Martin Parr / Gerry Badger: The Photobook: A History volume 1, Berlin: Phaidon Verlag 2004, 320 S., 750 Farbabb., ISBN 978-0-7148-4285-1, EUR 75,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Seit einigen Jahren wird das Fotobuch als künstlerische Gattung sui generis entdeckt. Parallel zu der Ausbildung eines Kanons der bedeutendsten Fotografen und Fotografinnen in Auktionen, Ausstellungen und Publikationen hat sich seit circa 1975 eher unauffällig, am Antiquariatsmarkt und in den der Information gewidmeten Ausstellungsvitrinen ein Kanon der wichtigsten Fotobücher entwickelt. Diesem sind inzwischen bereits vier eigenständige Publikationen gewidmet. 1979 brachte das Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia in Madrid das Katalogbuch "Fotografía Pública. Photography in Print 1919-1939" heraus, das die wichtigsten Werke aus der kreativsten Periode der Fotobuchproduktion, den 20er- und 30er-Jahren, vereinte. Zwei Jahre später folgte Andrew Roth in New York mit einem Überblick über die stilprägenden Fotobücher des 20. Jahrhunderts: "The Book of 101 Books. Seminal Photographic Books of the Twentieth Century". 2004 erschienen gleich zwei neue Bücher zum Thema: die vom Hasselblad Center in Göteborg verlegte und ebenso von Andrew Roth herausgegebene Anthologie "The Open Book. A History of the Photographic Book from 1878 to the Present" und "The Photobook: A History volume 1" (Phaidon Press London), zusammengestellt und kommentiert von dem international renommierten Fotografen und Fotobuchkünstler Martin Parr und dem britischen Fotokritiker Gerry Badger.
Aus historisch-wissenschaftlicher Sicht ist die auf zwei Bände angelegte 'Geschichte des Fotobuchs' von Parr und Badger das bislang ambitionierteste Unternehmen. Insgesamt sollen in beiden Bänden ca. 450 Werke vorgestellt werden, davon sind in dem vorliegenden ersten Band ca. 215 enthalten. Die Publikation hat eher den Charakter eines Katalogs als den einer historischen Abhandlung. Die Werke sind in neun Gruppen aufgeteilt, die grob einer chronologischen Ordnung folgen, beginnend mit den ersten Fotobüchern in den 1840er-Jahren (William Henry Fox Talbots "The Pencil of Nature" und Anna Atkins' "Photographs of British Algae: Cyanotype Impressions") und endend mit japanischen Fotobüchern der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Der zweite Band soll sich der Ankündigung zufolge in der Hauptsache mit zeitgenössischen Fotobüchern sowie "books produced by companies" (5) befassen.
Jedem Kapitel ist eine historische Betrachtung vorangestellt, das jeweilige Fotobuch wird meist auf einer Seite durch Abbildungen des Schutzumschlags und zweier Bildseiten präsentiert, ergänzt um einen kurzen historischen Kommentar, der in vielen Fällen mit einer ästhetischen oder ideologischen Wertung versetzt ist. Die farbigen Abbildungen der Fotobücher sind in einem klaren und übersichtlichen Layout vorzüglich gedruckt. Gemessen an den Standards eines wissenschaftlichen Katalogs fällt auf, dass unter den gegebenen bibliografischen Informationen Hinweise auf den Urheber des Schutzumschlags, den Typografen und die jeweils angewandte Drucktechnik ganz fehlen, obwohl die Tatsache, ob die Fotos im Hoch-, Tief- oder Lichtdruckverfahren wiedergegeben sind, am Erscheinungsbild des Fotobuches einen wesentlichen Anteil hat.
