Markus Krzoska: Für ein Polen an Oder und Ostsee. Zygmunt Wojciechowski (1900-1955) als Historiker und Publizist (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; Bd. 8), Osnabrück: fibre Verlag 2003, 482 S., ISBN 978-3-929759-49-5, EUR 35,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Verglichen mit der seit einigen Jahren recht intensiv, durchaus vielseitig und ausgesprochen kontrovers diskutierten Geschichte der deutschen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem östlichen Mitteleuropa, der sogenannten "Ostforschung", steckt die Erforschung der analogen Phänomene in den Ländern Ostmitteleuropas selbst in vieler Hinsicht noch in den Kinderschuhen. Ansätze zu einer kritischen wissenschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung der modernen geschichtswissenschaftlichen, geografischen, volkskundlichen oder archäologischen Beschäftigung mit dem östlichen Mitteleuropa beziehungsweise mit der deutsch-ostmitteleuropäischen Berührungszone sowie zu einer differenzierten Analyse ihrer vielfältigen außerwissenschaftlichen Instrumentalisierung sind aber auch hier allerorten zu beobachten. Am fortgeschrittensten dürfte der Forschungsstand dabei für Polen sein, für das sowohl aus polnischer wie deutscher Feder jüngst eine Reihe weiterführender Studien vorgelegt worden ist. [1] Auf deutscher Seite haben bislang vor allem Jörg Hackmann und Markus Krzoska wichtige neuere Beiträge zur Auseinandersetzung mit der sogenannten "polnischen Westforschung" geleistet. Ihnen hat letzterer nun mit seiner Berliner Dissertation eine grundlegende Arbeit hinzugefügt.
Angesichts des noch wenig entwickelten Forschungsstandes erscheint es nahe liegend, das Thema einstweilen exemplarisch anzugehen, dazu den konkreten Untersuchungsgegenstand einzugrenzen und zunächst einmal am Beispiel eines überschaubaren Zusammenhanges zu behandeln. Mit seiner biografisch angelegten Studie über den Historiker und Geschichtspolitiker Zygmunt Wojciechowski hat Krzoska dafür einen geeigneten Zugang gefunden. Der 1900 in Ostgalizien geborene Sohn eines Lemberger Gymnasiallehrers und späteren Literaturprofessors war zweifellos eine der zentralen Persönlichkeiten des polnischen geisteswissenschaftlichen und geschichtspolitischen Milieus der Zwischenkriegs-, Okkupations- und Nachkriegzeit. Er kann zu Recht als eine 'paradigmatische' Gestalt betrachtet werden, deren Leben und Werk stellvertretend für eine ganze Generation stand. Beides ausführlich zu analysieren und zu kontextualisieren, verspricht mithin weiterführende Einsichten auch zu den Grundfragen der wissenschafts- und erinnerungsgeschichtlichen Entwicklung der "polnischen Westforschung". Krzoska beschränkt sich freilich in hohem Maße auf eine geistes- beziehungsweise ideengeschichtliche Analyse des historiographischen und publizistischen Werkes seines Protagonisten. So erfährt der Leser vergleichsweise wenig über den lebensweltlichen, sozialen, mentalen und alltagspolitischen Kontext' in dem Wojciechowski groß wurde, in dem er sich entfaltete; wenig darüber, wie er sich zu seinen äußeren Lebensumständen verhielt, wie diese ihn geprägt, im Laufe der Zeit mit ihren Wandlungen verändert oder unbeeindruckt gelassen haben. So sind weniger "Leben und Werk" als vielmehr nur das Werk und seine Einordnung in den innerpolnischen Diskurs Gegenstand der Darstellung. Das ist bedauerlich und mit dem Krzoska teilweise verwehrten Zugang zu den überlieferten Quellen nur bedingt erklärbar; während einer zehnjährigen Bearbeitungszeit hätten die wichtigsten der einschlägigen Gelehrtennachlässe, wie sie in Warschau, Krakau und Posen leicht zugänglich sind und die zahlreiche Briefe Wojciechowskis enthalten, sowie die einschlägigen Akten der staatlichen Archive jedenfalls noch etwas intensiver ausgeschöpft werden können.
