Maria Teresa Giusti: I prigionieri italiani in Russia, Bologna: il Mulino 2003, 332 S., ISBN 978-88-15-09552-7, EUR 21,00
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Dass Hitlers Krieg in der Sowjetunion zumindest bis 1943 auch Mussolinis Krieg gewesen ist, hat man hier zu Lande weitgehend vergessen. Lediglich wenn Veteranen die einst verlorenen Schlachten in Memoiren oder Leserbriefen nachträglich zu gewinnen suchen, ist von den Soldaten der 8. italienischen Armee die Rede, der wie den verbündeten Armeen Ungarns und Rumäniens gemeinhin die Schuld am Zusammenbruch der Heeresgruppe B und dem Untergang der 6. Armee in Stalingrad zugeschoben wird. In Italien dagegen hat sich das militärische Abenteuer des faschistischen Diktators auf dem sowjetischen Kriegsschauplatz tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Allerdings ist die private wie die öffentliche Erinnerung an die "Campagna di Russia" höchst einseitig. Während in Deutschland seit mehr als zehn Jahren Problemkomplexe wie Besatzungspolitik und Kriegsverbrechen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gerückt sind, ist die Diskussion in Italien nach wie vor auf einen Punkt fixiert: auf die militärische Katastrophe der rund 230.000 Mann starken 8. Armee, die im Dezember 1942 und im Januar 1943 von der Roten Armee in zwei Offensiven zerschlagen wurde, auf den dramatischen Rückzug im russischen Winter und auf das Schicksal derer, denen es nicht gelang, die eigenen Linien zu erreichen, sondern die den schweren Gang in die Kriegsgefangenschaft antreten mussten.
Wie um das Ende der 6. deutschen Armee ranken sich um den Untergang der 8. italienischen Armee zählebige Helden- und Opfermythen. Kaum ein Superlativ, kaum ein historischer Vergleich, der nicht schon herangezogen worden wäre, um das militärische Debakel in tröstend-sinnstiftende Worte zu kleiden: von einem an die Leiden Christi erinnernden Opfergang, ja von einem Kreuzweg war (und ist) ebenso die Rede wie von einer Odyssee und einer Anabasis; schon früh verstiegen sich Augenzeugen und Kommentatoren sogar dazu, die Katastrophe der 8. Armee als "olocausto" zu bezeichnen.
Dass diese mythische Überhöhung eines militärischen Desasters zum beherrschenden Muster kollektiver Erinnerung werden konnte, hat viele Ursachen. Am Anfang stand jedoch zweifellos eine quantitative Bilanz des Schreckens. Bis heute liegen keine genauen Zahlen darüber vor, wie viele italienische Soldaten im Kampf gefallen, während des Rückzugs umgekommen oder in Gefangenschaft geraten sind. Sicher ist nur, dass rund 95.000 Mann fehlten, als die Reste der 8. Armee von März bis Mai 1943 nach Italien verlegt wurden. Von diesen dürften rund 70.000 in Kriegsgefangenschaft geraten sein, die jedoch für viele erschreckend kurz war. Rund 22.000 Man kamen gar nicht erst in den Lagern an; sie verloren ihr Leben bereits auf den eisigen Pisten der russischen Steppe oder während der Eisenbahntransporte. 38.000 italienische Kriegsgefangene starben in den Lagern - die meisten von ihnen noch in den ersten Monaten des Jahres 1943. Lediglich 10.032 ehemalige Soldaten der 8. Armee sahen Italien wieder, wobei die letzten Kriegsgefangenen erst 1954 entlassen wurden.
In Italien weigerte man sich lange Zeit zu glauben, dass 60.000 Männer die sowjetische Kriegsgefangenschaft nicht überlebt hatten, und klammerte sich an jeden Hoffnung verheißenden Strohhalm. Dann wurde die Frage der Kriegsgefangenen - der lebenden wie der toten - zu einer scharfen Waffe, die sich im Kalten Krieg sowohl gegen die Sowjetunion als auch gegen die Kommunistische Partei Italiens instrumentalisieren ließ, zumal führende italienische Kommunisten im sowjetischen Exil mit der antifaschistischen Umerziehung ihrer gefangenen Landsleute betraut worden waren. Lange Zeit beherrschten also politische Polemiken und die Erinnerungen der Heimkehrer das Feld, während es der Geschichtswissenschaft nur ansatzweise gelang, dieses Terrain zu besetzen, zumal ihr die Akten in den Archiven der Sowjetunion bis 1990 weitestgehend verschlossen geblieben sind.