Der historisch-wissenschaftliche Nutzen dieser Publikation wird durch das Fehlen von Literaturangaben unter den Werkkommentaren erheblich geschmälert. Zu einigen der wichtigsten Fotobücher gibt es heute Spezialuntersuchungen, andere stehen im Mittelpunkt monografischer oder historisch-stilistischer Abhandlungen (Talbot, Mendelsohn, Moholy-Nagy, Blossfeldt, Renger-Patzsch, Bellmer, Man Ray u. a.). Das Studium des Anmerkungsapparats und der Select Bibliography am Ende des Buches führt zu dem Schluss, dass Gerry Badger ein Großteil der fotogeschichtswissenschaftlichen Literatur nicht bekannt ist. Von der umfänglichen deutschsprachigen Sekundärliteratur, insbesondere zu den Fotobüchern der 20er- und 30er-Jahre, einer Periode, in der Deutschland auf diesem Sektor weltweit führend war, ist - offenbar aufgrund mangelnder Sprachkenntnis - nicht ein einziger Titel aufgeführt. Daher ist es nicht verwunderlich, in den Werkkommentaren so merkwürdige Feststellungen zu lesen wie die, Karl Blossfeldt sei "a rare combination of craftsman and art historian" gewesen und sein Buch "Urformen der Kunst", "as much founded on the Arts-and-Crafts ethos as Bauhaus principles" (sic), habe ihm als "teaching manual" an der Kunstgewerblichen Lehranstalt in Berlin gedient (97). Das von dem Kunsthistoriker Franz Roh und dem Typografen Jan Tschichold herausgegebene Buch "Foto-Auge" diente keineswegs als Katalog der Internationalen Ausstellung "Film und Foto" in Stuttgart 1928 (98) - es gab einen eigenen Katalog mit 977 Werknummern und 23 Abbildungen -, sondern war der Prototyp eines im Hinblick auf Einband, Typografie, Bild-Layout und Bindung völlig neuartig gestalteten 'Bilderbuchs'.
Die Klassifizierung der Fotobücher in neun Kapiteln ("Topography and Travel", "Facing Facts", "Photography as Art", "Photo Eye", "A Day in the Life", "Medium and Message", "Memory and Reconstruction", "The Indecisive Moment", "Provocative Materials for Thought") folgt nicht streng inhaltlichen, formalen, funktionalen oder theoretischen Kategorien, sondern verdankt sich einer in den Beständen der Geschichte und den fotohistorischen 'Catch-Words' frei schweifenden Fantasie. Fotografisch illustrierte naturwissenschaftliche Bücher in einer eigenen Gruppe zusammenzufassen, haben die Herausgeber nicht für sinnvoll erachtet, diese finden sich verstreut in den Kapiteln "Topography and Travel", "Facing Facts-The Nineteenth Century Photobook as Record" und "Photography as Art - The Pictorial Photobook". Bisweilen ist die Zuordnung der Werke zu den jeweiligen Klassen direkt irreführend. Was soll etwa Erich Mendelsohns Bildband "Amerika. Bilderbuch eines Architekten" von 1926, ein modernistisches Fotobuch par excellence, das der Weltanschauung des 'Amerikanismus' in Europa zum ersten Mal einen prägnanten fotografischen Ausdruck verliehen hat, in dem Kapitel "Photography as Art. The Pictorial Photobook", also in unmittelbarer Nachbarschaft zu den naturseligen Fotografien P. H. Emersons und T.F. Goodalls in "Life and Landscape on the Norfolk Broads" von 1886?
