Eva Maria Seng: Stadt - Idee und Planung. Neue Ansätze im Städtebau des 16. und 17. Jahrhunderts (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 108), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2003, 319 S., 124 Abb., ISBN 978-3-422-06411-9, EUR 55,00
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In der wissenschaftlichen Erforschung und Darstellung des Städtebaus im deutschsprachigen Raum klafft eine auffällige zeitliche Lücke in bezug auf die Untersuchungsgegenstände. Während es zur Entstehung und Genese früh- und hochmittelalterlicher Städte zahlreiche Darstellungen und manchmal auch sehr kontroverse Diskussionen gibt [1], wandert der Blick des Forschers auf die Stadt der Frühen Neuzeit in der Regel nach einem kurzen Verweilen bei Dürers Idealstadtentwürfen (1527) und der Anlage von Freudenstadt (1599) direkt zu den Planstädten der Barockzeit. Wie zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert mit dem Phänomen Stadt baulich umgegangen worden ist, ist in der Regel nur kurzen und verstreuten Einzeluntersuchungen zu entnehmen. Was in dieser vermeintlichen Zwischenzeit nicht schon einen geometrischen Rastergrundriss vorweisen konnte, scheint der älteren Forschung tief schürfenderer Beschäftigung nicht für würdig befunden worden zu sein. Diese schmerzliche Lücke zu schließen hat sich in mutiger und dankenswerter Weise Eva-Maria Seng mit ihrer im Jahre 2000 abgeschlossenen Hallenser Habilitationsschrift vorgenommen, die nun in einem reich und sorgfältig bebilderten Band vorliegt.
Seng beschränkt sich nicht auf die Analyse baulicher Phänomene, sondern versucht sich den Maßnahmen über die Rekonstruierung ihres kultur- und ideengeschichtlichen Kontextes zu nähern. Ein beträchtlicher Teil der Arbeit ist deshalb zunächst Themen wie "Präsentation der Städte" (19), "Vermessen" (43), "Polizeiordnungen" (55) oder der "Position der Baumeister" (109) gewidmet. Dies ist wichtig, da so nachgeholt wird, was fast alle älteren Untersuchungen zu dem Thema vernachlässigt haben, nämlich die komplexen Prozesse urbanistischen Handelns in möglichst vielen Determinanten zu erfassen und nicht die idealisierten Vorstellungen einer posthumen Epochenstil- oder Zeitgeistkonstruktion als Maßstab zu verwenden. Leider fehlt jedoch eine ausführlichere Erläuterung, was unter "Idee und Planung" oder "Neue Ansätze" (jeweils im Buchtitel) im Städtebau im Rahmen der Untersuchung konkret verstanden werden soll.
Die Arbeit verzichtet in Titel und Untertitel auf eine geografische Präzisierung, sodass man das Buch zunächst im unklaren über die Reichweite der Untersuchung zur Hand nimmt. Bald wird jedoch deutlich, dass vor allem der deutsche und speziell der mitteldeutsche Raum das empirische Material für Mikroanalysen städtebaulicher Rahmenbedingungen und Maßnahmen geliefert hat, während als geistesgeschichtlicher Horizont Theoriediskurse aus verschiedenen Regionen Europas herangezogen werden (der ursprüngliche Projekttitel lautete: Städtebauliche Maßnahmen vom 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts im heutigen Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen).
Zunächst überrascht die Tatsache, dass sich Eva-Maria Seng dem Phänomen des mitteleuropäischen Städtebaus fast ausschließlich aus der Perspektive des Territorialstaates nähert. Ob es sich um bildliche Repräsentationen von Städten in den fürstlichen Wunderkammern und Schlössern des 16. Jahrhunderts oder um die Anfänge der deutschen Landesvermessung handelt, immer tauchen Städte quasi nur im Plural auf. Auf eine Einzelanalyse der hochinteressanten bayerischen Städtemodelle wird beispielsweise verzichtet (29), auf Vermessungskampagnen einer Einzelstadt, wie sie zum Beispiel für Wien oder Köln bereits im 16. Jahrhundert vorgenommen wurden, wird nicht eingegangen. Diese Beobachtung lässt sich generalisieren: Die Analyse von (exemplarischen) Einzelobjekten bleibt in vielen Fällen hinter dem Möglichen und Wünschenswerten zurück.
