Anette Baumann / Peter Oestmann / Stephan Wendehorst / Siegrid Westphal u.a. (Hgg.): Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 46), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 406 S., ISBN 978-3-412-18303-5, EUR 44,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Anja Amend-Traut / Anette Baumann / Stephan Wendehorst u.a. (Hgg.): Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis, München: Oldenbourg 2012
Anja Amend / Anette Baumann / Stephan Wendehorst u.a. (Hgg.): Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich, München: Oldenbourg 2008
Peter Oestmann: Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeitsstreitigkeiten und Instanzenzüge, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012
Seit am Rande des Münchener Historikertages von 1996 Nachwuchsvertreter der Rechtsgeschichts- und Frühneuzeitforschung zusammenfanden, existiert das nicht vereinsrechtlich, sondern hauptsächlich über Lehrstuhlverbindungen aufgebaute so genannte 'Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit', das im April des Jahres 2001 seine zweite interdisziplinäre Fachtagung in Wetzlar durchführte. Wie die Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e.V. fasst das Netzwerk seine wissenschaftlichen Veranstaltungen zu Tagungsbänden zusammen, die in der für die Reichskammergerichtsforschung tonangebenden Schriftenreihe 'Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich' Aufnahme finden.
Ein solches Produkt liegt auch im vorliegenden Band vor, der eine klaffende Lücke im Gesamtbild des Alten Reiches schließt, indem das Personal nebst diversen Dienststellen des Reiches in Gestalt seines innenpolitischen, forensischen und administrativen Agierens in den Mittelpunkt gestellt werden. Untersuchungsobjekt ist der vielgestaltige 'Beamtenapparat' des "komplementären Reichs-Staates" (Georg Schmidt) unterhalb der Ebene der politischen Spitzenämter.
Die Herausgeber und Verfasser der Einzelbeiträge lösen sich von üblichen verwaltungsgeschichtlichen Fragestellungen, die den im 15. Jahrhundert einsetzenden Verstaatungs-, Verdichtungs-, Bürokratisierungs- und sonstigen administrativen Modernisierungsprozess in 'Deutschland' vornehmlich auf territorialer, gliedstaatlicher Ebene lokalisiert hatten: Dass die Durchsetzung rationaler Herrschaftsstrukturen immer auch mit professionellen und akademisch gebildeten Funktionseliten zu tun hat, war nämlich hauptsächlich durch landesgeschichtliche Erkenntnisse und durch solche der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (insbesondere der Rechtswissenschaft bzw. der Kameral- und Policeywissenschaft) bekannt, das klassische Paradigma war dabei natürlich Preußen.
Die sehr umsichtige Einleitung wird am Schluss des Buches statt einer summary auch noch einmal in englischer Sprache wiedergegeben. Man räumt dort ein, dass eine Schwierigkeit bei der Annäherung an die Reichsebene darin besteht, eine Trennlinie zwischen kaiserlichen, Reichs- und habsburgischen Funktionsträgern und Kompetenzfeldern nicht leicht ziehen zu können. Davon lassen sich die dreizehn Einzelbeiträge jedoch nicht beirren: Die Autoren verschieben die landesgeschichtlichen Sichtweisen auf das Reich in seiner dezentralen Struktur, indem das Reichsbeamtentum, die Reichsführungsschicht, die Reichselite (Karl Härter) begrifflich problematisiert, durch einige wenig bekannte 'untere Chargen' (Wolfgang Sellert) und mittlere Ränge modifiziert und anhand von ausgesuchten Einzelphänomenen zum Thema gemacht werden.
