Maria Francesio: L'idea di Città in Libanio (= Geographica Historica; Bd. 18), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 157 S., ISBN 978-3-515-08646-2, EUR 36,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Pierre Fröhlich / Christel Müller: Citoyenneté et participation a la basse époque hellénistique, Genève: Droz 2005
Dionysios Ch. Stathakopoulos: Famine and Pestilence in the Late Roman and Early Byzantine Empire. A Systematic Survey of Subsistence Crisis and Epidemics, Aldershot: Ashgate 2004
Andreas Goltz: Barbar - König - Tyrann. Das Bild Theoderichs des Großen in der Überlieferung des 5. bis 9. Jahrhunderts, Berlin: De Gruyter 2008
Die Rede, die der antiochenische Sophist Libanios zum Lobe seiner Heimatstadt verfasst hat (Or. 11), gehört ohne Zweifel zu den herausragenden Zeugnissen für die Geschichte der spätantiken Stadt: Da sie eine detaillierte Beschreibung dieser spätrömischen Metropole enthält, ist sie neben der Weltchronik des Malalas die wichtigste Quelle für die Rekonstruktion der 'versunkenen Stadt' Antiocheia am Orontes. Sie bietet aber darüber hinaus auch eine eingehende Darstellung der vorrömischen Vergangenheit der Stadt und gewährt daher Einblick in die historischen Traditionen, die dort gepflegt wurden, und damit in die Rolle, die geschichtliche Erinnerung für die Ausbildung und Bewahrung kollektiver Identitäten spielte. Ein wichtiger Aspekt dieser umfassenden Thematik besteht in der Frage, welche Absicht Libanios mit der Abfassung und Publikation des Antiochikos verfolgte, und wie sich die in der Rede entwickelten Gedanken und Vorstellungen zu den sozialen und kulturellen Umwälzungen verhalten, die sich im 4. Jahrhundert n. Chr. vollzogen.
Maria Francesio geht diese Aufgabe in zwei Schritten an: Im ersten Teil ihrer Arbeit (17-106) untersucht sie die Rede in Form eines "close reading" auf Aussagen, die sich als Stellungnahmen des Autors zu Problemen seiner Zeit verstehen lassen. Dabei geht sie von der zutreffenden Voraussetzung aus, dass die Rhetorik in der Spätantike ein Medium war, in welchem ein öffentlicher Diskurs über die normativen Grundlagen des sozialen Lebens geführt wurde (oder zumindest werden konnte). Wer einen rhetorischen Text analysiert, muss sich die Frage stellen, an wen er sich richtet und wie er verbreitet wurde. Francesio nimmt (wie vor ihr bereits Paul Petit) an, dass die Rede in der Form, wie sie in den Handschriften überliefert ist, bei den Olympien des Jahres 356 mündlich vorgetragen und anschließend in schriftlicher Form einer unkontrollierten Verbreitung übergeben wurde. Diese Annahme kann indessen kaum richtig sein. Libanios hat bei den Olympien vielmehr, wie er selbst ausdrücklich bezeugt (Ep. 36,2), nur einen Teil der Rede vorgetragen und sie anschließend erweitert und überarbeitet, weshalb sie sich in § 3 selbst als "Buch" (biblion) bezeichnet. Die aus diesem Befund resultierende Frage, welchen Teil der Rede Libanios dem bei den Olympien versammelten Publikum vorenthalten hat und aus welchem Grund, wird daher von Francesio gar nicht erst gestellt, ist aber natürlich von erheblicher Bedeutung, wenn man klären möchte, wie repräsentativ Libanios' Ausführungen für die Eliten des spätrömischen Antiocheia sind.