Die Verteilung stilprägender Bildbände der 20er- und 30er-Jahren auf die Gruppen "The Modernist Photobook", "The Documentary Photobook in the 1930s" und "The Photobook as Propaganda" erfolgt nach undurchschaubaren Prinzipien. So erfährt beispielsweise der Leser nicht, warum Albert Renger-Patzschs "Die Welt ist schön" und Walker Evans "American Photographs" im Kapitel "Das modernistische Fotobuch" und nicht in dem Kapitel "Das dokumentarische Fotobuch" figurieren. Auf unausgesprochene Weise wird durch diese Zuordnung den Bildbänden Renger-Patzschs und Evans' ihre zweifellos vorhandene dokumentarische Funktion abgesprochen. Umgekehrt werden Fotobildbände, die eindeutig dem modernistischen Fotostil verpflichtet sind, etwa Helmar Lerskis Porträtbuch "Köpfe des Alltags" und "Moi Vers Paris", das modernistische Fotoporträt einer Stadt par excellence, nicht in dem Kapitel "The Modernist Photobook", sondern in "The Documentary Photobook in the 1930s" vorgestellt. Hier erfolgte die Zuordnung offenbar aufgrund der Erscheinung der beiden Bücher im Jahr 1931. Wann und warum es den Herausgebern sinnvoll erschien, bei der Klassifikation funktionale ("dokumentarisch"), stilistische ("modernistisch") oder chronologische ("in the 1930s") Gesichtspunkte zu bevorzugen oder diese miteinander zu verschränken, bleibt ohne Erklärung. Erkenntnisfördernd ist dieses Ordnungssystem nicht. So findet man etwa Germaine Krulls fotografische Eloge auf den neuen Werkstoff "Métal" von 1928 im Kapitel "The Modernist Photobook", während das entsprechende Fotobuch von Albert Renger-Patzsch "Eisen und Stahl" in "The Documentary Photobook in the 1930s" auftaucht - auch hier war wohl das Erscheinungsjahr 1931 für die Klassifikation ausschlaggebend. In anderen Fällen nehmen die Herausgeber das Erscheinungsjahr nicht so wichtig, so im Falle von August Sanders "Antlitz der Zeit", zweifellos einem sozialdokumentarisch ausgerichteten Buch, das in dem Kapitel "The Documentary Photobook in the 1930s" besprochen wird, obwohl es bereits 1928 erschienen ist. Diese Bemerkungen mögen genügen, um den sprunghaften und unwissenschaftlichen Charakter der Werkklassifikationen in diesem Buch zu charakterisieren.
Parr und Badger kündigen im Klappentext und im Vorwort (5) den Entwurf einer neuen Fotogeschichte auf der Basis der Geschichte des Fotobuchs an. In den von Badger verfassten Kapiteleinleitungen findet sich davon allerdings keine Spur. Das Fotobuch wird als "portable exposition of a photographer's work" (11), "autonomous art form" (10) und visuelle Erzählform zwischen "novel und film" (6-7) charakterisiert, doch wird an keiner Stelle auch nur ansatzweise die Spezifität dieser aus fotografisch-visuellen, filmisch-sequentiellen und literarischen Elementen konstruierten Erzählung analysiert. Die Besonderheit der geistigen Räume, welche die Bilder und Texte zwischen den beiden Buchdeckeln erzeugen, wird nirgendwo deutlich. Eine historische Analyse des Fotobuchs hätte das besondere Verhältnis dieser "important form in its own right" (7) zu deren Vorgängerin und zeitweiligen Konkurrentin, dem grafisch illustrierten Buch zu klären, den Aufschwung des Fotobuchs in Beziehung zur Infragestellung der fortdauernden Aktualität des Gemäldes nach dem Ersten Weltkrieg sowie zu den fundamentalen Medienwechseln in der Geschichte der Bildwahrnehmungsgewohnheiten (Erfindung des Film und des Fernsehens, Aufkommen der Illustrierten) zu untersuchen und auf dieser Basis seinen Status innerhalb einer allgemeinen Wahrnehmungsgeschichte der Moderne zu definieren. Kein anderes fotografisches Medium ist besser als das Fotobuch geeignet, die Fotogeschichtsschreibung in Richtung Rezeptionsgeschichte zu lenken. War es doch meist Gegenstand zahlreicher, oft konträrer Rezensionen, welche die wichtigsten Quellen zur Rezeptionsgeschichte der Fotografie darstellen. Aber genau diese spielt in den Werkkommentaren Badgers in diesem Buch keine Rolle.
