Anne-Marie Bonnet: Kunst der Moderne. Kunst der Gegenwart. Herausforderung und Chance (= Kunst und Wissen), Köln: Deubner Verlag 2004, 160 S., ISBN 978-3-937111-05-6, EUR 19,80
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Die Zeit der großen Erzählungen scheint vorbei. Die Kunstgeschichte der Moderne lässt sich kaum mehr in großen, zusammenhängenden Übersichtsdarstellungen präsentieren. Die Gründe dafür sind vielfältig und unterliegen selbst dem Zeitgeist des 21. Jahrhunderts. Anne-Marie Bonnet führt dafür inhaltliche und methodische Aspekte an, auf die sie in ihrer Einführung in die Kunst der Moderne genauer eingeht.
Will man das weitgespannte Panorama künstlerischer Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert vorführen und in ihren Zusammenhängen bewerten, bedarf es zunächst eines wie auch immer gearteten Ordnungssystems. Herkömmliche Überblicksdarstellungen schlagen meist biografische oder entwicklungsgeschichtliche Klassifikationen vor, die sich für die zeitgenössische Kunst nicht mehr eignen. Zwar folgt die Kunst der Gegenwart auf die Kunst der Moderne, doch stellt diese keine vorwärts gerichtete Entwicklung mehr dar, wenn sie sich - nach Ansicht der Autorin - fortwährend selbst hinterfragt und die Bedingungen ihres eigenen Entstehens vor dem Hintergrund zurückliegender Kunstrichtungen reflektiert (40). Die Moderne, so lernt man, ist nicht die Summe ihrer Teile, sondern ein Prozess, den das gleichzeitige Nebeneinander unterschiedlicher, teils gegensätzlicher Stile und Anliegen kennzeichnet. Eine lineare Ordnung, wie die Stilgeschichte sie begründet, ist weder vorhanden noch wäre sie angemessen: "Der Glaube an den Telos, (...) an die Möglichkeit, die Lage vom Feldherrnhügel (...) aus beschreiben zu können, ist definitiv abhanden gekommen" (41).
Angesichts des gegenwärtigen Stilpluralismus distanziert sich Bonnet von der herkömmlichen Einfluss-Kunstgeschichte, der wir ein Phantombild der Moderne (13) verdanken, wie Gombrich es seinerzeit zeichnete. Statt die Eigenarten der künstlerischen Gegenstände zu kolonisieren (7), geht es Bonnet darum, den methodischen Zugriff auf sie zu reflektieren (9). Der Anspruch auf eine Revision des Faches (42), angesichts derer stil- oder ideengeschichtliche Periodisierungen als apodiktisch zurückgewiesen werden (9, 13, 40), ist dabei nicht neu. So werden seit den ausgehenden 80er-Jahren generische Schilderungen im Rahmen des New Historicism abgelehnt und durch kontextuelle Fallstudien ersetzt. Ein Überblick ergibt sich wie im vorliegenden Buch nur aus der kaleidoskopartigen Zusammenstellung exemplarischer Werke, Phänomene oder Strategien.
Da aber auch Bonnets Übersicht nicht ohne roten Faden auskommt, nähert sie sich dem Gegenstand aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Auf die methodische und begriffliche Einführung folgt ein kursorischer Überblick über die "Historische Moderne" (1820-1900), die "Klassische Moderne" (1905-1933/45) und den "Modernismus" (ab 1950) (13-39). Die schlagwortartige Aneinanderreihung verschiedener Epochenbegriffe führt das im Vorfeld kritisierte Bedürfnis nach schlüssigen Periodisierungskriterien ad absurdum. Wie lückenhaft und eindimensional derlei Geschichtskonstruktionen sind, wird umso deutlicher, wenn Bonnet im Anschluss die selbe Geschichte noch einmal erzählt und drei unterschiedliche tableaux entwirft, welche die Entwicklung einmal institutionsgeschichtlich begründen, das andere Mal die Rolle des modernen Künstlers herausarbeiten und nach einem erneuten Perspektivwechsel das Jahrhundert auf seine unterschiedlichen Werkbegriffe und -konzepte befragt. Die sprachlich brillant gelösten, weil einfach formulierten Zusammenhänge werden durch anschauliche Grafiken und Tabellen ergänzt, die dem Leser Einblick in das Betriebssystem Kunst, den anhaltenden Körperdiskurs sowie das Entstehen moderne Künstlermythen gewährt.
