Anna Bernard: Die Revokation des Edikts von Nantes und die Protestanten in Südostfrankreich (Provence und Dauphiné) 1685-1730 (= Pariser Historische Studien; Bd. 59), München: Oldenbourg 2003, VIII + 232 S., ISBN 978-3-486-56720-5, EUR 34,80
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Bernards Dissertation nimmt sich mit einer spezifisch deutschen Fragestellung einen breit untersuchten Themenbereich der französischen Geschichte vor, die Revokation des Edikts von Nantes. Die verschränkten Fragestellungen der Arbeit, deren Textteil 163 Seiten umfasst (die Seiten 165-202 enthalten den Materialanhang), beziehen sich zum einen darauf, inwiefern sich in der Revokation der 'Absolutismus' Ludwigs XIV. offenbare und reagiert hier auf die Henshall-Debatte, zum anderen wird gefragt, inwiefern sich in der Revokation und ihrer Durchführung 'Konfessionalisierung' zeige. Beides sind aktuelle und berechtigte Fragen. Leider ist es aber in diesem Fall so, dass das gewünschte Ergebnis ('es gibt sehr wohl Absolutismus' und '1685 hat nichts mit Konfessionalisierung zu tun') allzu sehr von vorneherein die Ausführungen determiniert, während eine vertiefte Beweisführung dieser Thesen nicht in sorgfältiger Interpretation und Analyse durchgeführt wird. Darüber kann auch die - freilich positiv zu erwähnende - Vertrautheit mit manchem handschriftlichen Material um 1700, das mit langen Zitaten in den Text eingestreut und in Exempeln im Anhang transkribiert wird, nicht hinwegtäuschen, da es zumeist nicht wirklich einer intensiven Analyse unterzogen wird, und so nur scheinbar Belegcharakter hat.
Bernard skizziert zunächst anhand der edierten Gesetzgebung zur protestantischen Minorität die staatliche Protestantenpolitik (39-54), betrachtet dann, nach kurzen Ausführungen zur Kompetenzverteilung im Rahmen des Staats- und Kirchenaufbaus (55-70), anhand von Korrespondenzen und ähnlichen Schriftstücken aus der staatlichen Intendanturadministration diese Protestantenpolitik aus einer näheren Perspektive (71-108), um dem dann die Protestantenpolitik des Klerus gegenüberzustellen (109-122), und um schließlich, hier aus der Sekundärliteratur schöpfend, die Reaktion der Protestanten auf die jeweils repressiv-normierenden Maßnahmen zu umreißen (123-156).
Die Darstellung fasst für den deutschen Leser weitgehend den französischen Forschungsstand zum Protestantismus in Südostfrankreich zusammen. Merkwürdig mutet an, dass angesichts des Themas die vielen Veröffentlichungen und Diskussionen um das Edikt von Nantes selbst, wie sie anlässlich der Säkularfeiern 1998 die französische Forschung breit beschäftigten, kaum zu Kenntnis genommen sind - weder etwa Bernard Cottrets Monografie zum Edikt [1], noch die diversen Sammelbände, die immer auch die Nachwirkung und Aufhebung des Edikts im Blick hatten [2]. Dass in Frankreich die Konfessionalisierungsthesen nicht diskutiert würden (8 f.), stimmt seit 10 Jahren nicht mehr, dank der Vermittlungsarbeit von Gérald Chaix und den Publikationen von Thierry Wanegffelen. [3] Die jüngeren französischen Diskussionen über die Transformation von 'konfessionalistischen' Handlungs- und Motivationsmustern in eine Kooperation mit der Krone [4] sind ebenso wenig bedacht und verarbeitet wie die Studien zu den französischen Staatsräsonautoren von Étienne Thuau bis zu Jean-Pierre Cavaillé oder zur calvinistischen Staatstheorie im 17. Jahrhundert [5], obwohl zum Schluss von Bernards Arbeit "die Staatsräson" als eigentlicher Motivationsfaktor gegen "Konfessionalisierung" ausgespielt wird. Dass in der Ergebnis-Zusammenfassung die ius reformandi- / ius emigrandi-Regeln des Augsburger Religionsfriedens als für Frankreich gültig präsupponiert werden, ist mindestens höchst missverständlich formuliert (158 f.).
