N. Piers Ludlow: The European Community and the Crisis of the 1960s. Negotiating the Gaullist Challenge, London / New York: Routledge 2006, xiv + 269 S., ISBN 978-0-415-37594-8, GBP 65,00
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Es ist schon viel geschrieben worden über Charles De Gaulle, insbesondere die französische Literatur über den General und seine Bedeutung zumal für Frankreich ist kaum noch zu überschauen. Auch über die Europapolitik De Gaulles ist schon manches bekannt, gleiches gilt für die Fouchet-Pläne und auch für die von De Gaulle ausgelöste Krise des "Leeren Stuhls", die in der Mitte der Sechzigerjahre die EWG beschäftigte. Hierzu dominiert die Ansicht, dass es vor allem die Opposition gegen das Mehrheitsprinzip bei Entscheidungen des Rates war, das den französischen Staatspräsidenten dazu verleitete, die EWG zeitweise zu blockieren. Dies hätte die Position der Kommission gestärkt, die Krise des "Leeren Stuhls" wurde daher auch als persönliche Konfrontation zwischen De Gaulle und dem föderalistisch orientierten Kommissionspräsidenten Hallstein interpretiert. Insgesamt wird die Krise auf die national orientierte Außenpolitik De Gaulles zurückgeführt (z. B. Maurice Vaïsse), auch wenn schon darauf verwiesen wurde, dass der französische Staatspräsident vor allem gegenüber der Bundesrepublik Deutschland sehr weit reichende Integrationsvorschläge machte, die aber in Bonn keine Unterstützung fanden (Wilfried Loth).
Das Buch des Londoner Historikers N. Piers Ludlow nimmt nun nicht nur die Person De Gaulle in den Blickpunkt, sondern schildert die EWG- Krise des Jahres 1965 aus der Perspektive der wichtigsten diplomatischen Akteure. Dabei holt er weit aus, die Darstellung beginnt mit dem Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien durch die französische Regierung im Januar 1963 und endet mit dem Haager Gipfel vom Dezember 1969. Auf breiter Quellenbasis kann er zeigen, dass De Gaulle die Krise der EWG auslöste und auf die Spitze trieb, dass es aber zu einfach ist, die Verantwortung allein an der an nationalen Interessen orientierten französischen Politik zu suchen. Die Krise des "Leeren Stuhls", so lautet die zentrale These, war eine allgemeine Krise der EWG und der europäischen Politik in der Mitte der Sechzigerjahre. Die institutionelle Krise habe aber verdeckt, dass die EWG in den Sechzigerjahren erheblich Fortschritte gemacht und daher keineswegs in der Weise stagniert habe, wie dies oft dargestellt wird.
Die plötzliche Beendigung der Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien durch De Gaulle im Januar 1963 überraschte die verantwortlichen Politiker in den Hauptstädten der EWG-Mitgliedstaaten. Es war die deutsche Bundesregierung, die nun die Initiative ergriff, indem sie auf die Fortsetzung des in den Römischen Verträgen verankerten und auch schon begonnenen Prozesses beharrte. Die britische Frage wurde nun offiziell nicht mehr berührt, hinter den Kulissen jedoch gab es zahlreiche Kontakte zwischen britischen Offiziellen und jenen der fünf Mitgliedstaaten, die den britischen Beitritt wünschten. Trotz der allgemeinen Krisenstimmung gingen die Arbeiten am Gemeinschaftsprojekt weiter. In der Tat konnten wesentliche Fortschritte im Sinne des Vertrags erzielt werden. Die Fusion der EWG mit den anderen supranationalen Gemeinschaften, vor allem aber auch die wesentlichen und umstrittenen Fragen der gemeinsamen Agrarpolitik wurden, wie Ludlow betont, durch eine hohe Kompromiss- und Verhandlungsbereitschaft gelöst.
