Nils Freytag: Neuerscheinungen zur Geschichte des Deutschen Kaiserreiches (1871-1918). Einführung, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
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Von Nils Freytag
Die Anzahl von Neuerscheinungen in den letzten Monaten und Jahren lässt den Eindruck entstehen, dass die geschichtswissenschaftliche Aufmerksamkeit - die mediale im Jahr 2005 ohnehin - in überragender Weise Nationalsozialismus, Kriegsende und den Staatsgründungen nach 1945 gilt. Mit Blick auf das Deutsche Kaiserreich drängen sich nicht zuletzt deshalb Fragen auf: Warum ist der Stellenwert des kleindeutsch-preußischen Nationalstaates in der Mitte Europas bald 90 Jahre nach seinem blutigen Untergang im Ersten Weltkrieg in der öffentlichen Wahrnehmung gesunken? Stellen sich überhaupt noch aktuelle Orientierungsprobleme, deren Wurzeln in jene spannungsvolle Ära reichen? Oder sind die Anfänge von Interventions- und Sozialstaat, von hochindustrialisierter Arbeitswelt und Globalisierung, von organisiertem Antisemitismus und Radikalnationalismus endgültig historisiert?
Erinnert man sich an die teils verbissen und polemisch geführten Debatten um Kriegsschuld, Parlamentarisierung, Primat der Innenpolitik, persönliches Regiment oder den deutschen Sonderweg in die Moderne, dann scheint die Antwort klar: Diese über den engeren Horizont der Wissenschaft hinausreichenden Diskussionen um die Deutung und den Ort des Deutschen Kaiserreiches in der Geschichte sind ausgetragen. Der Rauch hat sich gelegt und ausgewogene Antworten sind gefunden. Diese Forschungskontroversen haben mittlerweile Studienbuchreife erlangt, wie Ewald Fries hier besprochener Band aus der Reihe 'Kontroversen um die Geschichte' nachdrücklich demonstriert. Denn die Kontrahenten jener Debatten sind abgetreten oder ruhiger geworden, die Meistererzählungen geschrieben und mittlerweile selbst Gegenstand historiographischer Analyse. [1]
Es ist nicht zu übersehen, dass die Bismarcksche Reichsgründung immer weniger als erratischer nationaler Sonderfall oder ausschließlich als Vorgeschichte des Nationalsozialismus in den Blick genommen wird, als vielmehr als eine Epoche intensiven und beschleunigten Wandels, an der sich jüngere Methoden und Fragestellungen des Faches erproben lassen. Auch wenn die gesellschaftspolitische Brisanz und Relevanz zweifelsfrei abgenommen haben, werden das Kaiserreich und seine Deutung nicht nur innerhalb der Geschichtswissenschaft dennoch gewiss umstritten bleiben. Denn blickt man nur auf die in diesem Forum versammelten neuen Publikationen, dann ist das Kaiserreich weiterhin kontrovers - nur auf anderen Ebenen. Dieses Konfliktpotenzial tritt auf vier Feldern in besonderer Weise hervor, die sich zugleich vorzüglich dazu eignen, Ergebnisse und Fragen altbewährter und innovativer Forschungsansätze gewinnbringend miteinander zu verbinden.
Erstens sind weiterhin erhebliche Erträge auf sozialgeschichtlichem Forschungsterrain zu erzielen. Das gilt in besonderer Weise für Fragen nach der Reichweite und den Grenzen "sozialmoralischer Milieus" (M. Rainer Lepsius), welche die Gesellschaft des Kaiserreichs in vielerlei Hinsicht segmentierten und polarisierten. So dokumentiert die Studie Michaela Bachem-Rehms durchaus bemerkenswerte Erfolge bei der katholischen Arbeiterbindung und Milieubildung im Ruhrgebiet, deren Tiefenwirkung freilich sowohl der polarisierende Kulturkampf als auch der um 1900 durchbrechende Gewerkschaftsstreit begrenzten. Eng verwandt mit diesem geradezu klassischen sozialgeschichtlichen Forschungsfeld ist die Analyse der Prozesse moderner Elitenbildung, die an die Adels- und Bürgertumsforschung der letzten Jahrzehnte anknüpft. Die hierzu zählende Untersuchung Wolfram G. Theilemanns über adelige Jagd, Waldbesitz und preußische Forstbeamte setzt zugleich einen - freilich ausbaufähigen - umweltgeschichtlichen Akzent. Und hierher gehört nicht zuletzt auch die geschlechtergeschichtliche Forschung, die in diesem Forum durch Christiane Pfanz-Sponagels Studie zur Frauenbewegung im Rhein-Neckar-Raum zwischen 1890 und 1933 repräsentiert wird. Sie spürt vor allem Kontinuitäten zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik auf regionaler Ebene nach und versucht damit, ein in der jüngeren Geschlechtergeschichte ausgemachtes Defizit zu beheben.
