Andreas Tönnesmann: Kleine Kunstgeschichte Roms, München: C.H.Beck 2002, 288 S., 30 s/w-, 40 Farb-Abb., 1 Stadtplan, ISBN 978-3-406-48616-6, EUR 22,90
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Um Missverständnissen vorzubeugen: Das Buch ist kein Reiseführer. Es soll keinesfalls Werke wie Peterichs Romführer ersetzen, der den noch klassisch gebildeten Bürger der Sechzigerjahre in geschmackvoll ausgewählten Spaziergängen durch die Stadt leitete. Tönnesmanns "Kleine Kunstgeschichte" will eher dem modernen Publikum das nötige Grundwissen verschaffen, das es braucht, um eine Kulturreise überhaupt antreten zu können. Ein Gegenstück also zu Volker Reinhardts 1999 im gleichen Verlag erschienenem "illustrierten Führer durch die Geschichte" Roms, einer assoziativ und mitunter launisch geschriebenen Struktur- und Motivgeschichte der Stadt - mit ähnlich gesetzten Schwerpunkten.
Der Zusatz "klein" mochte bei den Kunstgeschichten von Köln, Wien und München, erschienen in derselben Reihe, noch das handliche Format bezeichnen. Im Falle Roms ist es eine Frage der Fairness, auch die inhaltlichen Erwartungen auf das Menschenmögliche zu beschränken. Was sich hier an Kunstmasse angesammelt hat, kann es, je nach Umrechnung, mit dem Drei- bis Zehnfachen dessen aufnehmen, was die drei nördlichen Metropolen gemeinsam zusammenbringen. Zudem soll die Darstellung zwar den derzeitigen Forschungsstand in etwa wiedergeben, keinesfalls aber die Leserschaft überfordern. Mit "profund, zugleich erfrischend knapp" ist diese nicht ganz dankbare Aufgabe im Klappentext umschrieben. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Trotzdem bleibt in solcher Lage gewöhnlich nur die Wahl, an der Skylla der Kollegenmeinungen oder im Strudel der Publikumserwartungen zu scheitern. Tönnesmann sucht einen Mittelweg - und hängt die Messlatte schon im Voraus hoch: Auf seiner Homepage der ETH-Zürich steht unter "Forschungsprojekte" zu lesen: "Kunstgeschichte Roms: Ziel des Projekts, das in eine knappe Monographie einmünden soll, ist die Legung eines historischen Längsschnittes, der eine neue Perspektive auf die Kunstgeschichte Roms eröffnet."
Sein Zaubermittel, mit welchem er zunächst das Quantitätsproblem angeht, ist eben jener "historische Längsschnitt". Legt man einen solchen durch den großen Kuchen der Kunstgeschichte Roms, so entsteht an den Schnittflächen entlang ein scharfes Bild. Was in den Tiefen der beiden Hälften steckt, bleibt verborgen. Bei der Darstellung historischer Zusammenhänge hat man freilich keine andere Wahl. Über die Frage, was übrig bleiben soll, lässt sich streiten. So wird auch nicht jeder Romforscher zufrieden sein mit dem, was Tönnesmanns Lichtkegel auf seinem Spezialgebiet erfasst. Solange die Konzentration auf das subjektiv für wesentlich Gehaltene das Gesamtbild nicht verzerrt - und das tut sie in diesem Fall nicht - kann der Autor eines Überblickswerks mit solchen Lücken leben.
Interessanter scheint die versprochene "neue Perspektive" auf die römische Kunst. Das einleitende Kapitel weckt Hoffnungen. Es beschäftigt sich mit der "Umnutzung als urbanem Prinzip", also jenem echt römischen, der Kohabitation mit den Ruinen verdankten Geschick, Thermen in Kirchen, Götter in Heilige, aber auch Tempel in Schweineställe und Gräber in Wohnungen zu verwandeln. Aus diesem Ansatz ließe sich in der Tat ein interessanter Leitfaden zur römischen Kunst entwickeln. Der damit markierte Weg durch scheinbar bekanntes Terrain (von Volker Reinhardt in Abschnitten bereits getestet) dürfte allerdings kaum dem verlegerischen Ziel einer "kleinen Kunstgeschichte" entgegenführen.
Tönnesmann wechselt denn auch nach einigen Seiten auf die von hundert Jahren Kunstgeschichte perfekt ausgebaute Hauptstraße. Entlang dieser wohnen die alten Studienfreunde, man erneuert mit Gewinn die Bekanntschaft, sieht das eine oder andere fremde Gesicht und bleibt unterschiedlich lange. Dazu einige technische Daten: Von insgesamt 260 Seiten (ohne Einführung) entfallen auf Spätantike (vorchristliche Antike ist nicht im Programm) und Mittelalter zusammen knapp 45 Seiten, auf Renaissance und Barock hingegen ganze 160 Seiten. 18. und 19. Jahrhundert teilen sich 38 Seiten, die Moderne ist mit gut 15 Seiten immerhin vertreten. 250 Jahre Renaissance und Barock wiegen im Verhältnis Jahre/Seiten also ungefähr neunmal mehr als der 1450-jährige Rest. Diese Gewichtung kann man als überkommen kritisieren. Man kann - ohne Burckhardtianer zu sein - darin aber auch ein mutiges Bekenntnis zu jenen Epochen sehen, die allen Strömungen zum Trotz die wichtigsten sind und bleiben - zumindest in Rom.
