Norbert Welsch / Claus Liebmann: Farben. Natur, Technik, Kunst, 2. Aufl., Amsterdam: Elsevier 2003, 434 S., 200 farbige Abb., ISBN 978-3-8274-1563-9, EUR 59,95
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"Farbe" ist das interdisziplinäre Thema par excellence - andererseits aber auch derart komplex, dass es kaum jemandem gelingen dürfte, alle Forschungsbereiche gleichermaßen gründlich zu überblicken. Ein Handbuch zum Thema wäre nur als Gemeinschaftswerk denkbar, dem sorgfältigste Redaktion zur Kohärenz verhelfen müsste.
Das anzuzeigende Werk hebt sich durch Umfang, Ausstattung, umfassenden Anspruch - und den Mut seiner Verfasser - von allen neueren deutschsprachigen Publikationen zum Thema ab. Schon nach weniger als einem Jahr erscheint es in zweiter Auflage sowie als verbilligte Sonderausgabe. Es steht bereits in zahlreichen Bibliotheken als Standardwerk.
In vier großen Kapiteln versuchen die Autoren, den verschiedenen Aspekten gerecht zu werden: Das erste widmet sich den Farben in Kunst, Kultur und Religion und stellt Farbordnungssysteme vor. Das zweite behandelt natürliche wie synthetische farbgebende Substanzen, das dritte die Psychophysik des Farbensehens, das vierte schließlich die physikalischen Aspekte sowie wissenschaftliche und technische Anwendungen.
Das Werk ist eine Kompilation, was an sich nichts Schlechtes ist. Jedoch scheint das Kompilierte unterschiedlich gut verstanden und verarbeitet worden zu sein: während das Buch etwa von berufener wahrnehmungspsychologischer Seite gelobt worden ist, mag es den kunstgeschichtlich und -technologisch Interessierten enttäuschen. Weit entfernt vom allumfassenden Farbverständnis, möchte ich mich vor allem diesen Aspekten widmen.
Die Auswahlkriterien für die einzelnen Themenbereiche bleiben oft undurchsichtig: Warum werden Länderflaggen ausführlich behandelt, aber Kleiderordnung und Mode nur beiläufig? Wieso finden sich Abschnitte wie "Kaseinfarbe" oder "Aufbau von Dispersionslacken", während Bindemittel ansonsten kein Thema sind? Dem universalen Anspruch steht auch die Auswahl der Farbtöne entgegen, denen jeweils ein eigener Abschnitt gewidmet ist: die ersten Plätze besetzen Rot, Grün, Blau (RGB) und Gelb, Cyan und Magenta (CMY) - ausgerechnet die Farben, von denen heute viele Bildschirm- und Grafikdesigner glauben, es ließen sich alle anderen Farbtöne daraus mischen. Eine Veranschaulichung der Grenzen, die beiden Modellen etwa im CIE-Farbraum jedoch tatsächlich gesteckt sind, fehlt - obschon die Autoren in völlig anderem Zusammenhang darauf hinweisen (232).
Große Unsicherheit verbreiten die Autoren hinsichtlich der grundsätzlichen Unterscheidung aller Farbmittel in Farbstoffe und Pigmente: Trotz korrekter Definitionen (41, 58) werden natürliche Pigmente als "Naturfarbstoffe" bezeichnet (11), ebenso wie für Fresken keine Farbstoffe (43), sondern grundsätzlich Pigmente verwendet wurden; das Fuchsin hingegen ist ein künstlicher Farbstoff und gewiss nicht die "erste synthetische Pigmentfarbe aus Anilin" (84), mit Pigmenten können nicht nur "nicht alle Natur- und Kunstfasern" eingefärbt werden (142), sondern gar keine, in manchen Passagen konzentrieren sich solche Widersprüche auf engstem Raum (152f.). Anlässlich der natürlichen Ocker ist immer wieder von "Eisenhydroxiden" die Rede (11, 58, 90, 190), die in der Natur nicht vorkommen und nicht die farbgebenden Eigenschaften der - wie es richtig heißen müsste - Eisenoxidhydroxide aufweisen.
Es finden sich kryptische Sätze wie dieser: "Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Farbigkeit von Bildern durch das Angebot von vielfältigen, malfertig angebotenen Zinkfarben begünstigt." (47) Seit Mitte des Jahrhunderts verbreitet sich nur eine Zinkfarbe: Zinkweiß. Oder ist es eine Anspielung auf die Zinntuben, in denen die Farben nun "malfertig" angeboten wurden? Gerade im kunsthistorischen Teil häufen sich die Widersinnigkeiten: Wieso dominiert bei Rembrandt, der extrem selten Blau verwendete, der Farbklang "Blau-Rot-Gelb" (46)? Und kennzeichnet tatsächlich den Symbolismus, dass hier "den Objekten [...] die Schatten" fehlen (49)? Ist Max Klinger, eben noch "Symbolist" genannt (49), dem Jugendstil zuzurechnen - und Picasso dem Expressionismus (50)? Später wird gar der Pointillismus zu einer "Spielart des Expressionismus" (108) gemacht. Gibt es abstrakte Gemälde erst "ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts" - und malte Roy Lichtenstein "Comic-Plakate" (51)? - Von den Impressionisten heißt es, sie versuchten "die primären Spektralfarben in ihren Bildern einzufangen, wie sie [...] in der Natur auftreten" (48) - nur finden sich da höchst selten Spektralfarben, sondern hauptsächlich Körperfarben, wie sie auch nur den Malern - in Gestalt ihrer Farbmittel - zur Verfügung stehen. - Sprachliche Nachlässigkeiten deuten auf grundsätzliches Unverständnis: da ist von "kurzzeitig aufflackernden Malstilen" (47) die Rede, von "Freilandmalerei" (48) und "Sessionsstil" (49). Am Ende fragt man sich, ob dieser Parcours durch die Kunstgeschichte, mit dem jeder Student durch die Prüfung gefallen wäre, überhaupt nötig gewesen wäre.