Die Interpretation der Rede ist sehr ausführlich und folgt der Gliederung des Textes. Francesio arbeitet gut heraus, dass der meist implizite, mitunter aber auch explizite Vergleich mit dem klassischen Athen, wie es durch Thukydides, aber auch Aelius Aristides geschildert worden war, ein Leitmotiv des Textes bildet, und betont mit Recht, dass in der Betonung der Rolle, die die Götter in der Geschichte Antiocheias gespielt haben, eine kulturelle Botschaft enthalten ist, ohne deswegen in den Fehler zu verfallen, die Rede als politisches Manifest einer imaginären "heidnischen Partei" zu deuten, wie dies Petit und andere getan haben. Lobenswert ist auch, dass Francesio Libanios' Text durchgängig mit den Empfehlungen der Rhetorik-Handbücher vergleicht, um auf diese Weise Aufschlüsse über seine Aussageabsicht zu gewinnen. Ganz richtig wird festgestellt, die Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart sei ohne Vorbild und bilde daher einen Schlüssel zur Lektüre des Textes (53). Auf einem Missverständnis des griechischen Wortlauts beruht dagegen die Behauptung, Libanios selbst habe empfohlen, das Lob einer Stadt auf die vorrömische Zeit zu beschränken (50; ebenso 73); die zitierte Stelle (Or. 55,34) bezieht sich vielmehr auf das Lob einer Stadt, die als alt und als Bollwerk des römischen Reiches bezeichnet wird. Libanios' Gesellschaftsideal wird zutreffend charakterisiert: Er betrachtete die Führung der Stadt als Privileg und Verpflichtung einer grundbesitzenden Aristokratie, deren Ehrgeiz sich in der Erfüllung städtischer Liturgien erschöpfen sollte. Diese Führungsrolle hatte für Libanios zwei Seiten: Gegenüber den Statthaltern sollte sie sich in einer Art Beraterfunktion realisieren, gegenüber dem Volk dagegen in patronaler Fürsorge. Das Volk selbst wird dementsprechend vor allem für seine Fügsamkeit und Anhänglichkeit gegenüber den Ratsherren, aber auch für seine guten Manieren gelobt. Man kann Francesio nur zustimmen, wenn sie feststellt, dass Ideal und Realität weit auseinander klafften. Und natürlich setzte Libanios als selbstverständlich voraus, dass die Kompetenz, politische Entscheidungen zu treffen, längst vom Stadtrat auf die Statthalter übergegangen war. Er gab sich jedoch dem Glauben hin, dass die Ratsherren im Stande seien, die Statthalter des Kaisers im Sinne der Stadt zu beeinflussen, wenn sie nur über Gemeinsinn und Zivilcourage, vor allem aber über ausreichende Beredsamkeit verfügten. Darum hatte die griechische Bildung, die auf der Aneignung der klassischen Literatur im Unterricht der Grammatiker und Rhetoren basierte, für ihn durchaus auch eine praktisch-politische Seite. Auch in der Analyse der Stadtbeschreibung finden sich viele gute Beobachtungen, auch wenn sich hier mitunter antiquarische Details in den Vordergrund schieben, die zur Analyse des Textes wenig beitragen und anderswo bequem nachzuschlagen sind. Die Stadtbeschreibung folgt, wie Francesio mit Recht betont, dem Verlauf der großen Kolonnadenstraßen und blendet daher weite Teile der Stadt aus. Dass Libanios gerade die Portiken fokussiert, erklärt sie einleuchtend damit, dass sie für ihn vor allem Orte der Kommunikation waren, wo das gesprochene Wort dominierte.
Im zweiten Teil der Arbeit, der "La città e l'impero" überschrieben ist (107-139), versucht Francesio die bei der Interpretation des Antiochikos gewonnenen Ergebnisse zunächst in das Gesamtwerk des Libanios und dann in den historischen Kontext einzuordnen. Dieser Teil lässt, um es vorwegzunehmen, sehr viele Wünsche offen. Gewiss finden sich auch hier viele Feststellungen, die kaum auf Widerspruch stoßen dürften: Für Libanios bestand das Imperium Romanum, zu dem er keine Alternative sah, aus Städten (poleis), und er sah die Aufgabe des Kaisers vor allem darin, diese Städte gegen äußere Feinde zu schützen. Auch trifft es natürlich zu, dass Libanios im Kaiser den Hüter des Rechts und der Gesetze sah. Diese Feststellungen bleiben jedoch an der Oberfläche, weil Francesio darauf verzichtet hat, Libanios' Anspruch, er vertrete ein im klassischen Griechenland wurzelndes, zeitloses Ideal, zu überprüfen. Dann wäre nämlich deutlich geworden, dass die Tradition, für die der Sophist eintrat, sich gegenüber der klassischen, aber auch der hellenistischen Zeit erheblich gewandelt und wesentliche Bestandteile ganz ausgeschieden hatte, die ein halbes Jahrtausend früher zuvor noch als unentbehrlich gegolten hatten: Für Libanios ist die Polis zwar noch ein Lebensraum und Fokus kollektiver Identität, aber kein sich selbst regierender Bürgerverband und auch kein Rechtskreis mehr. Die Gesetze, auf deren Einhaltung er pocht, sind kaiserlichen, nicht städtischen Ursprungs; in den Gerichten, von denen er spricht, wird von kaiserlichen Statthaltern Recht gesprochen. Weil das Bürgerrecht für ihn keine Bedeutung mehr hat, kann er seine Heimatstadt als einen großen "melting pot" preisen (§ 163-168), in welchem Zuwanderer aus allen Teilen des Reiches höchstes Ansehen genießen. Aber auch die im Gymnasium zentrierte Sozialisation der angehenden Bürger ist Libanios' Gesichtskreis entschwunden, weshalb er das Gymnasium ebenso wenig einer Erwähnung würdigt wie Bouleuterion oder Agora (obwohl es dazu zumindest in der Darstellung der Vergangenheit vielfach Gelegenheit gegeben hätte).
