Stefan Gorißen: Vom Handelshaus zum Unternehmen. Sozialgeschichte der Firma Johann Caspar Harkort im Zeitalter der Protoindustrie (1720-1820) (= Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte; 21), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 456 S., 9 Abb., 7 Graphiken, 10 Tabellen, ISBN 978-3-525-35686-9, EUR 59,00
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Stefan Gorißens Bielefelder Dissertation schließt an die Protoindustrialisierungsforschung an, deren ursprünglich zentrale, in den letzten Jahren aber etwas in den Hintergrund getretene Fragestellung er neu befruchten möchte: Welche Bedingungen ermöglichten einen erfolgreichen Übergang von der Proto- zur Fabrikindustrie? Um diese Frage zu klären, so sein Ausgangspunkt, dürfe die Analyse nicht auf die protoindustrielle Region selbst fixiert bleiben. Vielmehr gelte es, die bislang vernachlässigten überregionalen Absatzkanäle in den Blick zu nehmen. Erst das Zusammenspiel von Produktion und Handel trieb die dynamische Entwicklung der exportorientierten Gewerberegionen des 18. Jahrhunderts voran, und das Handelshaus bildete das entscheidende Scharnier zwischen diesen beiden Sphären. Mit seiner Fallstudie über die Firma Johan Caspar Harkort bei Hagen will Gorißen aufzeigen, wie ein solches frühneuzeitliches Handelshaus diese Scharnierfunktion ausfüllte und sich dabei schließlich zu einem industriellen Unternehmen wandelte. Auf der theoretischen Ebene knüpft Gorißen an Konzepte der Neuen Institutionenökonomik an. Das hat zur Konsequenz, dass ihn nicht in erster Linie die bewussten Motive und Entscheidungen der individuellen Firmenleiter interessieren, sondern die Firma als Institution und ihre langfristigen, erst im Rückblick als erfolgreich erkennbaren Anpassungsstrategien an sich verändernde Kostenstrukturen im Vordergrund stehen.
Nach den einleitenden Bemerkungen zu Forschungshintergrund und theoretischem Konzept führt der erste Teil der Studie in die Gewerbegeschichte der Grafschaft Mark ein. Gorißen hebt hervor, dass die Annahmen des Protoindustrialisierungsmodells über den Zusammenhang zwischen demographischer und protoindustrieller Entwicklung hier nicht zutreffen: Die Entfaltung der märkischen eisen- und stahlverarbeitenden Gewerbe basierte nicht auf einem Überschuss an billigen Arbeitskräften, sondern zunächst auf den Rohstoffvorkommen und dann auf dem in der Region akkumulierten Humankapital, das die einmal in Gang gesetzte gewerbliche Expansion auch weitertrug, als die Eisenerzvorkommen versiegt waren. Die Besitz- und Organisationsformen in den einzelnen Gewerbezweigen waren sehr heterogen und komplex, das Kaufsystem blieb aber dominierend. Hinsichtlich der institutionellen Rahmenbedingungen bestätigt Gorißen die Auffassung, dass die westlichen Gewerberegionen von der merkantilistischen Politik Preußens im 18. Jahrhundert kaum profitierten, sondern lange zu Gunsten der Kernprovinzen diskriminiert wurden, ohne dass dies aber allzu hemmend gewirkt hätte. Den Zunft- und Gewerbeordnungen, die fast alle märkischen Gewerbezweige mehr oder weniger intensiv regulierten, misst Gorißen noch weniger eine einseitig hemmende Rolle bei: Vielmehr hätten sie durch die Institutionalisierung von Ausbildung, Qualitätskontrolle und kommunikativen Kanälen die Anpassung an sich verändernde Marktbedingungen teils auch erleichtert.
Der zweite, umfangreichste Teil des Buches analysiert die ökonomische Entwicklung der Firma Harkort. Zunächst geht Gorißen auf die soziale Platzierung der Familie ein, vor allem auf ihre Vernetzung mit der regionalen Wirtschaftselite über Heiratsbeziehungen: Diese verwandtschaftlichen Bande bildeten ein wichtiges soziales Kapital, das sich auch für geschäftliche Zwecke nutzen ließ. Seinen Stammsitz behielt der Hauptzweig der Familie jahrhundertelang auf dem landwirtschaftlichen Gut Harkorten, aber das Fundament seines Wohlstandes bildete spätestens seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts der Export von märkischen Eisen- und Stahlwaren in den Ostseeraum. Hinzu traten in geringerem Umfang Importgeschäfte und seit der Wende zum 18. Jahrhundert auch der Betrieb von eigenen Hammerwerken. Den Schwerpunkt dieses Teils sowie der ganzen Studie bildet eine detaillierte Nachzeichnung der Reichweite sowie der praktischen Abwicklung der Exportgeschäfte unter den oftmals schwierigen Bedingungen des frühneuzeitlichen Post-, Speditions- und Finanzwesens. Gorißen kann zeigen, dass sich das Handelshaus im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich weniger auf Kommissionäre in den großen Handelszentren verließ und den Vertrieb zunehmend selbst in die Hand nahm. Dies ging einher mit einer Spezialisierung auf gewisse Kernprodukte, was wiederum eine direktere Einflussnahme auf die Produktion dieser Güter stimulierte. Aus transaktionskostentheoretischer Perspektive, so Gorißens Schluss, bündeln sich diese Entwicklungen zu einer durchaus rationalen und erfolgversprechenden Strategie.