Der Historikerin Maria Teresa Giusti von der Università dell'Aquila ist mit ihrer Studie nun das Kunststück gelungen, nicht nur die Forschung durch eine solide, aus bislang unbekannten Quellen gearbeitete Darstellung ein gutes Stück voranzubringen, sondern auch einen Verkaufserfolg beim interessierten Publikum zu landen. Ihre Untersuchung basiert vor allem auf Dokumenten aus Archiven in Moskau und Rom, wobei den Beständen der für Kriegsgefangenenfragen zuständigen Abteilung des NKWD eine besondere Bedeutung zukommt. Das in fünf Kapitel gegliederte und um einen Dokumentenanhang (14 Dokumente überwiegend sowjetischer Provenienz) ergänzte Buch zerfällt in zwei große Teile. Zunächst beschreibt die Autorin die Umstände der Gefangennahme und den Weg in die Lager sowie die Grundzüge des sowjetischen Kriegsgefangenenwesens, um dann die Lebensverhältnisse und die sozialen Beziehungen in den Lagern in den Blick zu nehmen. Dabei legt sie besonderen Wert darauf, dass die erschreckend hohe Mortalität unter den italienischen Gefangenen nicht etwa auf entsprechende politische Entscheidungen, sondern vor allem auf ein komplexes Konglomerat an Fehlorganisation, Desinteresse und Korruption zurückzuführen ist - vom schlechten Allgemeinzustand vieler italienischer Soldaten gar nicht zu reden. Das zweite große Thema des Buches ist die antifaschistische Propaganda unter den Kriegsgefangenen und die Rolle, die so prominente italienische Kommunisten wie Palmiro Togliatti oder Paolo Robotti dabei spielten. Dieser Punkt ist - auch in der tagespolitischen Auseinandersetzung - noch immer heikel, da immer wieder der Vorwurf erhoben wird, die italienischen Kommunisten im sowjetischen Exil hätten ihre Landsleute im Stich gelassen und deren Leid politisch ausgeschlachtet, anstatt ihr Los nach Kräften zu erleichtern. Maria Teresa Giusti, die Organisation und Ziele der antifaschistischen Propaganda und ihre wichtigsten Instrumente (antifaschistische Schulungskurse und die Kriegsgefangenenzeitung "L'Alba") vorstellt, weicht diesem Thema nicht aus, ist aber um ein ausgewogenes Urteil ohne Polemik bemüht. Das letzte Kapitel der Studie ist der Heimkehr der Kriegsgefangenen gewidmet, die bereits 1946 weitgehend abgeschlossen war, mit Ausnahme einer Handvoll Soldaten, die aus verschiedenen Gründen weiter in Haft gehalten wurden, etwa als Prestigeobjekte (Generäle und hohe Offiziere) oder als verurteilte Kriegsverbrecher.
Dieser Aspekt, und damit sind wir bei den Schwächen des Buches, bleibt jedoch erstaunlich blass. Man hätte gerne mehr darüber gewusst, welche Vorwürfe die sowjetische Seite im einzelnen erhoben hat und wie fundiert diese gewesen sind. Damit hätte sich auch eine Verbindung vom eigentlichen Thema des Buches zur Geschichte von Mussolinis Krieg in der Sowjetunion herstellen lassen, die über das kurze Einleitungskapitel zur "Tragödie" der 8. Armee hinausgegangen wäre, das neben vielen gängigen Klischees auch eine Reihe ärgerlicher Sachfehler enthält. Weiterhin wäre es interessant gewesen, nach dem Verhältnis von deutschen und italienischen Kriegsgefangenen zu fragen; allerdings muss man überhaupt sagen, dass die Autorin die Gelegenheit, ihre Ergebnisse mit denen deutscher Kollegen zu konfrontieren, nahezu vollständig ungenutzt gelassen hat. Der dritte Kritikpunkt, der angesprochen werden muss, betrifft die Quellenauswertung. Maria Teresa Giusti hat lange in den Archiven Moskaus recherchiert und dabei viel Neues zu Tage gefördert. Warum sie jedoch darauf verzichtet hat, die reiche Überlieferung des italienischen Außenministeriums zu nutzen, ist nur schwer verständlich, wären diese Bestände doch die ideale Ergänzung zu den sowjetischen Dokumenten gewesen.
Maria Teresa Giustis Buch ist wohl noch nicht das Standardwerk zur Geschichte der italienischen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Es ist jedoch unzweifelhaft ein großer Fortschritt, und es bleibt zu hoffen, dass sich die italienische Geschichtswissenschaft in ähnlicher Weise auch mit der Geschichte der 8. italienischen Armee im Krieg gegen die Sowjetunion befassen wird.
Thomas Schlemmer