Hans Ehlert / Matthias Rogg (Hgg.): Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse, Perspektiven (= Militärgeschichte der DDR; Bd. 8), Berlin: Ch. Links Verlag 2004, X + 752 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-86153-329-0, EUR 34,80
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Die Erforschung der militärischen Aspekte der DDR-Geschichte hat vor allem dank der Anstrengungen des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) seit 1990 erhebliche Fortschritte gemacht. Auch der von zwei MGFA-Mitarbeitern herausgegebene Sammelband zu "Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR", der die Ergebnisse einer Tagung vom März 2003 beinhaltet, bildet einen weiteren Mosaikstein zu einer modernen Militärgeschichte der DDR. Er stellt vor allem eine Bestandsaufnahme dar, versucht in Einzelfällen jedoch auch, Forschungsperspektiven zu skizzieren. Die Anlage ist sehr breit: Zum einen geht es um die Einbettung der Geschichte der NVA in die nahe liegenden größeren Zusammenhänge - die Blockbildung und den Kalten Krieg sowie die von der SED beherrschte "Sicherheitsarchitektur" der DDR - und zum anderen um die Stellung des Militärs zwischen SED und Gesellschaft.
Der zeitliche Rahmen des Bandes erstreckt sich, so die Herausgeber, von den Anfängen der DDR bis zum Wiedervereinigungsprozess. Der Schwerpunkt der meisten Artikel, die im Titel ohne zeitliche Einschränkung auskommen, liegt indes auf den Siebziger- und Achtzigerjahren. Das breite Themenspektrum, das so unterschiedliche Gebiete wie die internationale Politik, die Rüstungsindustrie, das Verhältnis des Militärs zu SED, MfS und Kirchen, den militärischen Alltag und die NVA im Film umfasst, zeigt zwar in beeindruckender Weise, dass "moderne Militärgeschichte" sich nicht mit einer reinen Entwicklungsgeschichte der Teilstreitkräfte in der DDR begnügen darf. Dabei besteht indes die Gefahr, dass die harten Fakten einer Geschichte der NVA und der Volksmarine zu kurz kommen. Wenngleich das MGFA bereits an anderer Stelle entsprechende Überblicksskizzen geliefert hat [1], wären auch in diesem Band ein paar Angaben zum Wachstum und zur Ausdifferenzierung der DDR-Streitkräfte im Verlauf ihrer vierzigjährigen Geschichte wünschenswert gewesen. Die Beiträge haben teilweise einen bilanzierenden, den Forschungsstand reflektierenden Charakter; daneben finden sich Artikel aus der "Werkstatt" der Forschung, oft zu Spezialthemen, die zahlreiche neue Informationen enthalten.
Dies wird bereits bei der ersten Sektion deutlich. Sowohl Wilfried Loth als auch Hope Harrison bieten ihre bekannten Sichtweisen auf die Geschichte des Kalten Krieges beziehungsweise auf die sowjetisch-ostdeutschen Beziehungen zwischen 1953 und der zweiten Berlin-Krise. Demgegenüber betritt Christopher Winkler mit seinem Beitrag zur NVA aus der Perspektive der westlichen Militärmissionen Neuland, wenngleich diese sich weniger für die ostdeutschen als für die in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte interessierten. Auch Christoph Bluths Äußerungen zur Perzeption der NATO-Strategie durch den Warschauer Pakt in den Achtzigerjahren sind sehr aufschlussreich. Er verweist vor allem auf einen sowjetischen Strategiewechsel 1985, nach dem nicht mehr die Angriffs-, sondern die Verteidigungsoperationen Priorität besaßen. Umso mehr sorgten sich die sowjetischen Militärplaner angesichts der wachsenden technologischen Überlegenheit des Westens.
Unter der Überschrift "Sicherheitsarchitektur und Streitkräfte" werden etwas heterogene Beiträge zum Nationalen Verteidigungsrat und dessen Vorgängerorganisation (Armin Wagner), zur Ausstattung der NVA mit Kernwaffen in der ersten Hälfte der Sechzigerjahre (Matthias Uhl), zur Rüstungsindustrie der DDR (Rainer Karlsch), zum Selbstverständnis der sowjetischen Soldaten in der DDR (Kurt Arlt) und zu den Beziehungen zwischen DDR-Streitkräften und ostdeutscher Bevölkerung (Silke Satjukow) zusammengefasst. Auf einer sehr dünnen Quellengrundlage vertritt Arlt die Auffassung, dass die Offiziere der "Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland" der DDR mehrheitlich mit Misstrauen begegneten, die Generalität hingegen sich der DDR und der NVA weit überlegen fühlte. Sehr viel fundierter sind die Ausführungen Satjukows, die konkret benennen, wo sowjetisches Militär auf die ostdeutsche Zivilbevölkerung traf. Ihre Schlussfolgerung, dass sich das Bild der sowjetischen Soldaten in der DDR-Bevölkerung nach vier Jahrzehnten geändert habe, trifft sicher zu. Doch sie sollte sich nicht mit der vagen Feststellung begnügen, dass es eine "einfache Erzählung über die fremden Freunde" (243) nicht geben wird, sondern weiter nach differenzierteren Antworten suchen.
