Florike Egmond / Robert Zwijnenberg (eds.): Bodily Extremities: Preoccupations with the Human Body in Early Modern European Culture, Aldershot: Ashgate 2003, IX + 235 S., 27 s/w-Abb., ISBN 978-0-7546-0726-7, GBP 45,00
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Der Band beschäftigt sich mit Extremfigurationen des menschlichen Körpers in der Frühen Neuzeit, mit Folter und Flagellation, Sektionen und Hinrichtungen, Deformationen und Schmerz. Dabei geht es um die kulturelle Verhandelbarkeit von Grenzen ebenso wie um die Historizität kultureller Blickweisen auf den menschlichen Körper. Die Herausgeber verweisen auf die Aktualität eines Diskurses körperlicher Extremität, betonen aber auch ausdrücklich, dass es problematisch sei, direkte Kontinuitäten zu erstellen. Ihnen geht es um eine historische beziehungsweise präziser, eine historistische Kulturanalyse, die nicht an Langzeitentwicklungen interessiert ist, sondern die beschriebenen Phänomene in ihrem jeweiligen unmittelbaren Umfeld kontextualisiert. Aber auch die Modi dieser Einbettung werden in Frage gestellt: Man könne, so die Herausgeber in der Einleitung, keine a priori geltenden Annahmen über die Verbindungen eines Kunstwerks und der Gesellschaft, in der es entstanden sei, treffen; auch die Klassifikationsmuster 'medizinisch', 'juristisch' oder 'künstlerisch' seien kulturelle Konstrukte. Aus diesem Grund bemühe sich der Band um Lesarten, die zum Beispiel körperliche Abweichungen nicht innerhalb normativer Kategorien betrachten, sondern sie jeweils neu verorten. Nur so könne man die Reduktionismen der textuellen Analysen vermeiden und frühneuzeitliche Körper als "living, acting and feeling subjects" (3) betrachten.
So viel Polemik wäre gar nicht nötig gewesen, denn erstens lässt ein Großteil der kulturhistorischen und semiotischen Analysen frühneuzeitlicher Körperlichkeit mitnichten den 'Körper selbst' außen vor, und zweitens tun die meisten Beiträge dieses Buches genau das: Sie präsentieren kulturhistorische beziehungsweise -semiotische Lesarten von Körperlichkeit in bestimmten extremen Konfigurationen; sie sprechen von Rhetorik und Ikonografie, von Bildlichkeiten und Textualisierungen. Das ist auch nicht weiter zu beklagen, denn der Wunsch, die Materialität des Körpers zu rehabilitieren ist gut gemeint, aber er scheitert spätestens dann, wenn die schiere Materialfülle der Mikrostudie die Möglichkeit unterläuft, zu abstrakteren Aussagen zu gelangen. Wie in allen Ansätzen der material culture studies scheint auch hier die Rede von der 'puren' Materialität den Wunsch nach einer 'Wahrheit' jenseits des Diskurses zu bezeichnen.
Gleich vier Beiträge beschäftigen sich mit dem Schnitt beziehungsweise dem Blick in den geöffneten Körper, mit den Praktiken und Metaphoriken der Anatomie. Im ersten Beitrag des Bandes untersucht Daniela Bohde Häutungsdarstellungen am Beispiel von Tizians Schindung des Marsyas im Vergleich mit anderen Repräsentationen desselben Motivs - vor allem mit Michelangelos Darstellung des gehäuteten Bartholomäus. Sie untersucht diese Motive im Licht der Debatten um die Aussagekraft des Blicks ins Körperinnere in der Anatomie. Dabei entdeckt sie wesentliche Unterschiede in den Vorgehensweisen von Michelangelo und Tizian, besonders hinsichtlich der Weise, wie die Parameter der frühneuzeitlichen Subjektivität, speziell die vermeintlich formative Spaltung von 'innerem' Wesenskern und 'äußerer' Hülle, hier verhandelt werden. Während Michelangelo durch die Wahl der Darstellungsmittel eine qualitative Unterscheidung von Innen und Außen postuliere und die Haut zum (trügerischen) Trennmedium erkläre, verweise Tizian in seiner Darstellung des gehäuteten Marsyas auf die Unmöglichkeit, ins Innere hineinzusehen. Indem er nämlich diesen Blick auf die Maltechnik verschiebe, präsentiere er - in einer meta-künstlerischen Wendung - nicht verbergende Tiefen, sondern geschichtete Oberflächen. Der Blick aber, der nur Lage um Lage auf Haut beziehungsweise Farbe trifft, verheißt keine Wahrheitsfindung.
In seinem Beitrag über Bilder des gemarterten Körpers im Neapel des 17. Jahrhunderts zeigt Harald Hendrix , dass es bei der überaus realistischen Darstellung von Folterszenen nicht um eine - wie auch immer zu definierende - Ästhetik des Horrors oder um mimetische Abbildungstreue geht, sondern dass es sich bei den inkriminierten Szenen, etwa der Schindung des Marsyas, um eine Herausstellung künstlerischer Fähigkeiten zur affektiven und Affekte auslösenden Darstellung von Extremsituationen handele.