Dennoch, auch in der Beschränkung auf publizierte Quellen, das heißt im Wesentlichen auf die Veröffentlichungen Wojciechowskis, für die Krzoska erstmals eine umfassende (wenn auch wohl nicht vollständige) Bibliografie zusammengestellt hat, vermag die Arbeit ein eindrucksvolles, aufschlussreiches Bild von dem Wissenschaftler und Publizisten Wojciechowski und damit von der von ihm verkörperten "polnischen Westforschung" zu zeichnen. Krzoskas Stärke liegt dabei eindeutig bei der historiographiegeschichtlichen Einordnung der Schriften seines "Helden", weniger in der politikgeschichtlichen Einbettung, geschweige denn einer sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Kontextualisierung. Folgerichtig bietet der Verfasser zunächst allgemeine Überblicke über die polnische Historiographie vor 1918 (Kapitel 2), die polnische Historiographie der Zweiten Republik (Kapitel 3) sowie Kurzporträts von acht polnischen Historikern beziehungsweise Publizisten, die er als "Wojciechowskis Vorbilder" bezeichnet (Kapitel 4), ehe er im Kernstück der Arbeit eine eingehende Analyse des geschichtswissenschaftlichen Werkes liefert (Kapitel 5 und 6). Dabei wird insbesondere Wojciechowskis Beschäftigung mit den Anfängen des polnischen Staates, mit der Verfassungsgeschichte des mittelalterlichen Polen, mit dem Jagiellonenkönig Zygmunt Stary, mit dem Niedergang der 'Rzeczpospolita' und den Teilungen Polens, mit der pommerschen, preußischen und schlesischen Landesgeschichte und schließlich mit dem Konzept der "ziemie macierzyste", der für die Propagierung des "polnischen Westgedankens" (polska myśl zachodnia) so bedeutsamen Idee von den polnischen "Mutterländern", dargestellt. In gesonderten Kapiteln behandelt Krzoska "Wojciechowskis publizistisches Engagement" (Kapitel 7), sein Wirken im polnischen Untergrund während der deutschen Besatzung (Kapitel 8) sowie "Wojciechowski im kommunistischen Polen" (Kapitel 9).
Das Bild, das der Autor auf diese Weise von seinem 'paradigmatischen' "Helden" entwirft und in einer Zusammenfassung konzise auf den Punkt bringt (Kapitel 10), weist bei allen Besonderheiten, die ihm auf Grund des polnischen Kontextes naturgemäß eigen sind, in erstaunlich hohem Maße Züge auf, die sich in ganz ähnlicher Weise auch für deutsche "Ostforscher" - und, so ist zu vermuten, für viele andere zeitgenössische Kulturwissenschaftler europäischer Länder - konstatieren lassen. Zygmunt Wojciechowski war eine kommunikationsfreudige, charismatische Persönlichkeit, ein "Macher", der den autoritären Habitus des "Mandarin" mit dem Pflichtgefühl verband, seine geistige und politische Existenz ganz und gar dem Wohl seiner Nation zu widmen. Er war Wissenschaftler, Lehrer, Popularisator, Manager, Publizist und Politiker in einer Person, zuerst und zuletzt aber Historiker, der seiner Nation mit den geschichtspolitischen Instrumenten seines Handwerks den Weg aus einer nationalpolitisch bedrängten Gegenwart in eine lichte Zukunft bahnen wollte. Die zentrale Kategorie seines Denkens und Wirkens war die polnische Nation. Ihr wurden letztlich - ungeachtet eines formalen Festhaltens an der hergebrachten historistisch-idiographischen Methodik und ihrem Objektivitätspostulat - auch die Kategorien und Zugänge der Geschichtswissenschaft untergeordnet. Dem lag ein Wissenschaftsverständnis zu Grunde, das keinen Widerspruch darin sah, für sich in Anspruch zu nehmen, methodisch saubere, 'objektive' Forschung zu betreiben und mit dieser gleichzeitig den nationalpolitischen Zielen des eigenen Volkes zu dienen. Dieses unreflektierte Wissenschaftsverständnis teilte Wojciechowski nicht nur mit deutschen "Ostforschern", und auch die erstaunliche Persistenz seines nationalpolitischen Denkens, das bei allen äußeren Brüchen (Weggang aus Lemberg, Abkehr von den politischen Zielen Dmowskis, Hinwendung zu den Kommunisten) im Kern unverändert geblieben ist, erscheint als ein Zug, der ihn mit vielen zeitgenössischen Intellektuellen verband, deren Anpassungsfähigkeit an wechselnde Regime vielleicht in höherem Maße aus einer inneren Haltung des Sich-Selbst-Treu-Bleibens erwachsen ist, als bisher wahrgenommen. Vergleichende, transnationale Studien, die an solchen Beobachtungen ansetzen, dürften interessante Ergebnisse versprechen. Krzoskas biografische Studie zu Wojciechowski bietet auch dafür einen materialreichen, unverzichtbaren Baustein.
Anmerkung:
[1] Etwa Zbigniew Mazur: Antenaci. O politycznym rodowodzie Instytitutu Zachodniego, Poznań 2002, sowie die einschlägigen Beiträge in Jan M. Piskorski u.a. (Hg.): Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich, Osnabrück, Poznań 2002.
Eduard Mühle