Inwieweit die SED das Militär durchdrang und letzteres ein Instrument der Herrschaftssicherung der Staatspartei war, wird vor allem von Torsten Diedrich und Daniel Giese analysiert. Diedrich wendet sich dem "militarisierten Sozialismus" in der DDR zu und legt dar, dass die NVA ein wesentliches Instrument der Machtabsicherung der SED nach innen war. Letzteres war jedoch nur möglich, wenn die SED in den Streitkräften ihre führende Rolle durchsetzte und behauptete. Das Konfliktpotenzial zwischen politischem Anspruch und militärischer Professionalität thematisiert Giese, dessen These lautet, dass sich daraus letztlich ein permanenter Gegensatz ergab. Diese These wird indes durch seine abschließenden Betrachtungen etwas relativiert, denen zufolge die politische Beeinflussung sich vor allem in den Fünfzigerjahren negativ auf die militärischen Entscheidungsprozesse ausgewirkt habe; im Schatten der Mauer habe die SED jedoch ihre extensiven politischen Interventionen reduziert, die Einsatzbereitschaft der NVA sei erheblich gesteigert worden, und die Siebziger- und Achtzigerjahre seien durch einen weiteren Professionalisierungsprozess gekennzeichnet gewesen.
Den Versuchen, Staat und Gesellschaft in der DDR auf den verschiedensten Ebenen zu militarisieren, gehen Clemens Heitmann, Johannes Raschka und Corey Ross nach. Heitmann schreibt dazu die fiktive Kollektivbiografie einer Familie, in der die quasi-militärischen Anforderungen an den Durchschnittsbürger vor allem im Bereich der Zivilverteidigung und des Luftschutzes thematisiert werden. Raschka untersucht - wie bereits in seiner Dissertation -, wie mit dem 3. Strafrechtsänderungsgesetz von 1979 die Strafrechtsprechung in die Lage versetzt werden sollte, auch im Krisenfall "Ordnung und Disziplin" aufrechtzuerhalten. Ross widmet sich den enormen Problemen der DDR bei der Soldatenwerbung in den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren. Vor diesem Hintergrund überraschte es auch die DDR-Führung, dass die überwiegende Mehrheit der 1962 eingeführten Wehrpflicht ohne Aufschrei nachkam. Aber von nun an handelte es sich beim Dienst in der NVA nicht mehr um eine pro forma "freie" Entscheidung, sondern um eine Pflicht, die man zwar nicht mit Begeisterung, aber aus Pragmatismus erfüllte. Günther Glaser fragt anhand militärsoziologischer Untersuchungen der DDR, inwieweit die vorgegebenen Feindbilder von den NVA-Angehörigen akzeptiert wurden. Dabei berücksichtigt er die Befragungssituation zu wenig, sodass die überlieferten, von Glaser übernommenen Untersuchungsergebnisse so nicht zutreffen können. Fest steht indes, dass zwischen dem dekretierten Feindbild und der tatsächlichen Einstellung der Soldaten ein riesiger Unterschied bestand.
Besonders lesenswert sind die Beiträge zu Lebenswelt und militärischem Alltag in der NVA. Neben dem Überblicksartikel von Rüdiger Wenzke zum "Innenleben" der Armee, der auf die Diskrepanz zwischen dem Ideal der sozialistischen Soldatenpersönlichkeit und der erlebten Wirklichkeit der Armeeangehörigen verweist, sind hier vor allem die Ausführungen von Matthias Rogg und Christian Müller zu nennen. Während Rogg sich mit der (Un-)Vereinbarkeit von Familie, Freizeit und Beruf bei den Berufssoldaten befasst, geht es Müller um das Phänomen der "EK-Bewegung". "EK" stand für "Entlassungskandidat" und bezeichnete einen Wehrdienstleistenden in seinem letzten Diensthalbjahr. Aus der Anzahl der noch abzuleistenden Tage ergab sich eine informelle Hierarchie: Je kleiner die "Tageszahl", desto höher war die Position. Bei der "EK-Bewegung" handelte es sich letztlich um eine Hackordnung, in der insbesondere die Soldaten des ersten Diensthalbjahres erheblichem psychischen und physischen Druck vonseiten der "EK" ausgesetzt waren. Diese Hierarchie stellte zwar eine Bedrohung für die militärische Formalstruktur dar, wurde aber teilweise von den Unteroffizieren auf Zeit und den Berufssoldaten "zur Disziplinierung der jüngeren Wehrpflichtigen und Zeitsoldaten instrumentalisiert" (574). Vor allem im Anschluss an Rogg und Müller stellt sich die Frage, inwieweit es sich dabei um DDR-spezifische Phänomene handelte. Gewiss, die Forderung (und weitgehende Erfüllung) einer Gefechtsbereitschaft von 85 Prozent war, gemessen etwa an der Bundeswehr, außergewöhnlich hoch und bedeutete "eine fast permanente Verfügbarkeit aller Armeeangehörigen" (Rogg, 588). Gleichwohl müsste hier sehr viel genauer auseinander gehalten werden, was DDR-spezifisch und was militärspezifisch war. Dazu böten sich vergleichende Studien etwa zu Bundeswehr und NVA an.
Jedoch ist, wie nicht zuletzt dieser Band zeigt, der Forschungsstand zur Geschichte der NVA sehr viel weiter fortgeschritten als der zur Bundeswehr. Notwendig wäre daher eine weitgehende Entsperrung der Akten des Bundesverteidigungsminsteriums, um, 50 Jahre nach Gründung der Bundeswehr, Historikern nicht nur im MGFA die archivalisch gestützte Erforschung der Geschichte der westdeutschen Streitkräfte zu ermöglichen. Denn nur auf dieser Grundlage sind solche deutsch-deutschen Vergleiche durchführbar.
Anmerkung:
[1] Vergleiche die Beiträge von Hans Ehlert zur Hauptverwaltung für Ausbildung, von Torsten Diedrich zur Kasernierten Volkspolizei und Rüdiger Wenzke zur Nationalen Volksarmee in: Torsten Diedrich/Hans Ehler/Rüdiger Wenzke (Hg.), Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 1998, 253-280, 339-369, 423-535.
Hermann Wentker