Der dritte, wesentlich kürzere Teil wendet sich exemplarisch zwei Gruppen von kleingewerblichen Produzenten zu, welche die Firma Hakort im Kaufsystem belieferten. Gorißen untersucht primär die Entwicklung ihres Lebensstandards, unter Berücksichtigung auch außergewerblicher Subsistenzquellen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Realeinkommen, zumal der Messerschmiede in Wetter an der Ruhr, deutlich sanken, während sich die Sensenschmiede an der Enneperstraße besser halten konnten: Hierin spiegelten sich die unterschiedlich guten Absatzchancen ihrer Produkte auf den entfernten Exportmärkten wider.
Im letzten, ebenfalls knapp gehaltenen Teil fragt Gorißen danach, ob sich ein Wandel in der Mentalität und im Selbstverständnis der Firmeninhaber hin zu modernen, genuin kapitalistischen Auffassungen feststellen lasse. Diese Frage verneint er: Weder adaptierten die Harkorts die doppelte Buchführung, die von Werner Sombart und anderen als reinste Ausdrucksform kapitalistischen Kalküls interpretiert worden ist, noch finden sich in ihren Äußerungen zu wirtschafts- und sozialpolitischen Tagesfragen Visionen einer liberalen Markt- und Bürgergesellschaft. Die Harkorts blieben, wie die märkische Kaufmannschaft insgesamt, in den Traditionen der ständischen Ordnung verhaftet. Eine ökonomisch rationale und erfolgreiche Unternehmensstrategie schloss dies aber offensichtlich nicht aus.
Gorißens Studie, die durch eine Zusammenfassung, Quellen- und Literaturverzeichnis, Orts- und Personenregister sowie einen Anhang mit Tabellen, Grafiken, Karten und einem Familienstammbaum abgerundet wird, beeindruckt durch die fundierte Auswertung eines umfangreichen Firmenarchivs und ihre gute Lesbarkeit, die sie trotz des theoretischen Ansatzes auch für Nicht-Wirtschaftshistoriker leicht zugänglich macht. Es gelingt Gorißen insbesondere anschaulich darzustellen, wie trotz aller Beschränkungen des frühneuzeitlichen Kommunikations- und Transportwesens intensive Handelsbeziehungen in entfernte Regionen gepflegt werden konnten, und zwar weitgehend vom heimischen Kontor aus. Etwas weniger überzeugend veranschaulicht wird der titelgebende Wandel vom Handelshaus zum industriellen Unternehmen, was allerdings durch die Quellenüberlieferung bedingt ist: Da im Firmenarchiv nach 1820 Lücken klaffen, bricht die Untersuchung zeitlich ab, bevor dieser Wandel in den 1830er-Jahren effektiv vollzogen wurde. So kann Gorißen nur plausibel machen, dass der Schritt zur industriellen Produktion relativ nahe liegend war für eine Handelsfirma, die schon seit Jahrzehnten durch den Betrieb eigener Hammerwerke Erfahrungen in der Produktionssphäre gesammelt hatte, zumal sie nach 1815 aufgrund von Einbrüchen im Handelsgeschäft ohnehin zu einer Neuorientierung gezwungen war. In den Blick gerät diese Phase der Umgestaltung aber nicht mehr.
Andere Aspekte, über die man mehr Auskunft erwarten könnte, bleiben aufgrund des von Gorißen gewählten Ansatzes ausgeblendet. So interessiert er sich bloß am Rande für bürgertumsgeschichtliche Fragestellungen: Über die Lebensführung auf Gut Hakorten ist nur wenig zu erfahren, die Erziehung der jeweils nächsten Generation wird kaum gestreift, die offenbar höchst aktive Rolle der Ehefrauen respektive Kaufmannswitwen scheint nur beiläufig auf, gar nicht thematisiert wird die Bedeutung der Religion. Ebenfalls nicht auf seine Rechnung kommt, wer eine betriebliche Sozialgeschichte erwartet, welche die Interaktionen zwischen Firmeninhabern und den für sie produzierenden Arbeitskräften eingehender diskutiert. Dafür aber leistet Gorißen einen wichtigen Beitrag zu einer handelsgeschichtlich erweiterten Protoindustrialisierungsforschung und zu einer theoretisch fundierten Unternehmensgeschichte.
Beate Althammer