Johannes Fried: Die Aktualität des Mittelalters. Gegen die Überheblichkeit unserer Wissensgesellschaft, 2. Aufl., Ostfildern: Thorbecke 2002, 92 S., ISBN 978-3-7995-8301-5, EUR 9,95
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Ein Werk der Superlative zweifellos: gewiss eines der im Format kleinsten Bücher zur Mittelalterforschung auf dem gegenwärtigen Buchmarkt, zugleich eines der literarisch anspruchsvollsten und der mutigsten. Es lädt zur Lektüre ein, auch über einen wissenschaftlichen Adressatenkreis hinaus - und es ist darin ein eindrucksvoller Beleg für die Ausdrucksform engagierter Mittelalterforschung in der Gegenwart.
Entstanden 2001 als Festvortrag zum 50jährigen Jubiläum des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte, der an der Standortbestimmung der deutschen Mittelalterforschung seit langem maßgeblich und neuerdings verstärkt mit programmatisch innovativem Impetus mitwirkt, ist der Text 2002 unverändert in einer verlegerischen Schmuckversion vorgelegt worden. Nicht weniger als das "Lernenkönnen aus der Geschichte" beruft Fried, entkleidet diese altbekannte Vorstellung aber ihrer bequemen Fassade antiquarischer Topik und stellt sie in das Licht eines aktuellen Diskurses. Geradezu alltagssprachlich daherkommend, haben sich "Bildung" und "Wissen" seit einigen Jahren in das Vokabular des bundesdeutschen Diskurses angesichts eines wohlfeilen Krisenbewusstseins eingeschlichen; in einer ziel- und erfolglosen Selbstsuche wurde klingendes Etikett für verlorene Inhalte genommen und unsere Gesellschaft zunächst als "Informationsgesellschaft", dann - unbewusst synonym - als "Wissensgesellschaft" deklariert. Die in der Sache unabweisbare, allerdings notwendig komplexe Feststellung, dass aktuelles, heutiges Wissen ohne seine vorangehenden, historisch gewordenen Ursprünge unmöglich wäre und ohne Bewusstsein seiner Geschichtlichkeit nicht bestehen wird, übersteigt hingegen die auf Reduktion angelegte Selbstetikettierung - und offensichtlich auch eine auf Entsorgung der eigenen Kultur zielende "Wissenschaftspolitik". Hier sind Geisteswissenschaftler, insbesondere Historiker zum Einspruch aufgerufen und als solcher darf das Bändchen von Fried verstanden werden. Dabei geht es keinesfalls um bloße Kritik der Gegebenheiten oder schlichte Selbstrechtfertigung; Frieds Einspruch liest sich vielmehr als Plädoyer für den Wert historischen Wissens in der Gegenwart.
Die Überheblichkeit des Heutigen ignoriert mit dem Früheren nicht nur sein eigenes Fundament, sondern in der Selbstüberhebung des einzelnen Menschen verliert Humanität auch ihre Wirkung als Menschlichkeit. Die mittelalterlichen Menschen fassten diese Einsicht in das schöne Bild von den Zwergen, die auf den Schultern von Riesen sitzen, deshalb weiter als sie sehen können, aber dies nur, weil sie sich eben auf die Riesen stützen. Mehrfach zitiert Fried dieses Motto, das sich bis heute eindrucksvoll in den Glasfenstern der gotischen Kathedrale von Chartres betrachten lässt: Es zeigt, dass das Lernen aus dem Wissen des Mittelalters uns Heutigen wichtig sein sollte, eine "notwendige Orientierung im Heute" (87) bieten kann - und das Mittelalter damit eine unabweisbare Aktualität besitzt. Kritik schließt Eigenkritik ein, an Rechtfertigungsdiensten der Wissenschaft früher Generationen und an schneller Selbstgenügsamkeit oder gegenwartsferner Kurzsichtigkeit noch heute: "Wer über das Mittelalter nicht hinausdenkt, versteht vom Mittelalter nichts" (13) - ein Plädoyer für den Gegenwartsbezug und das gesellschaftlich bewusste Engagement der Wissenschaft und ihrer Repräsentanten!