In folgenden Kapiteln weitet sich die Perspektive der Betrachtung noch einmal, wenn die Vorstellungswelt der idealen Stadt seit dem 15. Jahrhundert als Folie für die deutschen Maßnahmen referiert wird. Interessant und wertvoll für weitere Untersuchungen sind die Erkenntnisse zu den Bauordnungen. Schade ist es jedoch, dass trotz programmatischer Äußerungen der Autorin nicht detaillierter auf weitere Bereiche des praktischen "Alltags" (15) europäischer Urbanistik seit dem 15. Jahrhundert eingegangen wird. Es entsteht so der etwas einseitige Eindruck, als seien vor allem theoretische und bürokratische Einflüsse für das Ablaufen der deutschen Projekte verantwortlich gewesen, kaum aber die Erfahrung mit tatsächlichen Stadtneugründungen, Erweiterungen oder Umbauten. Überhaupt neigt die Arbeit trotz ihres akribischen Studiums der Verwaltungsstrukturen dazu, die Kategorie der empirischen Erfahrung als Fundament einzelner Maßnahmen zu Gunsten des Theoriediskurses zu vernachlässigen.
Nach dieser Reise also in weite Bereiche europäischer Geistes- und Verwaltungsgeschichte in den Anfangskapiteln wird der Leser in die - oft recht ernüchternde - Wirklichkeit der mitteldeutschen Städte geführt. Hier muss leider angemerkt werden, dass die Gründe für die Auswahl gerade dieses Untersuchungsmaterials sich dem Leser auch bei fortgesetzter Lektüre nicht ganz erschließen. Es ist zwar nachzuvollziehen, dass nicht in jeder Sachquelle zum Stadtumbau in Mitteldeutschland eine explizite Referenz zu den theoretischen Werken von Vitruv, Filarete oder auch nur Rivius und Specklin erwartet werden kann. Trotzdem ist die Darstellung der urbanistischen Maßnahmen in dem kleinen Untersuchungsgebiet sehr knapp ausgefallen. Das für die Gestalt einer beträchtlichen Anzahl deutscher Städte überaus folgenreiche Thema des neuzeitlichen Festungsbaus wird beispielsweise nur gestreift, nicht aber in seiner komplizierten Verbindung von Waffentechnik, traditionellem Bauwesen, theoretisch geschulten Beratern, Besitzverhältnissen und Finanzressourcen an den gewählten Beispielen analysiert. Im Bereich des Rathausbaus des 16. Jahrhunderts etwa fehlt die Verbindung zum 15. Jahrhundert, geradezu einer Blütezeit kommunaler Selbstdarstellung im Medium der Architektur; auch werden die möglichen Gründe für die Formenwahl nur selten thematisiert. Fast entsteht der Eindruck, als seien in einem politisch so sensiblen Bereich persönliche ästhetische Vorlieben der Baumeister oder eine allgemeine Geschmacksentwicklung die wichtigsten Motoren der Formenwahl gewesen.
Alles in allem dürfte das Buch den anspruchsvollen Leser deshalb etwas enttäuschen. Dieses wird nicht zuletzt durch die Eigenart begünstigt, Überschriften nicht genau mit dem Inhalt von Kapiteln und Abschnitten in Übereinstimmung zu bringen. Die letzte Baumaßnahme in der Reihe behandelter mitteldeutscher Städte, der Wiederaufbau von Altendresden, fällt beispielsweise bereits weitgehend in das 18. Jahrhundert, das man durch den Buchtitel ausgeschlossen wähnt. Der Rezensent ist sich bewusst, auch anhand eigener Erfahrung, dass es als eine schon fast eingebürgerte Unart von Verlagen gelten kann, durch bewusst weit greifende Buchtitel innerhalb eines möglichst großen Käuferkreises Relevanzhoffnungen in bezug auf die jeweiligen Leseinteressen zu wecken. Ob dieses Prinzip allerdings auch im Rahmen des Inhaltsverzeichnisses gewichtige positive Effekte zeitigen kann, muss stark bezweifelt werden.
Es stellt sich am Ende die Frage, für welchen Leserkreis das Buch geeignet ist. Der Spezialist wird viel Quellenmaterial und wertvolle Anregungen zu weiterer Forschung finden, sich aber gleichzeitig vielleicht wünschen, manches näher ausgeführt zu finden. Der Generalist sollte vielleicht eher zu einer wirklich den europäischen Horizont beleuchtenden Darstellung greifen. Dem Buch ist zu wünschen, dass es später einmal als wichtiger Anstoß zu einer neubelebten interdisziplinären Beschäftigung mit dem Thema der Urbanistik in Deutschland am Beginn der Neuzeit gelten kann.
Anmerkung:
[1] Anlass zu weitläufigen Kontroversen bietet beispielsweise die Untersuchung: Humpert, Klaus; Schenk, Martin: Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung. Das Ende vom Mythos der "gewachsenen Stadt". Stuttgart 2001.
Stephan Hoppe