Der Reigen der Referate beginnt mit Wolfgang Burgdorf über die "reichsrechtliche Peregrinatio academica im 18. Jahrhundert". Burgdorf geht der Frage nach, welche Bedeutung fachjuristische Tätigkeiten an einzelnen Reichsinstitutionen in Speyer bzw. Wetzlar, Regensburg und Wien für die Laufbahn von Reichsjuristen bzw. für die Berufsperspektive von Absolventen des Studiums des jus publicum hatten - berühmte Beispiele sind in diesem Zusammenhang Stephan Pütter und der Reichskammergerichtspraktikant Goethe. Eva Ortlieb geht der Frage der kaiserlichen Kommissare des Reichshofrates und ihrer Subdelegierten nach. Es wird deutlich, dass die Kommissare am Reichshofrat ein wesentliches Arbeits- und Steuerungsinstrument für die Wirkungen des Reichshofrates vor Ort darstellten; Grafen und Geistliche aus den reichsfreundlichen südwestdeutschen Territorien, das geht jedenfalls aus anschaulichen Grafiken hervor, bildeten das wichtigste Rekrutierungsfeld für die Auswahl des Kommissionspersonals. An dieses Themenfeld schließt sich der Beitrag von Stefan Ehrenpreis über die "Reichshofratsagenten: Mittler zwischen Kaiserhof und Territorien" an, deren Funktion - vergleichbar mit den Prokuratoren am Reichskammergericht - auch an einem nachlassartig überlieferten Einzelbeispiel (Johann Löw, um 1600 in Prag tätig) verdeutlicht wird.
Völlig neues Terrain betritt Gernot Peter Obersteiner mit seinem umfangreichen Aufsatz - eigentlich eine klassische Institutionenmonografie - über das "Reichshoffiskalat 1596 bis 1806: Bausteine zu seiner Geschichte aus Wiener Archiven". Man begegnet einer wenig bekannten Dienststelle des Reiches, die eine besondere Nebentätigkeit für Belange der Vasallen und Lehnsträger in Reichsitalien entwickelte. Anette Baumann wiederum vertieft den Blick auf die Riege der Prokuratoren am Reichskammergericht und ihre soziale und institutionelle Einbettung in den Rechts- und Gerichtsbetrieb des 18. Jahrhunderts.
Nils Jörn rekonstruiert "die schwedische Präsentation am Reichskammergericht", damit auch die Beziehungen des 'reichsfernen' Nordens zum Reichskammergericht, der ja nach 1648, durch das territoriale Ausgreifen Schwedens in die südliche Ostseeregion, auch in einer staats- und lehnrechtlichen Sonderstellung zum Reich stand. In der Figur des Greifswalder Universitätsjuristen Christian Nesselbladt (1696-1775) wird dabei eine problematische Richterbiografie transparent, die Aufschlüsse über Beamtenbestechung und Ämterkorruption liefert. Eine ähnliche Darstellung gelingt Karl Welker mit dem beruflichen Werdegang des Reichskammergerichtsassessors Friedrich Wilhelm Riedesel Freiherrn zu Eisenbach (1705-1782), dargestellt aus Nachlassquellen im Staatsarchiv Darmstadt.
Eric-Oliver Maders Studie "'Soldateske' des Reichskammergerichts" untersucht einen besonderen Typ der persona publica, die - namentlich benannten - Fuß- und reitenden Reichskammergerichtsboten am Ende des 18. Jahrhunderts, die als wichtige Repräsentanten des Gerichts in der Reichsöffentlichkeit zu gelten haben. Vergleichbares versucht auch Ralf-Peter Fuchs mit seinen Betrachtungen über die Etablierung von Botenstellen am Reichskammergericht und ihre Amtsinhaber zur Mitte des 16. Jahrhunderts, die schon in der Frühzeit des Gerichtes nicht nur die Geschäftsroutine und deren räumlich-geografischen Implikationen aufrecht erhielten, sondern deren Tätigkeit auch politisch-repräsentative Dimensionen einschloss.