Das römische 18. Jahrhundert, als Beispiel herausgegriffen, ist ein faszinierender und zu Unrecht lange vernachlässigter Forschungsgegenstand. An die vorangehenden Jahrhunderte aber reicht seine Bedeutung nicht heran. Die Qualitäten liegen hier - was im entsprechenden Kapitel auch deutlich wird - eher in der antiquarischen Auseinandersetzung mit der römischen Kultur. Dies ist nicht so ohne weiteres mit Händen greifbar: Dass in den vatikanischen Museen die Pilgerwege zu den Meisterwerken der Antike und der Renaissance auf museale Konzepte des 18. Jahrhunderts zurückgehen, dürfte auch kultivierteren Besuchern in der Regel egal sein. Deren Helden heißen noch immer Michelangelo und Raphael. An der Fontana di Trevi isst man ein Eis und wirft eine Münze, denkt aber dabei lieber an Anita Eckberg als an Niccolo Salvi. Es ist nicht die Aufgabe einer "Kleinen Kunstgeschichte", die so geordnete Welt umzustoßen. Vielmehr sollte das Interesse, wo glücklicherweise noch vorhanden, dazu genutzt werden, die Kenntnisse zu vertiefen und stereotype Bilder zu differenzieren.
Indem er Prioritäten setzt, schafft der Autor in Kernbereichen des Buchs Raum für eben jene Vertiefung - eine strategisch richtige Entscheidung. Hier überzeugt vor allem seine Beschreibung von Architektur und Urbanistik des 16. und 17. Jahrhunderts. Allerdings versucht Tönnesmann immer wieder, die Informationsdichte durch elegante, kursorische Halbsatz-Exkurse zu erhöhen. Dabei entsteht der Eindruck, dass solche vervollständigenden Passagen eher für Kollegen als für zivile Leser geschrieben sind. So heißt es zum Beispiel über die Hofarchitektur des Palazzo Farnese: "Mit dem ihm eigenen Sinn für Korrektheit achtete Sangallo penibel auf die formale Instrumentierung der Ordnungen, wobei er sich für die Ausformung der Dorica mit ihrem komplexen Gebälk die jüngsten Errungenschaften Bramantes zunutze machte." (121) Sachlich ist das richtig. Ob aber Studienräte und Rechtsanwälte das Richtige assoziieren, darf man bezweifeln. Die "über 70 sorgfältig ausgewählten" Illustrationen (Klappentext), darunter nur ein einziger Grundriss, können hier nur bedingt weiterhelfen. Durchschnittlich gerade einmal fünf Bilder pro Jahrhundert - von leider unterschiedlicher Qualität - führen zwangsläufig dazu, dass lange und wichtige Textpassagen durch keine einzige Abbildung unterstützt werden. Wer Rom kennt, kommt damit zurecht. Das anvisierte Publikum hat hoffentlich schon ein paar Könemann- und Hirmer- Bände daheim.
Ohne klassische Antike bleibt jede römische Kunstgeschichte unvollständig und letztlich unverständlich. Es wäre unmöglich gewesen, im vorgegebenen Rahmen weitere eintausend Jahre Kunstgeschichte unterzubringen. Volker Reinhardt, der die Antike behandelt, musste als Historiker seine strukturgeschichtlich ausgerichtete Achse nur um ein passendes Stück in die Vergangenheit verlängern. Für eine am Objekt orientierte "Grammatik" der abendländischen Kunst bräuchte man eine weitere "Kleine Kunstgeschichte". Hier müssten die Kollegen von der Archäologie übernehmen.
Die Frage, was aus Rom in Zukunft werden soll, wird im Abschnitt über das 20. Jahrhundert nur indirekt gestellt. Dabei kann man die Fortschritte der Zerstörung täglich verfolgen, eine Zerstörung, in welche die Kunstgeschichte insofern verstrickt ist, als sie an der Historisierung des kulturellen Erbes maßgeblichen Anteil hat. Alltag und Kultur, Gegenwart und Vergangenheit haben in Rom, dem "Nischenplatz Alteuropas" (Reinhardt), lange Zeit in unspektakulärer Symbiose gelebt. Doch gibt man sich alle Mühe, diesem zivilisatorischen Rückstand abzuhelfen. So wird der öffentliche Raum einer platten Remmidemmi-Kultur preisgegeben, während man die Monumente, museal zurechtgemacht, dem vitalen Kontext des täglichen Lebens entzieht. Nun gut, schon Gregorovius wollte in der Stadt des Risorgimento eigentlich nicht mehr leben ("ein übertünchtes Grab", 258). Und von Roms einstiger Größe werden auch noch seine Fußgängerzonen zeugen.
Golo Maurer