Frieds Studie gliedert sich in vier Teile: Ein pointierter Abriss der Mittelalter-Rezeption bis in die Gegenwart steht am Beginn und markiert den Widerspruch zwischen einem Ansehensverlust der Geschichtswissenschaften und einem lebhaften, wachsenden öffentlichen Geschichtsinteresse - gerade auch am Mittelalter (7-23). Zwei Abhandlungen bilden den Hauptteil des Buches: Zunächst "Geschichtswissenschaft als Erfahrungswissenschaft" (23-53), sodann "Geschichtswissenschaft als Kognitions- und Lebenswissenschaft" (54-78). Es folgen ein methodologischer Appell ("Konsequenzen", 78-84) und ein kurzes "Resümee" (85-87) sowie knappe Anmerkungen und weiterführende Literaturhinweise (88-92).
Dass jedes Wissen einer Gegenwart auf Erfahrung und damit auf Geschichtlichkeit aufbaut (30) , lässt einerseits das Nachdenken über Geschichte und die Wissenschaft ihrer Erforschung aktuell sein und gibt andererseits ihrem Gegenstand den Wert gewachsener Erfahrung: Das Mittelalter ist kein "Ideenlieferant", aber "ein kollektiver Erfahrungsspeicher" (26). Zwei tatsächlich grundstürzende Konsequenzen zieht Fried aus solchen Überlegungen: 1. Die Globalisierung als vermeintliches Markenzeichen der Postmoderne resultierte in einem dynamischen Prozess aus einer verdichteten Vernetzung religiösen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Denkens und Handelns der Menschen im Mittelalter (28). 2. Auch in unserer Zeit, aber nicht minder im Mittelalter, war die Gesellschaft eine Wissensgesellschaft, insofern sie Wissen aus Erfahrung generierte (34, 37, 40f.).
Mittelalterliche Wissenskultur ließ nicht nur eine methodisch bewusste Anwendung von Vernunft (ratio) möglich sein, sondern war durch sie geradezu gekennzeichnet, sie kannte deshalb auch den wissenschaftlichen Streit und den Konflikt zwischen Dogmatik und intellektueller Freiheit. Mittelalterliche Wissenskultur war mithin dynamisch (37) und bereit zum Selbstdenken, dabei aber immer bewusst ihrer Einbindung in gewachsene Traditionen, die auch Normen und Grenzen bezeichnen konnten. Die Moderne sollte den Vergleich nur mit Vorsicht wagen oder sich - besser - ihrerseits nicht als Gipfelpunkt, sondern als Etappe innerhalb eines langwirkenden Entwicklungsprozesses (38) sehen, der sie dem Mittelalter näher rückt und diesem seine fortwirkende Aktualität zugesteht.
Ein solcher langwirkender Prozess ist das Nachdenken über das Verhältnis von Wissen und Erinnerung, Geschichte und Gehirn, Geschichtswissenschaft und Hirnphysiologie (54f.). Eine selten gewählte Perspektive führt Fried hiermit ein, um sein Votum zu Gunsten der methodisch aktuellen anthropologischen Neuorientierung der Geschichtswissenschaften zu begründen. Sie ist im Übrigen programmatisch interdisziplinär und fand einen entscheidenden Ausgangspunkt in der französischen Mittelalterforschung. Neuere Studien zur Körper- und Sinnengeschichte (56, 58) sind ihr geschuldet. Nicht alte durch neue Ausschließlichkeit zu ersetzen, kann das aktuelle Anliegen sein, sondern gerade eine Weite der Frageperspektive und die notwendige Offenheit für Anregungen aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen zu bewahren.
Was seit dem 19. Jahrhundert bis heute fortgeschleppt wurde, könnte nun endlich überwunden werden, die unglückliche Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften (56). In beiden Richtungen hatten seither Überheblichkeiten das Klima vergiftet. Im Bewusstsein, dass beide einer "Wissenschaft vom Menschen" verpflichtet seien, eben daraus ihre Rechtfertigung für die Gegenwart und ihr Planungspotenzial für die Zukunft zu begründen und somit ihre Aktualität zu legitimieren vermöchten, könnte eine neue Rechtfertigung liegen, auch in der Gegenwart tatsächlich eine Wissensgesellschaft zu konstatieren. Dass der Appell dazu von einem Mediävisten ausgehen kann (vielleicht ausgehen muss?) hat Fried gezeigt. Es bleibt zu hoffen, dass die gefällige verlegerische Gestaltung des Bändchens ihm die weiten Leserkreise und die wissenschaftliche wie gesellschaftliche Wirkung sichert, die es verdient.
Martin Kintzinger