Als Konfessionalisierungshistoriker müsste man resümieren, dass die Autorin das Konzept nicht in seiner Komplexität erfasst hat, und daher, während sie meint, es für Frankreich zu falsifizieren, in Wirklichkeit noch einmal die Tatsachen zusammenfasst, die eigentlich gerade für die Anwendbarkeit des Paradigmas auf Frankreich sprechen. Das Argument, dass hier nicht kirchliche, sondern staatliche Institutionen Zwangskonversionen und Vertreibungen durchführen (159), spricht nicht gegen Konfessionalisierung, sondern würde doch gerade zeigen, wie sehr der Staat also 'konfessionalisiert' war. Um die Wende zum 18. Jahrhundert wäre eben ein solches Maß an Staatsmachtzuwachs erreicht - so müsste man als advocatus diaboli argumentieren -, dass die Indienstnahme kirchlicher Institutionen seitens des Staates (ein Element der Reinhard'schen Fassung der Konfessionalisierungsthese) nicht mehr nötig war, sondern er selbst als Staatskirche und Sakralstaat handeln konnte. [6] Die eigentliche Argumentation hätte eher bei einer vorgängigen Entontologisierung von "Staat" und "Konfession" und dann dort ansetzen können, wo Bernard die reflexive Analyse der Funktionalität von Religion / Konfession seitens der Staatsdiener selbst (21, 27 u. ö.) erwähnt. Diese kognitive Distanz ist sicher ein Phänomen, dessen Untersuchung nicht nur über die Frage des Konfessionalisierungserfolges, sondern über die Frage nach dem Kern und der Definition des Prozessbegriffes 'Konfessionalisierung' selbst Ansatzpunkte für eine - dann auch konstruktive, nicht rein destruktive - Kritik einer zu eindimensionalen Fassung des Konzepts geliefert hätte. Insbesondere wäre es wohl sehr dienlich gewesen, hier bei dem gerade für ihren zeitlichen Teilbereich der Frühen Neuzeit (Ende 17. / Anfang 18. Jahrhundert) relevanten, aktuellen Stand der Diskussion im deutschsprachigen Bereich anzusetzen, der insbesondere durch die - in ihren Ergebnissen zum Teil durchaus miteinander konfligierenden - Studien von Rudolf Schlögl und Andreas Holzem markiert ist. [7] Wenngleich man bei einer schnellen, stichworthaften Verständigung vielleicht sogar den eingangs erwähnten Thesen bzw. Ergebnissen Bernards zustimmen könnte, so scheint es nicht angemessen, einfach 'Absolutismus' / 'Staatsräson' als Oppositionsbegriffe zu 'Konfessionalisierung' auszuspielen, ohne diese jeweils genauer und auch mit Blick auf die zeitgenössischen Theorien von Politik und Religion zu untersuchen. Die an anderem Ort anlässlich der Arbeit Bernards am Schluss stehende Bemerkung "Aber die Pflicht zur Drucklegung von Dissertationen gibt es eben" [8] erscheint hingegen zu hart. Denn immerhin wird hier ein Themenbereich bearbeitet, der zwar insgesamt breit erforscht ist, in Deutschland im Hinblick auf diese Fragestellungen so aber in jüngerer Zeit nicht monografisch behandelt wurde. Auch im Zusammenhang der angloamerikanischen Forschung [9] stellt die Arbeit eine durchaus aktuelle Frage und leistet eine Transferarbeit im Hinblick auf die französische Literatur. Sicher aber ist mit dieser Arbeit die aufgeworfene Frage bei Weitem nicht erschöpfend oder überzeugend behandelt.
Anmerkungen:
[1] Bernard Cottret: 1598 - L'édit de Nantes. Pour en finir avec les guerres de religion, Paris 1998.
[2] Als Bester sei hervorgehoben Michel Grandjean / Bernard Roussel (Hg.): Coexister dans l'intolérance. L'édit de Nantes (1598), Paris 1998.
[3] Vgl. die Literaturüberblicke und räsonierten Bibliografien seit Ende 1986 im Bulletin d'Information de la Mission Historique Française en Allemagne (Göttingen); Gérald Chaix: De la cité chrétienne à la métropole catholique. Vie religieuse et conscience civique à Cologne au XVIe siècle [1450-1650]. Thèse d'Etat Strasbourg. 3 Bde., Lille, Atelier National de Reproduction des Thèses 1994 (Nr. 94/STR2/0002), 956, 1020-1022 u. 1031-1034; Thierry Wanegffelen: 'Construction confessionnelle' et 'confessionalisation' dans l'Europe moderne, in: Historiens et Géographes 84 (1993), 121-132.
[4] Denis Crouzet: Les guerriers de Dieu. La violence au temps des troubles de religion, vers 1525 - vers 1610, 2 Bde., Seyssel 1990, Bd. 2, 541-603, exemplarisch ausgeführt bei Yann Lignereux: Lyon et le roi. De la "bonne ville" à l'absolutisme municipal (1594-1654), Seyssel 2003.
[5] Étienne Thuau: Raison d'état et pensée politique à l'époque de Richelieu, Paris 1966, 2. Aufl. 2000; von Cavaillé zuletzt Jean-Pierre Cavaillé: Dis-simulations. Jules César Vanini, François La Mothe Le Vayer, Gabriel Naudé, Louis Machon et Torquato Accetto; religion, morale et politique au XVIIe siècle, Paris 2002; Hartmut Kretzer: Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert. Die politische Lehre der Akademien Sedan und Saumur, mit besonderer Berücksichtigung von Pierre du Moulin, Moyse Amyraut und Pierre Jurieu, Berlin 1975.
[6] Zuletzt hat Alain Tallon: Conscience nationale et sentiment religieux en France au XVIe siècle, Paris 2002 vor dem Mythos eines ab etwa 1593/1598 vom Religiösen sofort "entzauberten" Staates gewarnt und die Bedeutung des Gallikanismus als von Rom gerade nicht separierter "Staatsreligion" betont, der er wohl dann auch die Revokation zuschreiben würde.
[7] Rudolf Schlögl: Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt: Köln, Aachen, Münster 1700-1840, München 1995; Andreas Holzem: Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570-1800, Paderborn 2000.
[8] Katharina Middell: Rezension zu Anna Bernard: Die Revokation des Edikts von Nantes und die Protestanten in Südostfrankreich 1685-1730, H-Soz-u-Kult, November, 2003; URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-4-080
[9] Vgl. etwa jüngst Philip Benedict: Confessionalization in France? Critical Reflections and New Evidence, in: ders.: The Faith and Fourtunes of France's Huguenots, 1559-1685, Aldershot 2001, 309-325; Mack P. Holt: Confessionalization beyond the Germanies: The Case of France, in: John M. Headley / Hand J. Hillerbrand / Anthony J. Papalas (Hgg.): Confessionalization in Europe, 1555-1700. Essays in Honor and Memory of Bodo Nischan, Aldershot 2004, 257-272.
Cornel Zwierlein