch-religiöse Einführung zu den zwölf Imâmen erläutert die Entwicklung der Schia, die sich als "Partei (= Schia)" des Prophetenschwiegersohns ‛Alî ibn Abî Tâlib bei den Kämpfen um die Nachfolge des Propheten Muhammad herausbildete. Als fundamental für die religiösen Vorstellungen der Zwölfer-Schiiten ist die sogenannte Entrückung des zwölften und letzten Imâms herauszustellen, der verborgen irgendwo auf der Erde lebt und jederzeit in der Erlösergestalt des Mahdî triumphal wiederkehren kann. Uneinigkeiten über die Zählung der Imâme, der religiös-politischen Führer der Schiiten, führten zu Abspaltungen der oben genannten schiitischen Gruppen.
Es folgt die durch Augenzeugenberichte von europäischen Reisenden der Frühen Neuzeit veranschaulichte Beschreibung von Geißlerprozessionen und Passionsspielen (die Muharram- oder ‛Âschûrâ-Riten), die sich als Folge der Schlacht von Kerbelâ entwickelt hatten, bei der der dritte Imâm und Prophetenenkel al-Husain mit all seinen Gefährten zu Tode gekommen war. Die Religiosität der Schiiten ist essentiell durch Leiden und Märtyrertum gekennzeichnet, so dass ihre Glaubensvorstellungen nur durch ein Verständnis dieser an westliche Geißlerpraktiken erinnernden Riten vermittelt werden können, wie der Autor schon in der Einleitung betont.
Nach diesen Ausführungen zu den Ausprägungen schiitischer Frömmigkeit widmet sich der Autor der politisch-religiösen Organisation der Schiiten. Standen die Schiiten zunächst quasi per definitionem in Erwartung des verborgenen Imâms in der Opposition zum abbasidischen Kalifat, so übernahmen sie seit dem 10. Jahrhundert zunehmend politische Rollen, was in schiitischen Kreisen kontrovers diskutiert wurde. Im 10. und 11. Jahrhundert entstanden auch die grundlegenden Werke schiitischer Rechtslehre. Seit dem 14. Jahrhundert sollte schiitische Rechtsfindung aufgrund rationaler Erwägungen erfolgen, aufgrund des Prinzips des idschtihâd ("das Sichabmühen"). Nachdem im Iran der Safaviden die Schia zur Staatsreligion ausgerufen wurde, entwickelte sich seit dem 16. Jahrhundert in Iran ein wahrhaft schiitischer "Klerus" (die Mollâs), dessen Wurzeln aber in die Mongolenzeit zurückreichen. Nach dem Ende der Safavidenzeit kam es zunehmend zu einem Spannungsverhältnis zwischen Monarchie und Klerus, was Phasen von zeitweise enger Zusammenarbeit nicht ausschloss. Im 19. Jahrhundert setzte sich endgültig das Prinzip des idschtihâd in der Rechtsfindung durch. Die Mudschtahids (abgeleitet von der gleichen Wurzel wie idschtihâd) sind qualifizierte Gelehrte, die während der Abwesenheit des verborgenen Imâms seine Aufgaben stellvertretend übernehmen. Ein besonders anerkannter Mudschtahid wurde zur "Instanz der Nachahmung" (Mardscha‛ at-taqlîd), was aber nie dazu führte, die betreffende Autorität in den Rang der Unfehlbarkeit zu erheben. Nach der Revolution in Iran galten neben dem Revolutionsführer Chomeinî acht weitere Gelehrte als "Instanzen", heute sind es wieder weniger.
Ein eigenes Kapitel ist der revolutionären Schia der Moderne gewidmet. Der Autor erläutert das Aufkommen schiitischer Revolutionsideologien und geht ausführlich auf Person und Rolle des Âyatollâh Chomeinî ein. Am Beispiel der unter bestimmten Umständen erlaubten Geburtenkontrolle wird das Prinzip des idschtihâd in der Islamischen Republik Iran erläutert.
Skizzenhaft geht der Autor anschließend auf Schiiten außerhalb Irans ein, mit Ausführungen zu Aserbeidschan, zum Libanon, zu Indien, zu Pakistan und zum Irak, dem Ursprungsland der Schia. Anstelle eines Resümees wird dem Leser ein Ausblick zum politischen Potential der Schia in den Krisengebieten des Nahen Ostens geboten.
Entsprechend den Vorgaben für die Reihe wurde in dem Band nur eine vereinfachte Umschrift verwendet, die in "Hinweise zur Aussprache" erläutert wird. Anmerkungen sind nicht vorgesehen, die mit Anführungszeichen gekennzeichneten Zitate aus der Forschungsliteratur sind jedoch gut zuzuordnen. Auf knappe aber fundierte "Literaturhinweise" (alphabetisch nach dem Autor, nicht thematisch auf die großen Darstellungsbereiche hin geordnet) folgt ein ausführliches Personenregister.
So gelungen die gedrängte Darstellung der historischen Tiefe und Bedeutung der Schia für die islamische Kultur ist, die eigentliche Leistung des Bändchens liegt im Brückenschlag zwischen der traditionellen religiösen Rolle der Zwölfer-Schia und ihrer seit dem 20. Jahrhundert stetig zunehmenden politischen Funktion, die schließlich 1979 in der Revolution in Iran gipfelte. Anschaulich verdeutlicht der Autor, wie das jahrhundertelang geduldig geübte eschatologische Warten auf die Wiederkehr des Mahdî, des Verborgenen Imâms, schließlich durch revolutionäre Taten ersetzt wurde. Mit Rückgriff auf schiitische Traditionen wird heute sozialer und politischer Protest nicht nur von der Geistlichkeit, sondern auch von weniger gebildeten Muslimen in Stadt und Land als eigenes islamisches Gedankengut verstanden und im Alltag nicht zuletzt gegen ein weit verbreitetes Gefühl von westlicher Dominanz artikuliert. Der Band vermittelt bei aller Knappheit ein tief greifendes Verständnis der Schiiten gestern wie heute.
Anmerkung der Redaktion:
Für eine komplette Darstellung der arabischen Umschrift empfiehlt es sich, unter folgendem Link die Schriftart 'Basker Trans' herunterzuladen: http://www.orientalische-kunstgeschichte.de/orientkugesch/artikel/2004/
reichmuth-trans/reichmuth-tastatur-trans-installation.php
Raphaela Veit