Rezension über:

Margrit Seckelmann: Industrialisierung, Internationalisierung und Patentrecht im Deutschen Reich, 1871-1914 (= Recht in der Industriellen Revolution; Bd. 2), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2006, XII + 528 S., ISBN 978-3-465-03488-9, EUR 89,00
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Rezension von:
Jochen Streb
Universität Hohenheim
Redaktionelle Betreuung:
Michael C. Schneider
Empfohlene Zitierweise:
Jochen Streb: Rezension von: Margrit Seckelmann: Industrialisierung, Internationalisierung und Patentrecht im Deutschen Reich, 1871-1914, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 5 [15.05.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/05/10944.html


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Margrit Seckelmann: Industrialisierung, Internationalisierung und Patentrecht im Deutschen Reich, 1871-1914

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Deutschland verdankt seinen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgten Aufstieg zu einer der führenden Industrienationen insbesondere der überdurchschnittlichen Innovationsfähigkeit seiner Unternehmen, die ihren sichtbarsten Ausdruck in den Weltmarkterfolgen der neuen und technologisch anspruchsvollen Industrien Chemie, Elektrotechnik und auch Maschinenbau fand. In der vorliegenden Dissertation widmet sich Margrit Seckelmann insbesondere der Frage, ob das im Jahr 1877 eingeführte Patentgesetz des Deutschen Kaiserreichs als maßgeblicher "Reaktionsbeschleuniger" dieses beeindruckenden Wachstums der innovativen und damit auch ökonomischen Leistungsfähigkeit der deutschen Unternehmen interpretiert werden muss. Hierzu untergliedert sie ihre Arbeit in fünf Hauptkapitel.

In Kapitel 1 untersucht die Verfasserin anhand eines internationalen Vergleichs der Länder Frankreich, Großbritannien und USA sowie der deutschen Staaten Bayern, Preußen und Württemberg die langfristige Entwicklung des Patentschutzes von einem willkürlich gewährten Privileg zu einem verbrieften Rechtsanspruch des Innovators. In Kapitel 2 werden die Auseinandersetzungen zwischen deutschen Patentgegnern und Patentbefürwortern im Vorfeld der Einführung des deutschen Patentgesetzes von 1877 ausführlich nachgezeichnet. Seckelmann gelingt es, überzeugend darzulegen, dass die Entscheidung für ein nationales Patentgesetz entscheidend durch den Zwang zur Anpassung an die international üblichen Institutionen beeinflusst wurde.

Im wirtschaftshistorisch bedeutsamen Kapitel 3 werden die Steuerungserfolge und Steuerungsdefizite des neuen deutschen Patentgesetzes analysiert. Die Autorin vertritt unter anderem die These, dass durch die Regelung, eine jährlich anwachsende Patentgebühr zu erheben, der Konzentrationsprozess in der deutschen Wirtschaft gefördert worden sei, da nur Großunternehmen über den finanziellen Spielraum verfügt hätten, den Zeitraum zwischen der Erteilung eines Patents und dem Anfallen der ersten Innovationsgewinne zu überbrücken. Nach Ansicht des Rezensenten ist dieser Zusammenhang zwischen Patentgebühr und Marktstruktur nicht hinreichend belegt. Insbesondere wäre zu untersuchen, ob es nicht vielmehr die erst nach einer Erfindung anfallenden zusätzlichen Kosten der Entwicklung eines marktfähigen Produkts und der absatzpolitischen Erschließung eines neuen Marktes waren, die das Finanzierungsvermögen kleiner Unternehmen und privater Erfinder oftmals überschritten.

