Dieter Pohl: Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933-1945 (= Geschichte kompakt), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, 167 S., ISBN 978-3-534-15158-5, EUR 14,90
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Der Wissensstand zu den in der NS-Zeit begangenen Verbrechen hat sich in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren enorm erweitert. Es ist daher keine leichte Aufgabe, dieses Thema überblicksartig aufzubereiten, wie es das Anliegen der Reihe "Geschichte kompakt" der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erfordert, die strukturierte und gut lesbare Darstellungen zentraler Themen der deutschen und europäischen Geschichte als Grundlage für den Oberstufenunterricht und für das Studium Lehrenden und Lernenden gleichermaßen zur Verfügung stellen will.
Dieter Pohl gelingt eine komprimierte Darstellung, die sich in den einzelnen Teilkapiteln nicht in Details verliert, sondern einen gelungenen Überblick komplexer Zusammenhänge liefert. Ihre zentralen Begriffe findet sie in der staatlichen Gewaltkriminalität und einer umfassend verstandenen Verfolgung, deren extremste Form der Massenmord ist. Abgegrenzt werden diese beiden Begriffe von der "Diskriminierung" und dem "Terror", wobei Letzterer in erster Linie auf die Einschüchterung von Opfergruppen zielt. Was den zeitlichen Zuschnitt betrifft, so umfasst das Buch zwar die gesamte NS-Zeit, legt seinen Schwerpunkt jedoch auf die Jahre des Zweiten Weltkrieges und besonders auf die Zeit nach 1941, als Verfolgung immer häufiger Massenmord bedeutete.
Entsprechend beginnt die Darstellung mit den Verfolgungen im Reich ab 1933, wobei der Autor aufzeigt, dass die Grundstrukturen für extreme Gewalt in der zweiten Hälfte der 30er-Jahre bereits vorgezeichnet waren und sich das Zusammenspiel zwischen Führung und "Initiativen von unten" bereits erkennen ließ. Zwar war das NS-Regime durch Rivalitäten und Kompetenzüberschneidungen bei den Apparaten gekennzeichnet, im Hinblick auf die Verbrechen kann man aber einen rassistischen und imperialistischen Konsens konstatieren.
Die Struktur der weiteren Darlegung folgt im Wesentlichen den Verbrechen an bestimmten Gruppen sowie jenen in speziellen Kontexten. Zu den thematisierten Gruppen gehören etwa die Behinderten und Kranken oder die Kriegsgefangenen. Allein unter den sowjetischen Kriegsgefangenen gab es etwa drei Millionen Opfer, die entweder als Kommissare der Roten Armee unmittelbar bei ihrer Gefangennahme ermordet wurden oder in der Gefangenschaft durch systematische Unterversorgung zu Tode kamen. Das umfangreichste Kapitel ist in diesem Zusammenhang dem Mord an den europäischen Juden gewidmet; ein weiteres beschäftigt sich mit dem Mord an Sinti und Roma. Über diesen Völkermord, dessen Erforschung erst verhältnismäßig spät begann, existiert bis heute kein endgültiges Bild, doch ist von einer Gesamtzahl von mehreren hunderttausend Todesopfern und tausenden Zwangssterilisierungen auszugehen. Das Kapitel zum Mord an den europäischen Juden bietet in seiner konzisen Form den gegenwärtig wohl besten Überblick über den Holocaust.