Auch die anschließenden Passagen über Farbmittel amalgamieren Richtiges mit Falschem: So sollen Brauntöne "bis ins 17. Jahrhundert" lediglich durch Mischungen dargestellt worden sein (92), dem schon die jahrtausendealte Verwendung von bräunlichen Erden widerspricht. Unter den "natürlichen Pigmenten" (152) sind fälschlicherweise "Pflanzenfarbstoffe" aufgeführt, während wichtige Vertreter wie Ultramarin, Zinnober, Azurit und Malachit fehlen: in der Natur vorkommende Mineralpigmente, weshalb letztere auch nicht samt und sonders unter die "künstlichen Pigmente" gerechnet werden können (152f.). Dass Bleiweiß "zugesetzt zu Ölfarben verhindert [...] dass die Farben rissig werden und abblättern" (103) ist ebenso unsinnig wie die Behauptung, Schweinfurter Grün sei eine "Mischung aus Kupferspänen und Arsen" (64) oder Auripigment ein "Schwermetallpigment" (153).
Auch im Abschnitt über Farbsysteme setzen sich die Ungereimtheiten fort: So sind weit mehr als nur 60 davon bekannt (115), die Unterscheidung von additiver und subtraktiver Farbmischung wurde zuerst von Helmholtz, nicht von Hering getroffen (116), und auf diesen, nicht auf Munsell geht auch die Definition der Farbeigenschaften Farbton, Helligkeit, Sättigung (ebd.) zurück. Kontakte Goethes mit Novalis sind hinsichtlich der Farbenlehre nicht bekannt (125) und deren Beeinflussung durch Runge (127) ist zwar oft behauptet worden, aber kaum zu belegen. Die Angaben zu Personen sind oft falsch oder unvollständig - während Cheuvreul kein Philosoph war (47), hätte die Bezeichnung Lambert (116) sehr wohl angestanden und Maxwell starb nicht schon als frühreifes Genie, wie die falsche Angabe der Lebensdaten ("1831-1849", ebd.) nahe legt. Andere wichtige Namen finden sich zwar im Text, aber nicht im Register (so Brücke, Zeki, Minsky, Land), als "Herman William Vogel" mutiert der Pionier der Farbfotografie schließlich zum Angelsachsen. Erwin Schrödinger wiederum, dem die Farbtheorie soviel verdankt, taucht lediglich als Schöpfer der berühmten quantenmechanischen Gleichung auf, wohingegen sein Name im Glossar unter dem von ihm eingeführten Begriff der "Optimalfarben" (394) fehlt.
Und schließlich das Glossar selbst - wer sich hier Aufklärung erhofft, wird wiederum enttäuscht. Stellvertretend für zahlreiche Beispiele sei die Definition der "Pastellfarben" zitiert: "Pastellkreiden sind für den Künstlerbedarf gefertigte Malmittel, die allerdings im Widerspruch zu ihrem Namen auch in kräftigen Farben verfügbar sind." (397) Ein Widerspruch ergibt sich aber nur für die Autoren, denen entgangen ist, dass der Name vom italienischen "pasta" herrührt und die umgangssprachlichen "Pastellfarben" lediglich von der aufgehellten Palette der Pastellstifte abgeleitet sind, die ihre Ursache in dem hohen Anteil an weißen Füllstoffen hat - und nicht umgekehrt.
Die Autoren pflegen eine bedauerliche Abstinenz von jeglichen Quellenverweisen (die unter einer Internetadresse angeführten Literaturangaben bieten nur schwachen Ersatz, da sie auf Angabe der Seitenzahlen verzichten). Auch das Literaturverzeichnis spart grundlegende Werke aus und führt dagegen zahlreiche Lexikonartikel an - ergänzt durch den Hinweis auf über 600 Internetquellen.
Das vorliegende Buch ist somit nicht das Kompendium zum Thema "Farbe", als das es sich ausgibt. Es mag in anderen Teilen richtig und kohärent sein - die hier besprochenen Abschnitte erweisen es jedoch als weitgehend untauglich auf kunsthistorischem, kunsttechnologischem und teilweise auch farbtheoretischen Gebiet. Auch die allgemeineren kulturgeschichtlichen Abschnitte erscheinen in ihrer willkürlichen Auswahl von Phänomenen beliebig, anderes - wie die Verweise auf Astrologie und Farbtherapie - als läppisch oder banal. Der offenkundige Erfolg lässt sich vielleicht aus dem großen Bedürfnis nach einem umfassenden Grundlagenwerk erklären, von dem dieses Buch freilich nur den Anschein hat.
Albrecht Pohlmann