Christine Pflüger wendet sich den verfassungsgeschichtlich besonders komplizierten Jahren 1552-1558 zu: Die von reichsrechtlichen Singularitäten charakterisierte Übergangsphase vom universalen Kaisertum Karls V. zum "reduzierten Kaisertum" Ferdinands I. (Heinrich Lutz) kennt königliche Räte und Kommissare, die als besondere Autoritätsträger der Herrschaftsstabilisierung und der Reichskommunikation Ferdinands I. dienten. In die Erforschung delegierter reichspolitischer Amtsinhaber gehört auch der Beitrag von Armin Kohnle, der ein noch im Planungsstadium befindliches Projekt über die Prosopografie fürstlicher Reichstagsgesandten im Reformationszeitalter vorstellt. Von der Erschließung dieser Funktionselite erhofft er sich neue Aufschlüsse über die personale Repräsentanz der Reichs- und Konfessionspolitik in den mittleren Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts, ebenso über die Voraussetzungen für die allmähliche Transformation des tagungsörtlich noch nicht fixierten Reichstages in den Regensburger Gesandtenkongress des 17. Jahrhunderts.
Stephan Wendehorst hält ein Plädoyer für die längst überfällige Erforschung des frühneuzeitlichen Notariats. Er kehrt dabei die Bedeutung der Notare als reichsrechtlich legitimierte Vertrauensleute und Dienstleister für urkundliche Rechtssicherheit sowie als Mitgaranten für die Funktionstüchtigkeit der Reichsjustiz hervor. Geradezu verblüffend erscheint der Versuch, den Terminus Reichspersonal sogar auf literarisch-kulturgeschichtliches Feld zu führen. Indem John L. Flood die kaiserlichen Dichterkrönungen im Reich, also den Poeta caesarea laureatus, ins Visier nimmt (1355 mit Karl IV. und Zanobi di Strada beginnend, im 17. Jahrhundert seinen 'inflationären' Höhepunkt erlebend und erst in der Goethe-Zeit untergegangen), stößt das Reichspersonal jedoch an seine inhaltlich-begriffliche Grenzen.
Fazit: Die zähe innere Konsistenz des Alten Reiches, die man unter der Folie seines vermeintlichen strukturellen Niederganges in der Frühen Neuzeit allzu lange nicht erkennen wollte, erhält durch den vorliegenden Band überzeugende neue Erklärungen. Jenseits der Reichszentralbehörden gerät ein wenig bekanntes Genre von Aufgaben und Wirkungsbereichen diverser 'Reichsdiener' in den Blick. Die berühmte, von Goethe im 'Faust II' gestellte Frage: "Das liebe heilge Römsche Reich, wie hälts nur noch zusammen?", die diesem Band als zielführendes Motto vorangestellt wird, erhält innovative Antworten, die weit über den Bereich der Reichsgerichtsbarkeit hinausreichen; durch einen abschließenden Namensindex wird sogar ein Zugriff auf einzelne Personen möglich.
Reichskammergerichtsprokuratoren, kaiserliche Räte, fürstliche Gesandte, delegierte Kommissare, öffentliche Notare, Gerichtsboten, Fiskale und andere 'Funktionäre' bilden eine altdeutsche Staatsdienerschaft von besonderer Qualität; der Vereinbarungsbegriff 'Reichspersonal' bleibt aber strukturell offen. Dort hinein gehören nämlich auch Personengruppen, "die nur zeit- und teilweise, aber dennoch wesentlich für das Reich und seine Institutionen tätig waren" (Eva Ortlieb). Alle zusammen sorgen mit ihren Tätigkeitsfeldern, Netzwerken und Karrieren am Reichskammergericht, am Reichstag, am Reichshofrat und anderen Reichsinstituten sowie mit ihrem gruppen- und berufsspezifischen "Bewusstsein für den Reichszusammenhang" (Ortlieb) dafür, dass das Alte Reich seine Wahrnehmbarkeit und Handlungsfähigkeit bis zum Zusammenbruch 1806 aufrecht erhalten kann - der vorliegende Band lehrt im Übrigen, dass dies keineswegs nur in Gestalt des Rechtswege- und Rechtsmittelstaates geschah. Die Forschungsergebnisse zum Reichspersonal in den mittleren und höheren Rängen, nun als eigenständige soziale und kulturelle Formation mit reichsintegrativer Wirkung erkannt, sind eine bedeutende Wegmarke für das revidierte Bild vom Alten Reich.
Matthias Kordes