In Kapitel 4 widmet sich die Verfasserin den Ursachen des Ausbaus des Kaiserlichen Reichspatentamtes von einer "Honoratiorenbehörde" zu einem mit hauptamtlichen Juristen und Technikern besetzten Verwaltungsapparat. Überdies wird in diesem Kapitel die Entstehung des neuen Berufsstandes des Patentanwalts erläutert. In Kapitel 5 wendet sich Seckelmann abschließend den Auseinandersetzungen um die Schutzrechte des eigentlichen Erfinders zu. Das deutsche Patentgesetz verwendete das Anmelderprinzip, nach dem das Patent nicht dem eigentlichen Erfinder, sondern dem ersten Anmelder gewährt wurde. Besondere Probleme ergaben sich hierbei für angestellte Erfinder, die ihre Entdeckungen im Rahmen ihrer Tätigkeit in industriellen Forschungslaboratorien machten. Die zur Stärkung der Erfinderrechte angedachte Patentrechtsreform wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gestoppt und erfolgte schließlich erst im 'Dritten Reich'.

Die Verfasserin der vorliegenden Arbeit ist Rechtshistorikerin. Es überrascht daher nicht, dass Seckelmann den Leser immer dann zu überzeugen weiß, wenn sie sich im Detail mit juristischen Kontroversen und Regelungen beschäftigt. Dies gilt insbesondere für die beiden Kapitel 4 und 5. Ihre eher wirtschaftshistorische Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Patentschutz und Industrialisierung bringt hingegen wenig Neues und bleibt manchmal gar hinter dem aktuellen Forschungsstand zurück. Dies sei abschließend an einer ihrer zentralen Schlussfolgerungen erläutert.

In ihrer Zusammenfassung (403 f.) erklärt Seckelmann, dass ihre Arbeit die vermutete Kausalität zwischen rechtlicher sowie technischer und wirtschaftlicher Entwicklung belegt. Demnach wäre das Patentgesetz von 1877 tatsächlich ein Reaktionsbeschleuniger der Industriellen Revolution im Deutschen Kaiserreich gewesen. Hierzu ist anzumerken, dass die von der Autorin angeführten historischen Belege fast ausschließlich dem Bereich der chemischen Industrie entstammen. Dieser deutsche Industriezweig war im Betrachtungszeitraum sicherlich von überragender Innovationskraft, kann aber aufgrund seiner technologischen Besonderheiten und seines noch geringen gesamtwirtschaftlichen Gewichts nicht als Stellvertreter der gesamten deutschen Volkswirtschaft herangezogen werden. [1] Schwerer noch wiegt der Einwand, dass es der deutschen Chemieindustrie gelungen ist, auch ihre Konkurrenten aus Nationen wie Großbritannien, Frankreich oder den USA zu übertreffen, in denen schon vor 1877 ein funktionierendes Patentgesetz eingeführt worden war - und in denen sich gemäß der Argumentation von Seckelmann ebenfalls eine Aufwärtsspirale zwischen der Entwicklung von Patentrecht und ökonomisch-technischer Leistungsfähigkeit hätte vollziehen müssen. Angesichts dieses Widerspruchs spricht Johann Peter Murmann in seinem bereits im Jahr 2003 erschienenen Buch "Knowledge and competitive advantage" (Cambridge University Press) zutreffend von einem so genannten Patentparadox, das seiner Meinung nach darin besteht, dass die deutschen Chemieunternehmen sowohl von der Abwesenheit eines Patentschutzes vor 1877 als auch von seiner Einführung nach 1877 profitierten. In der vorliegenden Dissertation fand diese wichtige Erkenntnis keine Berücksichtigung.

Zusammenfassend bietet die vorliegende Dissertation jedoch eine ausführliche Darstellung der rechtlichen Grundlagen des Patentschutzes im Deutschen Kaiserreich. Überdies liegt das Verdienst von Seckelmann sicherlich darin, die relevanten wirtschaftshistorischen Fragen aufgeworfen zu haben - auch wenn sie diese mit Hilfe der ihr zur Verfügung stehenden Methoden und Materialien nicht umfassend beantworten konnte.


Anmerkung:

[1] Einen Überblick über die Verteilung wertvoller deutscher Patente über Branchen und Regionen im Deutschen Kaiserreich bietet der gerade im Economic History Review erschienene Artikel "Technological and geographical knowledge spillover in the German empire 1877-1918" (2006, 347-373) von Jochen Streb, Jörg Baten und Shuxi Yin.

Jochen Streb