Zweitens ist zu denken an das Feld der augenblicklich viel diskutierten, so genannten transnationalen Geschichte, der sich mit Blick auf das Kaiserreich ein Sammelband von Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel verschrieben hat. Dieser Ansatz zielt in erster Linie ab auf alle die engeren Grenzen von Nationalstaaten überschreitenden Beziehungen und Wechselwirkungen, bettet mithin nationale Geschichte, staatliches wie wirtschaftliches Handeln in einen universalgeschichtlichen Zusammenhang ein. Dieses Ertrag versprechende Feld der transnationalen Geschichte birgt damit zugleich das Potenzial, mit dem Forschungsbereich der internationalen und Diplomatiegeschichte produktiv zusammenzuwirken. Das wird auch deutlich bei der Lektüre von Holger Afflerbachs Buch über den oft unterschätzten Dreibund zwischen dem Deutschen Reich, Österreich und Italien. Afflerbach betont im Unterschied zum vorherrschenden Forschungstrend der vergangenen Jahrzehnte die friedensbewahrenden Tendenzen eines stabilisierenden internationalen Systems vor 1914 und unterstreicht die Defizite in den kurzatmigen diplomatischen Aktionen der Jahre und Monate unmittelbar vor Kriegsausbruch. Auch wenn das mit guten Argumenten nicht unwidersprochen geblieben ist und auch forthin nicht bleiben wird, lenkt dies das Augenmerk insgesamt wieder stärker auf die spannungsvollen Wechselwirkungen von eskalierenden und deeskalierenden Momenten innerhalb des internationalen Mächtesystems und auf die kurzfristigeren Ursachen des Ersten Weltkrieges.
Das dritte hier anzuführende Feld ist das der neueren Mediengeschichte, die zugleich Grundeinsichten in den politischen Raum erlaubt. So knüpft die hier vorgestellte Studie von Martin Kohlrausch an eine klassische Debatte um die Entwicklungsperspektiven des Kaiserreiches an: die Frage des Wandels vom konstitutionell-monarchischen zum parlamentarischen Staatsgebilde, des möglichen evolutionären Übergangs von der Monarchie zur Demokratie. Die breite öffentliche Diskussion über die bekanntesten Skandale der Wilhelminischen Ära - von der Caligula-Affäre über den Eulenburgskandal bis hin zur Kaiserflucht 1918 - beschädigte nicht nur den Kaiser als Person dauerhaft, sondern sie führte auch zu einer Demokratisierung, ohne die konstitutionelle Monarchie an sich in Frage stellen zu müssen. Diese gewiss zu diskutierende Überlegung trifft sich mit der kürzlich entwickelten These, wonach die fortschreitende gesellschaftliche Fundamentalpolitisierung einer Parlamentarisierung geradezu entgegenwirkte, weil sie die Verwerfungen innerhalb der Wilhelminischen Epoche vertiefte. [2]
Viertens schließlich ist auf den Bereich der Kulturgeschichte hinzuweisen: Auf diesem Feld wird augenblicklich mit großem Aufwand eine wichtige Quelle mit den hier besprochenen, auf acht Bände angelegten Tagebüchern von Harry Graf Kessler ediert. Die beiden bisher vorliegenden Bände, welche die Jahre 1892 bis 1905 umspannen, eignen sich aufgrund ihrer Dichte nicht nur als vorzügliches Kompendium für die Kunst- und Ideensphäre jener Epoche, sondern sie sind desgleichen eine sozial- und kulturhistorische Fundgrube für die Scharnierzeit der Moderne. Das gilt ohne jede Einschränkung auch für Peter Sprengels zweibändige Geschichte des deutschsprachigen Literatur zwischen 1870 und 1918. Die dort einprägsam vorgestellten literarischen Werke belegen zudem nachdrücklich, dass Österreich und die Schweiz auch nach 1871 keinesfalls aus der deutschen Geschichte wegzudenken sind und eine nationalzentrierte Sicht auch kulturgeschichtlich völlig fehl am Platze ist. Und zu guter letzt fügt sich die so genannte neue Kulturgeschichte hier ein, die zugleich weiterführende politik- wie sozialgeschichtliche Perspektiven eröffnet. Das zeigt Corinna Treitels Analyse der okkulten Bewegung zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Dass sie jenen "occult underground" (James Webb) als bürgerliche Kernreaktion auf die Modernisierungserfahrung deutet, belegt einmal mehr die vielschichtige Widersprüchlichkeit jenes gesellschaftlichen Basisprozesses, der sich im Kaiserreich endgültig Bahn brach und dessen Auswirkungen in vielerlei Hinsicht auch heute noch greifbar sind. [3]
Anmerkungen:
[1] Vgl. Paul Nolte, Darstellungsweisen deutscher Geschichte. Erzählstrukturen und "master narratives" bei Nipperdey und Wehler, in: Christoph Conrad / Sebastian Conrad (Hg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, 236-268.
[2] Christoph Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung: Einflußgewinn und fehlende Herrschaftsfähigkeit des Reichstags im sich demokratisierenden Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), 623-666.
[3] Mit einem ausgeprägten kulturgeschichtlichen Akzent Paul Nolte, 1900: Das Ende des 19. Jahrhunderts und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), 281-300.