Hans Schlosser / Rolf Sprandel / Dietmar Willoweit (Hgg.): Herrschaftliches Strafen seit dem Hochmittelalter. Formen und Entwicklungsstufen (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen; Bd. 5), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, 438 S., ISBN 978-3-412-08601-5, EUR 49,90
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Die Strafrechtsgeschichte sowie die daraus erwachsene Kriminalitätsgeschichte haben in den letzten zehn Jahren als Forschungsgegenstand der mittelalterlichen wie der frühneuzeitlichen Geschichte einen großen Zuspruch gefunden. Die Anknüpfungsmöglichkeiten an andere zentrale Forschungsfelder, wie die Konfessionalisierungsdebatte oder die Geschlechtergeschichte bis hin zur Historischen Anthropologie, haben diese Konjunktur entscheidend mitgetragen. Mit den zahlreichen Arbeiten zur Funktionsweise der vormodernen Justiz sowie zum Verhältnis von sozialer Kontrolle und gerichtlicher Sanktionierung kann die ältere normenzentrierte Strafrechtstheorie als überwunden gelten. [1] Der Großteil dieser Arbeiten wurde aus einem historischen Blickwinkel geschrieben, bei denen die Verfahrensfragen im Hintergrund blieben. Umso wichtiger erscheint daher der im vorliegenden Sammelband realisierte interdisziplinäre Ansatz zwischen Rechtshistorikern und Historikern.
Er stellt die jüngste Veröffentlichung der Ergebnisse aus dem von der DFG geförderten Schwerpunktprogramm "Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts" dar und dokumentiert die Ergebnisse der Arbeitsgespräche in Würzburg 1997 und in Fürstenfeldbruck 1998 zu den Themenbereichen "Verfahrenseinleitung, Verfahrensstruktur und Sanktion" unter der Leitung von Rolf Sprandel beziehungsweise "Die herrschaftliche Zentralisierung des Strafrechts" unter dem Vorsitz von Hans Schlosser.
Die einzelnen Beiträge orientieren sich konsequent an den Fragestellungen des Projekts [2] nach den historischen Rahmenbedingungen bei der Genese der modernen Strafgerichtsbarkeit. Sie belegen in unterschiedlichster Weise das noch lange Zeit existente Nebeneinander vom alten Täter-Opfer-Ausgleich in Sühnevereinbarungen und dem frühstaatlichen Strafrecht. Damit wird die ältere Vorstellung - das Strafrecht habe sich monokausal aus der Land- und Stadtfriedenspolitik entwickelt - durch ein facettenreiches multikausales Modell abgelöst. Entsprechend dem Gesamtkonzept, das die Durchsetzung des staatlichen Strafmonopols und damit das Ende des mittelalterlichen Strafrechts erst in der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert sieht, behandeln die Beiträge auch hier den Zeitraum vom Hochmittelalter bis ins 16. Jahrhundert und überschreiten damit die klassische Epochengrenze von 1500.
Die Gliederung des Bandes ist zunächst chronologisch aufgebaut, indem die hochmittelalterlichen Landfrieden und Stadtrechte am Anfang stehen, danach die spätmittelalterlichen Territorien betrachtet werden und zuletzt das Strafgerichtswesen in Landesherrschaften und Städten des 16. Jahrhunderts fokussiert wird. Erst mit dem letzten Kapitel wird dieses Ordnungsschema durch den Blick auf die kirchenrechtliche und theologische Reflexion durchbrochen.
In einem Großteil der Texte werden die Vorüberlegungen des Projekts aufgegriffen und weiter ausdifferenziert: So gab es parallel verschiedene, akzeptierte Regelungsmodi (Stefanie Jansen, Barbara Frenz), und der öffentliche Strafanspruch setzte sich erst ganz allmählich gegen private Regelungsmechanismen durch. Die von Sven Korzilius geschilderte Bedeutung des älteren Schiedswesens zeigt etwa, dass hierüber Konflikte effektiv und durchaus mit politischer Rationalität beigelegt werden konnten. Elmar Wadle belegt in seiner Untersuchung der Texte der deutschen Gottes- und Landfriedensbewegung vom ausgehenden 11. Jahrhundert bis zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235, dass die dort bereits angedrohten peinlichen Strafen keinen unbedingten Geltungsanspruch besaßen und somit das Fehderecht des Tatopfers noch nicht einschränkten.