Gleichwohl zeigten sich seit Beginn der Sechzigerjahre deutlich Krisensymptome in der Gemeinschaft. Diese Krise, so Ludlow, manifestierte sich in dreifacher Weise: Zum einen wandelte sich der Verhandlungsstil innerhalb der Gemeinschaft. War dieser in den Fünfzigerjahren allen nationalen Gegensätzen zum Trotz noch kompromissbereit und kooperativ gewesen, so dominierten nun harte nationale Interessen die Verhandlungsstrategie. Das zeigte sich nicht nur bei der französischen Delegation, sondern auch bei den Niederländern und Deutschen. Ludlow führt dies auf die Entspannungsphase im Kalten Krieg zurück, die dazu führte, dass die europäische Einigung als Reaktion auf die sowjetische Bedrohung an Bedeutung zu verlieren schien. Auch der nun eingeleitete Generationswandel der politischen Elite in den westeuropäischen Staaten mag hierzu beigetragen haben. Zum Zweiten diagnostiziert Ludlow einen Bedeutungsverlust der EWG-Kommission. Diese habe sich insbesondere bei technischen Fragen und Kompromissen sehr kompetent gezeigt, habe aber angesichts der politischen Krise die Initiative an die Nationalstaaten, insbesondere den Rat und COREPER abgeben müssen. Aus dieser Perspektive war die Entstehung des Europäischen Rates als neuer Gemeinschaftsinstitution in den 1970er- und 1980er-Jahren eine Konsequenz der Krise zwischen 1963 und 1969. Eine weitere wichtige Folge der Krise der Gemeinschaft war die neue Rolle der Bundesrepublik Deutschland, die durch die Gaullistische Selbstisolation innerhalb der EWG in eine Führungsrolle hineingeriet. Parallel zum beachtlichen ökonomischen Erfolg des westdeutschen Staates erfolgte daher ein - wenn auch zurückhaltender - politischer Aufstieg in der EWG. Trotzdem drängte sich die Bonner Regierung nie in diese Rolle hinein, die Verantwortlichen in Bonn waren klug genug, sich nie offen um die Führungsrolle in der EWG zu bemühen.
Die Krise des "Leeren Stuhls" war in der Interpretation Ludlows gewissermaßen der Kristallisationspunkt dieser drei strukturellen Entwicklungen innerhalb der Gemeinschaft. Dabei stellte kein Mitgliedstaat jemals die Mitgliedschaft in der EWG grundsätzlich in Frage. Selbst in Paris war man sich des Nutzens der Gemeinschaft nicht nur für den Agrarsektor sehr wohl bewusst. Ludlow vermag daher auch zu zeigen, dass die französische Regierung unterhalb der hohen politischen Ebene in den Gemeinschaftsgremien weiter kooperierte. Zudem habe die Gemeinschaft sich trotz der Krise insgesamt bewährt: Es sei gelungen, die äußerst komplexe Gemeinsame Agrarpolitik zu etablieren, die Gemeinschaftsgremien hätten sich in jener Struktur herausgebildet, die im Kern bis heute bestehe, und nicht zuletzt sei auch die Erweiterungsfrage Ende 1969 gelöst worden.
Piers Ludlow hat ein sehr anregendes Buch vorgelegt, das mit Sicherheit Ansätze für weitere Forschungen zur europäischen Integrationspolitik der Sechzigerjahre geben wird. Es ist die erste vollständig aus den Archiven der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft erarbeitete Gesamtdarstellung der Gaullistischen Ära, auch wenn der als innovativ angepriesene methodische Ansatz der "supranational history" nicht so neu ist, wie der Autor meint. Es ist eine Stärke des Buches, dass der Autor die Gemeinschaftspolitik als Resultat eines komplizierten Netzwerkes von Akteuren erklärt. Globale Theorien zur Funktionsweise der supranationalen Wirtschaftsgemeinschaft werden gemieden, stattdessen stehen ganz in der klassischen geschichtswissenschaftlichen Tradition das Einzelereignis und die dieses bestimmenden Faktoren im Mittelpunkt. Die Funktionsweise eines supranationalen Mehrebenensystems wird hier detailliert beschrieben. Ludlow liefert damit eine neue, quer zur bisherigen Forschung stehende Interpretation. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass er rein politikgeschichtlich argumentiert. Ökonomische Strukturen oder gesellschaftliche Entwicklungen spielen so gut wie keine Rolle in seiner Darstellung. Europäische Integrationspolitik wird nahezu ausschließlich aus den Interessen der Regierungen erklärt. Welche Rolle spielten ökonomische und gesellschaftliche Strukturen innerhalb der EWG zwischen 1963 und 1969 und in welchem Verhältnis standen diese zu den politischen Entscheidungen der Regierungen? Dies dürften ausgehend von Ludlows Synthese weiter führende Fragestellungen für die europäische Integrationsforschung sein.
Guido Thiemeyer