Die Relativierung der ebenso durchdachten wie kenntnisreichen Argumentation ist damit aber bereits eingeleitet. Stellt Bonnet ihrer Untersuchung eine kursorische Skizze über die Kunstentwicklungen der vergangenen 150 Jahre voran, um sie anschließend zu konterkarieren, dann weist sie unmissverständlich auf Notwendigkeit derselben hin. So defizitär jede Form von Stilgeschichte sein mag, so bedeutsam ist ihr Aufbau im Augenblick der Demontage. Nur wenn die Konstruktion verschiedener Klassifikationssysteme bekannt ist, lässt sie sich mit triftigen Gründen dekonstruieren. Der rote Faden lässt sich in seiner Linearität nur anzweifeln, wenn man ihn einmal durch den Stil- und Methodenpluralismus des 19. und 20. Jahrhunderts gelegt hat. Die angekündigte Revision des Faches erweist sich deshalb als eine Kurskorrektur, die in ihrer Bedeutung jedoch nicht zu unterschätzen ist.
Die Entscheidung sich einem Thema nicht linear zu nähern, sondern seine Facetten hervorzuheben, indem man unterschiedliche Zugänge zu diesem legt, wirkt überzeugend. Ob es dafür der eingeschobenen Exkurse über die "Moderne und Avantgarde", "Die Postmoderne" oder das "Museum der Moderne" bedarf, sei dem Leser überlassen. Sollte sich Bonnets Überblick allerdings wie die zugrunde liegenden Aufsätze aus den kunsthistorischen Arbeitsblättern (2005) an Studienanfänger oder kunstinteressierte Laien richten, dann läuft das Buch Gefahr, sein Ziel zu verfehlen; vorausgesetzt, das Ziel besteht darin, eine Orientierungshilfe im Dschungel postmoderner Äußerungen zu geben. Es ist zu bezweifeln, dass die Verfasserin beim Schreiben Studierende vor Augen hatte. Dagegen spricht vor allem die eher zufällige Auswahl der Abbildungen, die nur selten einer Vertiefung oder Illustration des Textes dienen. Nicht das Gemeinsame, sondern das Differente eint Claude Monets Gemälde (1877) mit Thomas Schüttes Aluminiumskulpturen (1997) und Richard Billinghams Fotografien (1994) (14). Beinahe spielerisch gehen die Abbildungen über Epochen, Gattungen, Materialien und künstlerische Intentionen hinweg. Nur selten finden sich Vergleiche, wie im Falle der (problematischen) Gegenüberstellung von Andy Warhols "Invisible Sculpture" (1985) und Antoine Watteaus "Pierrot, genannt Gilles" (1718/19) (116). Eine völlige Isolation erfährt schließlich Anselm Kiefers "Märkischer Sand" (1982), der einem Überblick über die Disziplingeschichte des Faches Kunstgeschichte an die Seite gestellt wird. Die in Klammer gesetzte Abbildungsziffer ergänzt Hans Beltings "Ende der Kunstgeschichte" (46) in gleicher Weise wie Gottfried Boehms "Krise der Repräsentation" (47). Einen solchen Spagat können selbst die geschichtsträchtigen Hinweise in Kiefers Materialbildern nicht leisten. An dieser Stelle wünschte man sich einen behutsameren Umgang mit den Bildern, die noch immer die Grundlage unserer Disziplin darstellen. Selbst wenn man der Ansicht ist, dass sie nicht länger in einen engen Traditionszusammenhang eingebunden werden sollten, gleich ob sie sich nachahmend oder ablehnend dazu verhalten, verkraften sie die Herauslösung aus diesem noch weniger.
Die vorliegende Bilanz über die künstlerische Moderne geht in ihrer Programmatik gewiss über Uwe M. Schneedes "Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert" (2001) oder T. J. Clarks "Farewell to an idea. Episodes from the History of Modernism" (1999) hinaus. Auch kann Hubert Lochers Übersichtsdarstellung über die "Deutsche Malerei im 19. Jahrhundert (2005) nicht immer mit der gleichen sprachlichen Präzision aufwarten, wie Bonnet es gelingt, komplizierte Sachverhalte einfach darzustellen. Für diejenigen, denen die Materie vertraut ist, stellt das Buch einen Gewinn dar, fasst es doch Bekanntes gut zusammen, nicht ohne nach den eigenen Wertmaßstäben und Klassifikationskriterien zu fragen. Für all jene, die aber eine Orientierungshilfe erhofft haben, verheißt der Band keine Erlösung. Das Buch gibt keine Übersicht über die Epochen und Schulen der Kunstgeschichte, sondern beantwortet weiterführende Fragen und nennt Details, die für das Ganze wichtig sind. An die Stelle der Analyse einzelner Bildwerke treten systemrelevante Fragestellungen, die sich an der Kunst entfacht haben, heute längst aber getrennt von ihr diskutiert werden. Dass Bonnet um die Problematik ihres Vorstoßes weiß, lässt sich aus der wiederholten Rechtfertigung ihres methodischen Ansatzes ebenso lesen wie aus dem Untertitel des Buches, der die Behandlung der Moderne als "Herausforderung und Chance" begreift. Der mutige Anfang ist gemacht und es ist dem Buch zu wünschen, dass es eine rege Diskussion um solch umstrittene Kategorien wie "Kanon" oder "Epoche" nach sich zieht.
Ulrike Gehring