Im gemeinsamen Beitrag von Günter Jerouschek und Andreas Blauert wird ersichtlich, wie die Funktion der Urfehde sich vom Einigungsschwur zum Unterwerfungseid und damit von einem Instrument des Ausgleichs zu einem Mittel der obrigkeitlichen Sanktion wandelte. Die Durchsetzung des Strafanspruchs im städtischen Raum wird am Beispiel Nürnbergs (Andrea Bendlage und Ulrich Henselmeyer) exemplifiziert, mit einer interessanten Fokussierung auf die veränderte Rolle der Stadtknechte: Mit der Durchsetzung des obrigkeitlichen Strafanspruchs wurde die Funktion der Stadtdiener nicht nur entsprechend ausgebaut, sondern die damit entstandene Kluft zwischen Rat und Gemeinde machte die Knechte schließlich zu Opfern von Ausgrenzungstendenzen - als Sinnbild für eine als Unrecht empfundene Sanktionspolitik. Am reichen Quellenmaterial der Augsburger Stadtgeschichte demonstriert Hans Schlosser mit Blick auf die Behandlung von Wiederholungstätern das Festhalten an überkommenen, lokalen Verfahrenswegen: Obwohl die Carolina von 1532 beispielsweise den Rückfalldiebstahl in mehreren Artikeln kodifiziert hatte, orientierte sich das reichsstädtische Strafrecht daran nicht - auch dies ist ein beredtes Beispiel für die im Gesamtkonzept anvisierte Komplexität der Rechtstraditionen.
Einen sachlichen Zusammenhang mehrerer Beiträge stellt die Frage nach der religiösen Motivation sowie einer spezifischen Theologie des Strafrechts dar, ohne dass dies in der Konzeption des Bandes explizit wird: Friederike Neumann untersucht dabei das Verhältnis zwischen der kirchlichen Sendgerichtsbarkeit und der weltlichen Gerichtsbarkeit, und Dietmar Willoweit verfolgt in diesem Zusammenhang die Expansion des Strafrechts in den Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Die Vorreiterfunktion strafrechtlichen Denkens in Kirche und Theologie beleuchten auch Daniela Müller und Frank Grunert aus einer anderen, nun wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive. Eine weitere Vergleichsebene - die leider ebenfalls nicht explizit thematisiert, aber durch die Beiträge gegeben ist - bilden die Analysen von Melanie Hägermann und Dietmar Willoweit sowie partiell auch von Christiane Birr, die sich mit ländlichen Rechtsquellen beschäftigen und damit ganz andere Rahmenbedingungen für die Durchsetzung des staatlichen Strafmonopols in den Blick nehmen als die übrigen stadtgeschichtlichen beziehungsweise territorialgeschichtlichen Arbeiten.
Unabhängig von der übergeordneten Fragestellung liefern besonders die Beiträge von Dietmar Willoweit zur Rechtsfigur des 'Richtens nach Gnade' und von Norbert Schnitzler zu Strafverfahren gegen Juden Einblicke in noch wenig bearbeitete Phänomene. So kommt Willoweit zu dem Schluss, dass das Richten nach freiem Ermessen - im Gegensatz zum 'Richten nach Recht' in erster Linie dem Schutz der Rechtssphäre und damit des Herrschaftsanspruchs des Grundherren diente. Und wenn man wie Schnitzler das öffentliche Strafverfahren als symbolisch überhöhten Zusammenhang begreift, wird die weite Verbreitung ehrenrühriger Sanktionsmaßnahmen gegen einzelne Juden im spätmittelalterlichen Europa zu einer umfassenden Stigmatisierung der gesamten Judenschaft.
Insgesamt zeigen sich der thematische Facettenreichtum, die Methodenvielfalt sowie das weite Quellenspektrum, die sich bei diesem Forschungsfeld eröffnen: Dabei werden nicht nur die klassischen Gerichtsakten herangezogen, sondern etwa auch die Grafschaftschronistik als "subjektive Perspektive" genutzt (Helge Blanke). Der Band gibt zweifelsohne nicht nur einen profunden Einblick in die Thematik, sondern dokumentiert auch die Ergiebigkeit des langjährigen Forschungsprojekts und der dort verfolgten Fragestellung.
Anmerkungen:
[1] Andreas Blauert / Gerd Schwerhoff (Hg.): Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne (= Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven; Bd. 1), Konstanz 2000.
[2] Dietmar Willoweit: Programm eines Forschungsprojekts, in: ders. (Hg.): Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Bestandsaufnahme eines europäischen Forschungsproblems (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas; Bd. 1), Köln / Weimar / Wien 1999, 1-12.
Sabine Ullmann