Norman Bryson: Stilleben. Das Übersehene in der Malerei (= Bild und Text), München: Wilhelm Fink 2003, 206 S., 76 Abb., ISBN 978-3-7705-3811-9, EUR 29,90
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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
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Dreizehn Jahre nach der englischen Originalausgabe ist die deutsche Übersetzung von Norman Brysons "Looking at the Overlooked. Four Essays on Still Life Painting" in der Reihe "Bild und Text" des Fink Verlages erschienen. Bereits der deutsche Titel "Stilleben. Das Übersehene in der Malerei", der den aktiven Duktus der englischen Version zurücknimmt, macht die Schwierigkeiten deutlich, die Sprachspiele des höchst eindringlich formulierenden Autors adäquat umzusetzen. Der deutsche Titel transportiert nicht mehr die Bryson so wichtige, aktive Beteiligung des Interpreten an einer notwendig modernen und kritischen Deutung von Stilleben. Erhalten geblieben ist aber das zweite, laut Bryson für Stilleben konstitutive Element, die Eigenschaft nämlich, die oft übersehenen, niedrigen Relikte kreatürlichen Lebens mitsamt diversen historischen Diskursen durch künstlerische Formen der Hochkultur zum Ausdruck zu bringen.
Diese Rezension eines schon bald nach Erscheinen kontrovers diskutierten Buches soll sich dennoch nicht mit Übersetzungsproblemen beschäftigen, sondern die methodologischen Probleme des kritischen Diskurses einer epochenübergreifenden Kategorie von Bildern erörtern, denn eben dies ist auch das Thema der vier Essays. [1]
Im Vorwort legt Bryson die Prämissen seines Projektes dar: Angesichts der bislang seitens der Kunstgeschichte "unterinterpretierten" Stilleben plädiert er für die in der Literaturwissenschaft seit langem praktizierte Diskussion von widerstreitenden Lektüren, also für Einzelinterpretationen, die dennoch die Kohärenz der Gruppe nicht aus den Augen verlieren. Geeint werden Stilleben, die Bryson nicht als Gattung, sondern als Kategorie verstanden wissen will, mit folgenden Argumenten: Seit dem 17. Jahrhundert behandelt man sie in der Kunstkritik explizit als Gruppe. Die Bilder selbst stehen in interpikturalem Austausch, sie schreiben die Reihe fort, der sie sich zuordnen. Die dargestellten Objekte stammen aus einer niederen, meist übersehenen Ebene. Als Repräsentationsmodell stellt er dieser Bilderkategorie ein Dreieck zur Seite, das aus der kreatürlichen Lebenswelt, dem kulturellen Zeichensystem und der technischen Materialität der Kunst besteht. Alle diese "Kulturzonen" sind darin wechselseitig aufeinander bezogen und nur in einer theoretischen Analyse voneinander zu trennen. Sie lassen sich zwar nicht kausal miteinander verknüpfen, Stilleben (wie sicher auch andere Bilder) können aber als Verbindungsglied verstanden werden. Aus heutiger Sicht hat dieses Modell einige Gemeinsamkeiten mit Hans Beltings Dreieck aus Körper - Bild - Medium, mit dem ebenfalls versucht wird, anthropologischer Konstanten der Weltkonstitution in ihren medialen bzw. materiellen, historischen Ausformungen habhaft zu werden. Stilleben geraten ganz folgerichtig in den Fokus einer Kulturgeschichte oder auch der "New Art History", die alle kulturellen Produkte als bedeutungsgenerierend ernst nimmt, und gerade auch an den 'übersehenen' Dingen eine Prägung durch die historisch konstruierte Realität aufzuspüren vermag.