Es genügt, in diesem Zusammenhang den Eintrag zu Renger-Patzschs "Die Welt ist schön" von 1928 nachzulesen. Badger wiederholt in seinem Kommentar die Ablehnung dieses Buches durch die linksliberale Intelligenz der Weimarer Republik (Benjamin, Roh, Döblin) als ideologisch reaktionär, wobei er die antifortschrittliche Haltung mit "the book's sequencing, its gradual progression towards God" identifiziert (97). Dabei nimmt er nicht nur auf gegenteilige zeitgenössische Stimmen zu Renger-Patzschs Fotografie, etwa die Stellungnahmen Kurt Tucholskys und Thomas Manns keine Rücksicht, er ignoriert auch vollkommen die von der Forschung in den vergangenen drei Jahrzehnten herausgearbeitete enge Verbindung der Fotografie Renger-Patzschs mit der auf der Devise "Fortschritt durch Technik" basierenden Weltanschauung des 'Amerikanismus' und des 'weißen Sozialismus' sowie der Neuausrichtung der neusachlichen Fotoästhetik an den Grundsätzen der naturwissenschaftlichen Fotografie. An Stellen wie dem Kommentar zu "Die Welt ist schön" wird greifbar, dass die Texte in dem vorliegenden Band methodisch und inhaltlich hinter dem Stand der Forschung häufig weit zurückbleiben.
Badger formuliert das Ziel des vorliegenden Buches mit den Worten: "This study focuses on a specific kind of photobook and a particular breed of photobook producer. The photographer / author has been considered here as auteur (in the cinematic sense - the autonomous director, who creates the film according to his or her own artistic vision), and the photobook treated as an important form in its own right." (7). Hier wird eine Definition des Fotobuchproduzenten als gegeben vorausgesetzt, die in ihrer geschichtlichen Genese erst einmal zu untersuchen gewesen wäre. Badgers Definition besagt, dass das Fotobuch das alleinige Werk des Fotografen ist, und zwar eines Fotografen, der die uneingeschränkte Kontrolle über Form und Inhalt seines Produkts hat. Diese am historischen Material nicht überprüfte Vorannahme hat in der Fotogeschichtsschreibung wiederholt zu unkritischen, weil undifferenzierten Pauschalurteilen über wichtige Werke der Fotogeschichte geführt. Das Fotobuch ist jedoch nur in seltenen Fällen die Leistung eines Einzelnen, meist ist es das Ergebnis einer kollektiven ästhetischen Anstrengung. Trafen sich bei der Herstellung eines Fotobildbandes ein Fotograf, ein Schriftsteller, ein Typograf, ein Verleger, ein Drucker und ein Buchbinder, die gleichermaßen von dem neuen Ausdruckspotenzial des fotografischen Mediums fasziniert waren, konnte ein fesselnder geistiger Raum sui generis entstehen. Die Kollektivität der Produktionsstruktur dieser neuartigen Kunstform, bei der die Autonomie des Fotografen nicht selten durch die heteronomen ideologischen Beiträge des Textautors und die ökonomischen Entscheidungen der Verlegers eingeschränkt ist, hat Badger als historische Erkenntnisaufgabe nicht zur Kenntnis genommen.
"The Photobook: A History" (Band 1) eignet eher der Charakter eines 'coffee-table-books' als der einer historischen Studie. Zum Stand der Fotogeschichtswissenschaft trägt das Buch nichts Neues bei. Will man über das einzelne Fotobuch Genaues und Detailliertes erfahren, wird man sich an die jeweilige monografische Spezialliteratur wenden müssen. Die Geschichte des Fotobuchs als einer eigenständigen Form des bildkünstlerischen Ausdrucks bleibt auch nach dem Erscheinen dieses Buches weiterhin zu schreiben. Zu loben ist dieser Überblick für die Bildstrecken zum sowjetischen Fotobuch der 30er-Jahre (Kapitel 6) und zum japanischen Fotobuch der 60er- bis in die 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts (Kapitel 9), die in dieser Vielfalt bisher nirgends zu finden waren.
Herbert Molderings