In ihrem sehr ausführlichen Essay über die Relation von Exekution, anatomischer Sektion, Schmerz und Ehrverlust zeigt Florike Egmond, dass vor allem der mit der Fragmentierung des toten Körpers einhergehende Ehrverlust der Grund für die Ablehnung frühneuzeitlicher Sektionen war: Der Körper fungiere hier nur als Ort, nicht als Objekt des Schreckens. Darüber hinaus seien öffentliche Sektionen nicht dazu angetan gewesen, das medizinische Wissen zu vermehren; vielmehr demonstrierten sie öffentlich die Respektabilität der Medizin als Profession. Auch hier ging es um Fragen der Ehre und des Prestige; sie sind als zeremonielles Spektakel ebenso lesbar wie als kurioses 'Event'.
Paul J. Smiths Beitrag über die Anatomie von Quaresmeprenant in Rabelais zeigt, wie diskursive beziehungsweise rhetorische Muster aus Anatomie und Literatur ineinander greifen. Die Beschreibung der Körperteile der grotesken Figuren bei Rabelais folgt, so Smith, nicht der Reihenfolge der Sektion, sondern der einer anatomischen Beschreibung, wobei der Essay nur nahe legt, dass man diese subversiven Beschreibungstechniken auch als Kritik des Evidenzanspruchs der medizinischen Anatomie lesen kann.
Robert Zwijnenberg liest Leonardo da Vincis spätes Bild Johannes des Täufers als ein Selbstportrait, in dem es nicht um die Visualisierung körperlicher beziehungsweise physiognomischer Ähnlichkeit - mithin um Mimesis - gehe, sondern um einen Gestus der intellektuellen Selbststilisierung.
Um 'Fremd-Körper' geht es in zwei Essays. Peter Masons diskutiert die Frage, inwieweit es problematisch sein kann, vom 'Lesen' der Bilder, speziell von Körpern von Menschen aus der Neuen Welt zu sprechen. Deren textuelle und bildliche Darstellungen seien in der Dichotomie zwischen gegenwärtigem, weißem Selbst und vergangenem, nicht-weißem Anderen befangen, sie könnten keine befriedigenden Ergebnisse liefern. So weit, so bekannt. In seine Diskussion von europäischem Selbst und new world other führt Masons deshalb Nicolas Poussin als dritte Größe ein, die die Dialektik von Selbst und Anderem aufsprengen und somit weiter reichende Ergebnisse als die gegenwärtigen Theorieansätze liefern soll. Allerdings sind die Ergebnisse dieses Leseprozesses in der Ausführung dann eher dünn und sattsam bekannt: dass nämlich die Konquistadoren einer tautologischen Hermeneutik anhingen, die immer schon wusste, was sie in der Neuen Welt vorfinden würde: Fremdes, 'Primitives', 'Unzivilisiertes'.
José Pardo Tomás untersucht Fälle heimlicher Beschneidung unter jüdischen Konvertiten auf der iberischen Halbinsel vom späten 15. bis ins 18. Jahrhundert. Jede Abweichung am männlichen Genitale, so zeigt er, setzte den Träger dem Verdacht aus, beschnitten zu sein, ein Verdacht, der ihm Gefängnis und Folter einbringen konnte und daher öffentlich geklärt werden musste. In einem Klima der gegenseitigen Verdächtigung und im Rahmen einer Körpersemiotik, in der allein die Beschneidung als äußeres Zeichen der jüdischen Identität galt, führte das zuweilen zu skurrilen Situationen. Tomás kommt zu dem Schluss, dass "in one way or another, the fantasy of the absence or presence of that tiny little piece of skin on their genitals never left them" (193).
Im letzten Beitrag des Bandes untersucht Esther Cohen die Darstellung des Schmerzes im späten Mittelalter. Anders als unsere gegenwärtigen Vorstellungen vom Schmerz, die vor allem auf seine Vermeidung abzielen, zeigt sie Bereiche auf, in denen Schmerz völlig unterschiedlich aufgefasst und in unterschiedlichen diskursiven Rastern sinnvoll gemacht wurde. Während Schmerz als Strafe immer unehrenhaft sei, könne Schmerz zum Beispiel im Rahmen von Krieg, Martyrium oder Selbstkasteiungsritualen durchaus ehrenvoll und damit auch gewollt sein. Wenn Schmerz als Teil der Selbststiftung fungiere, sei ihn zu vermeiden nicht nur sinnlos; innerhalb einer Hermeneutik, die Schmerz immer nur im Licht seiner bestmöglichen Vermeidung betrachte, könne man diese Äußerungen auch gar nicht sinnvoll erfassen. Cohen hebt besonders die Fälle hervor, in denen geschlechtsspezifische Differenzierungen bedeutungsbildend sind, wie etwa beim Wehenschmerz, der - als biblische Strafe für den Sündenfall - als unehrenhaft gelte, sowie im Verhalten weiblicher Mystikerinnen, deren Stigmatisierungen als eine der wenigen performativen Selbstäußerungen von Frauen angesehen werden können.
Insgesamt bietet der Band einen gelungenen Einblick in die extremeren Ausprägungen der Beschäftigung mit Körperlichkeit in der Frühen Neuzeit.
Susanne Scholz