So einleuchtend und vielversprechend das Modell ist, das die vorgeblich unscheinbaren Bilder als Kristallisationspunkte von sozialen Praktiken und Diskursen auffasst, so schwierig ist seine konkrete interpretatorische Umsetzung, die den hermeneutischen Zirkel nicht umgehen kann. Ohne aber seinen eigenen Standpunkt zu thematisieren nähert sich Bryson in sehr suggestiven und die Augen seiner Leser öffnenden Analysen Bildern aus dem ersten bis zum zwanzigsten Jahrhundert. Neben den werkimmanenten Interpretationen, bei denen er den Gemälden im Blick auf Objektauswahl, Faktur und Raumkonstitution viel Unbeachtetes entlocken kann, nutzt er zum weiter reichenden Verständnis ausnehmend autoritative und keineswegs übersehene Texte. Bei den Stilleben aus Pompeji sind es die 'Imagines' von Philostratos, die das ästhetische Reflexionsniveau römischer Dekorateure ermessen lassen (Kapitel 1). Sanchez Cotáns und Zurbaráns Stilleben werden sodann mit den Meditationsanweisungen von Ignatius von Loyola als Sublimationen des Irdisch-Trivialen gelesen (Kapitel 2). Für die opulenten und doch die Vanitas vorführenden Stilleben aus den Niederlanden des 17. Jahrhunderts muss die Askese Calvins herhalten (Kapitel 3), und der meist weiblich kodierte Raum der Stillebens verschiedener Jahrhunderte (Kapitel 4) verdient niemand anderen als Sigmund Freud, dessen Psychoanalyse die Folie für das männliche Eindringen in die geordnete weibliche Sphäre bietet.
Den offen gehaltenen, neugierigen und einfühlsamen Analysen der Bilder liegt, wie schon David Carrier bemerkte, ein strenges, aus Oppositionen gebautes Schema zu Grunde, mit dem Bryson die zeitübergreifende Reihe der Stilleben fassen möchte. Auf der einen Seite steht (leicht positiv gefärbt) die Rhopographie, also die Hinwendung zum Einfachen und Trivialen, die etwa bei Sanchez Cotán dennoch "auf eine vergleichbare Ebene mit der Sakralmalerei erhoben" werden kann - auf der anderen Seite (ein wenig eingetrübt) die Megalographie von Caravaggio, Cézanne und den Kubisten, die auch im Stilleben nur ihre ästhetische Potenz zur Schau stellten. Die schon hier angedeuteten Dualismen von hoch und niedrig, beziehungsweise sakral und profan nutzt Bryson auch zur Interpretation der flämischen Marktstücke, in denen bekanntlich die christologische Szene in den Hintergrund gerät, während das irdische Leben sich in Form von Stilleben in den Vordergrund drängt. Über die manieristische Rhetorik hinausgehend sieht er darin einen Kommentar zur Klassengesellschaft. Von den als unterdrückt gelesenen Mägden schwenkt er zum geschlechtlich kodierten Raum, den er unter anderem anhand von Chardins Interieurs und Stilleben analysiert. Problematisch ist daran, dass er ihn quasi als reales Phänomen hinnimmt, wenn er Bilder einiger weniger Künstlerinnen zum Vergleich heranzieht, denen er Harmonie mit 'ihrem' Raum unterstellt, und so den eigenen Anspruch einer kritischen Analyse unterläuft. Die Kategorien 'männlich' und 'weiblich' (noch dazu mit den Konnotationen von 'hoch' und 'niedrig') geraten dabei nämlich, trotz gegenteiliger Absicht, die die Bewertungen gerade umzudrehen vermeint, wieder in den Verdacht einer essentialistisch begriffenen Opposition.
Brysons Buch lässt sich nicht, wie in einigen Rezensionen geschehen, mit dem Argument einer ahistorischen Vorgehensweise kritisieren, denn damit verkennt man die der Arbeit zu Grunde liegende und neue Wege beschreitende Intention, das Potenzial einer epochenübergreifenden "Kategorie" von Bildern zu erfassen. Es ist vielmehr zu wünschen, dass ausgehend von den hier vorgelegten Analyseansätzen die Diskussion um ein tragfähiges Modell derartiger Interpretationen weitergeführt wird. Zu bedenken wäre dabei, wie eine moderne Perspektive auf die Bilder deren Konstanten mit historisch begründbaren Variationen versöhnen kann - und dies nicht allein im Rekurs auf zeitgenössische Texte, sondern in einem weiteren Feld kultureller Praxis.
Anmerkung:
[1] Vgl. die Rezensionen von Jonathan Harris in: British Journal of Aesthetics 31 (1991), 185-187; Paul Taylor, in: Art History 15 (1992) 107-111; David Carrier, in: Art Bulletin 74 (1992) 344-346; L. Stevenson, in: Oxford Art Journal 16 (1993) 81-85.
Tanja Michalsky