Zu den angesprochenen Kontexten gehören etwa die Besatzungsverbrechen, aber auch die Verbrechen im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Widerstandes. Beide Arten waren durch ihren rassistischen Hintergrund gekennzeichnet, denn Angehörige des NS-Regimes und der überwiegende Teil der traditionellen Eliten stimmten darin überein, dass vor allem im Osten Europas eine grundsätzliche Umgestaltung anzustreben war, die unter dem Schlagwort "ethnische Flurbereinigung" firmierte. Wenn auch die monströsen Planungen des "Generalplans Ost" (beziehungsweise des späteren Generalsiedlungsplans) mit seinen 30 bis 50 Millionen avisierten Toten nicht realisiert wurden, so waren doch allein in Polen von den Mordaktionen an der polnischen Intelligenz und von den verordneten Umsiedlungen mehr als eine Million Menschen betroffen. Weitere hunderttausende kamen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion bei so genannten Anti-Partisanenunternehmen um oder als deutsche Stellen ab dem Jahre 1943 dazu übergingen, ganze Landstriche zu entvölkern. In den Kontext der Besatzungsverbrechen gehört im Übrigen auch die Rekrutierung von Millionen ausländischen Arbeitern für das Reich, wobei von der Forschung lange Zeit nicht gesehen worden ist, dass es sich angesichts der 15 Millionen Betroffenen um eine der größten Zwangsmigrationen in der Geschichte handelt.
Diese Struktur aus Opfergruppen und Verfolgungskontexten wird durch ein Kapitel unterbrochen, das sich mit der "weltanschaulichen Exekutive" befasst, das heißt den Instanzen der Verfolgung. Der Verfasser beschränkt sich dabei nicht auf Himmlers SS- und Polizei-Imperium, sondern diskutiert auch die Rolle der NSDAP, der Verwaltung und der Wehrmacht. Verortet werden die NS-Verbrechen in einem "radikalisierten Glauben an die Ungleichwertigkeit von Menschen" (3), der seinen Ausdruck im Rassismus, Antisemitismus, Antislawismus und Antikommunismus fand sowie im extremen Nationalismus, der diese Ideologeme häufig bündelte.
Die Abhandlung beschließen Kapitel zu den diversen Lagern für Zivilisten sowie zu den Verbrechen zu Kriegsende. Obwohl die Konzentrationslager zum Symbol der nationalsozialistischen Verfolgungen geworden sind und lange Zeit als jener Ort galten, an dem die Mehrzahl der Verbrechen verübt wurde, stellten sie nur einen Teil der Haftstätten dar. Im Reich gab es daneben etwa noch reguläre Gefängnisse, Arbeitserziehungslager, die "Zigeunerlager", so genannte Jugendschutzlager und Feldstraflager der Wehrmacht. Viele dieser Haftanstalten gingen auf regionale oder lokale Initiativen zurück. Das NS-Regime überzog jedoch nicht nur das Reich, sondern ganz Europa mit einem Netz an Lagern, das an Dichte selbst den stalinistischen Gulag übertraf.
Da die Reihe sich auch als Handreichung für den Schulunterricht versteht, verzichtet die Darstellung auf einen wissenschaftlichen Apparat, verfügt dafür jedoch im Anhang über eine kommentierte Auswahlbibliografie. Ferner leiten Zeittafeln die einzelnen Kapitel ein, auch finden sich Erklärungen zu bestimmten Begriffen, von der "Schutzhaft" über den "Bromberger Blutsonntag" bis zu "Pseudomedizinische[n] Versuche[n] in Konzentrationslagern", sowie Kurzbiografien. In die Darlegung eingebunden sind außerdem Quellenbeispiele, etwa Auszüge aus dem Reichsbürgergesetz, aus Befehlen des Oberkommandos der Wehrmacht zu Massenerschießungen oder die Niederschrift der so genannten Wannsee-Konferenz.
Insgesamt handelt es sich somit um die gut strukturierte und kompakte Darstellung eines komplexen Themas. Ohne nachträglich einer Aufblähung das Wort zu reden, sollen zwei Punkte dennoch Erwähnung finden: Das Buch konzentriert sich auf die Täterseite; eine Synthese der Opfer bleibt Desiderat, was bedauerlich ist. Der andere Aspekte betrifft die verbündeten Staaten, die eher schematisch abgehandelt werden. Hier hat die jüngere Forschung zeigen können, dass die antijüdische Politik dieser Regime durchaus auch von autochthonen Interessen bestimmt war, und dass sie bei allen Bindungen an das Deutsche Reich über nicht unbeträchtliche Handlungsspielräume verfügten, sodass man sich eine stärkere Berücksichtigung dieser Aspekte gewünscht hätte.
Tatjana Tönsmeyer