Unbefriedigend bleibt schließlich auch der Versuch, Libanios' Idealbild der Stadt in den historischen Kontext einzuordnen. Dies liegt vor allem daran, dass dieser Kontext mit Begriffen wie Zentralisierung und Kurialenflucht zu ungenau bestimmt wird. Natürlich zeichnet sich der römische Staat der Spätantike gegenüber dem der hohen Kaiserzeit durch ein höheres Maß an Zentralisierung aus, und diese Tendenz war im Jahre 356 auch noch längst nicht abgeschlossen. Es ist jedoch wenig hilfreich, Libanios die Einsicht zu unterstellen, dass diese Entwicklung eines Tages zum Ende der griechisch-römischen Stadt führen würde, und seine Vorstellungen auf dem Hintergrund von Entwicklungen zu deuten, die zurzeit, als er den Antiochikos schrieb, in ihrer Tragweite noch gar nicht absehbar waren. Im übrigen war Libanos weit entfernt davon, über "die" Stadt der Spätantike nachzudenken; ihm ging es um "seine" Stadt, Antiocheia am Orontes, und um die Rolle, die griechische Bildung und heidnischer Kult für ihre kulturelle Identität spielen sollten. Da er kein Prophet und erst recht kein Denker war, der über die Struktur des Imperium Romanum systematisch nachgedacht hätte, sollte man den Antiochikos als Reaktion eines altgläubigen, dem Ratsherrenstand Antiocheias eng verbundenen Rhetorikprofessors auf Entwicklungen lesen, die für ihn erfahrbar und bedeutsam waren. Dabei sind die Diskurse, in denen er sich bewegte, mindestens ebenso wichtig wie sozialgeschichtliche 'Realitäten', zumal diese - etwa die so genannte Kurialenflucht - von der aktuellen Forschung erheblich differenzierter beurteilt werden, als dies bei Francesio geschieht. Die aufgrund der Existenz der Schriften eines Johannes Chrysostomos und Johannes Malalas gegebene Chance, den Geschichtsdiskurs des altgläubigen Libanios mit christlichen Geschichtsbildern zu vergleichen, wird von Francesio jedoch ganz unzureichend genutzt.
Das Verdienst der Arbeit liegt in ihrem ersten Teil, der Lesern, die mit Libanios und der Libanios-Literatur vertraut sind, zwar kaum Überraschungen bietet, ihnen aber doch einen nützlichen Leitfaden durch einen langen und wichtigen Text an die Hand gibt. Francesio liegt hier in vielen wesentlichen Punkten richtig, geht freilich auch manchem Problem aus dem Weg, sei es nun die Frage der Publikation und intendierten Adressaten oder die nach den Quellen, aus denen Libanios sein Wissen über die vorrömische Geschichte Antiocheias schöpfte. Immerhin kann man jetzt auf zwei fast zeitgleich erschienene Arbeiten verweisen, die genau diese Probleme erörtern, für Francesio aber zu spät kamen, um noch berücksichtigt zu werden. [1] Die im zweiten Teil versuchte Analyse des politischen Denkens des Libanios dringt zu wenig in die Tiefe und berücksichtigt auch längst nicht alle einschlägigen Äußerungen; die historische Kontextualisierung seiner Ideen bleibt in bescheidenen Ansätzen stecken. Hier gibt es noch viel zu tun.
Anmerkung:
[1] C. Saliou: Les fondations d'Antioche dans l'Antiochicos (Oratio XI) de Libanios, in: Aram 11-12 (1999-2000) [2003], 357-388; H.-U. Wiemer: Vergangenheit und Gegenwart im Antiochikos des Libanios, in: Klio 85 (2003), 442-468.
Hans-Ulrich Wiemer