Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, Berlin / München: Propyläen 2002, 592 S., ISBN 978-3-549-07165-6, EUR 25,00
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Das Leiden der deutschen Zivilbevölkerung im alliierten Bombenkrieg ist das Thema einer im November 2002 erschienenen Buchveröffentlichung von Jörg Friedrich. Kaum eine Veröffentlichung eines historischen Themas hat in den letzten beiden Jahren ein derartig umfassendes und zugleich auch ambivalentes Interesse in der Öffentlichkeit gefunden. In das Lob für den "Privatgelehrten" Jörg Friedrich [1] mischten sich allerdings auch einige kritische Stimmen. Sie beziehen sich besonders auf den emotionalen Duktus der Darstellung und die semantische Anlehnung an den Holocaust. [2] Der Autor und sein Verlag verstehen das Buch als das fehlende zeitgeschichtliche Gesamtwerk über die "von Briten und Amerikaner systematisch geplante und durchgeführte Vernichtungskampagne gegen deutsche Städte" (Klappentext). Der überwiegende Teil der Medien hat diese Bewertung in den jüngsten Besprechungen ebenfalls so gesehen. Der Rezensent möchte auf die Rezeption des Buches in Deutschland und vor allem auch in Großbritannien nicht eingehen. [3] Dies erfordert mehr als eine Rezension zu leisten vermag. Im Vordergrund steht vielmehr eine Analyse der vom Autor und in der Presse herausgestellten geschichtswissenschaftlichen Bedeutung dieser Buchveröffentlichung. Die Frage ist: Hält "Der Brand" einer Überprüfung nach wissenschaftlichen Kriterien stand?
Dem Leser der Publikation bietet sich eine Essenz aus den Veröffentlichungen anderer Autoren sowie den thesenartigen, wortreich umschriebenen und oft bis zur Unsachlichkeit getriebenen emotionalisierenden Ausführungen des Autors. Friedrich schafft keine neuen historischen Erkenntnisse, sondern nur eine persönliche Sichtweise auf den Bombenkrieg. Was an diesem Buch befremdet, ist die nahezu ausschließliche Blickrichtung auf die Zivilbevölkerung. Wie ein roter Faden zieht sich das "moral bombing" durch das Buch. Im Zentrum des anglo-amerikanischen "Brandkriegs" und des "Luftterrors" standen demnach vor allem deutsche Frauen, Kinder und Greise. Es ist ein doktrinäres Bild vom alliierten Luftkrieg, das der Autor skizziert. Aus der NS-Propaganda kommend wird es über die Nachkriegszeit bis in die Gegenwart tradiert. Wenigstens erfährt man in "Der Brand" gelegentlich, dass auch ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene zu den Opfern der Bombenangriffe zählten. Die vielfältigen politischen, wirtschaftlichen, militärischen und sozialgeschichtlichen Implikationen des Bombenkriegs an der "Heimatfront" werden vom Autor kaum berührt. Auch unter einem Fokus "Zivilbevölkerung" dürfen diese Aspekte auf Grund ihrer Wechselbeziehung nicht unberücksichtigt bleiben.
Wenn der Autor behauptet, dass der Bombenkrieg in der historischen Forschung und im nationalen Gedächtnis bis dato eine "befremdliche Lücke" gewesen sei, so kann dem nicht zugestimmt werden. Allein die jährlich wiederkehrenden Gedenkfeiern in Dresden und an vielen anderen Orten haben keinen Platz für ein Vergessen oder Verdrängen gelassen. [4] Erst recht nicht die zahlreichen Hochbunker, die als Menetekel des Bombenkriegs in fast allen deutschen Großstädten als "Steine des Anstoßes" und ungeliebte Denkmäler stehen. Die deutsche "Zusammenbruchsgesellschaft" hatte sich schon bei Kriegsende längst ihre eigene Vorstellungswelt vom Luftkrieg geschaffen. In dieser Rezeption war der alliierte Luftkrieg gegen die "Volksgemeinschaft" gescheitert. Das "moral bombing" sei verpufft, die "Haltung" bis Kriegsende war vorbildlich, lautet die häufig aufrechnende "Volksmeinung", wie sie besonders in Lokalstudien Eingang fand. Einzig die Zerstörung von Kulturgütern und die Vernichtung von Menschenleben waren die bleibenden Folgen. Tief in dieser historischen Wahrnehmung der deutschen Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft verortet, bedient das Buch "Der Brand" eine solche populäre Überlieferung. Eine kritische Reflexion und sachliche Analyse der mündlichen und schriftlichen Tradierung bildet in der Tat ein wissenschaftliches Desiderat. Doch Friedrich hinterfragt beispielsweise nicht einmal den Quellenwert und Kontext der von ihm benutzten, zwischen 1958 und 1964 herausgegebenen "Dokumente deutscher Kriegsschäden".
Bei den Themen Luftschutz (394) und Kinderlandverschickung (456ff.) scheint der Verfasser die allgemeine Forschungsliteratur überhaupt nicht zu kennen.[5] Auf Seite 441 ff. beschäftigt sich der Autor ausführlich mit der Ersatzbeschaffung für zerstörte Haushalte. Es erstaunt in diesem Zusammenhang, dass er die Verteilung von Eigentum, das den europäischen Juden anlässlich ihrer Flucht und Deportation geraubt wurde, nur in zwei Sätzen eher beiläufig erwähnt. Ganze Zug- und Schiffsladungen erreichten aber die "Bombengeschädigten" im Reich. Von den Stadtverwaltungen und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, teilweise sogar von Firmen, wurden sie zur Weitergabe übernommen. So partizipierten Teile der deutschen Bevölkerung am Holocaust und wurden auf diese Weise zu Mittätern gemacht. Dass "der Staat" mit den Folgen der Bombardierungen "fertig" wurde (442), wie Friedrich feststellt, kann man nur in Unkenntnis des Forschungsstands behaupten. Auch das Thema "Lynchjustiz" an alliierten Fliegern wird vom Autor auf den Seiten 488-489 erstaunlicherweise nur gestreift. Gerade dieser Aspekt hätte eine ausführlichere Würdigung verdient. Doch dazu muss Quellenforschung in Archiven betrieben werden, auf die der Autor nicht nur in diesem Fall verzichtet hat.
Wer allerdings die Eroberung des Deutschen Reichs in den letzten Kriegsmonaten beschreibt und das Ruhrgebiet sowie den "Ruhrkessel" des Monats April 1945 als einen thematischen Schwerpunkt wählt (160 ff.), sollte sich keinesfalls auf ältere populärwissenschaftliche Literatur beziehen. Es ist eine der vielen drängenden Fragen, die sich bei der Durchsicht von Friedrichs "Quellen" ergeben, warum der Autor ausgerechnet die sorgfältig recherchierte Studie von Klaus-Dietmar Henke völlig unberücksichtigt lässt und auch auf die verdienstvolle Arbeit von Willi Mues über den "Ruhrkessel" verzichtet hat. [6] Gerade diese beiden Arbeiten hätten ihm vermutlich eine neue Sichtweise auf das Kriegsende an Rhein und Ruhr eröffnet. Auf die zahlreichen Gestapo-Morde, die dort zeitgleich stattfanden, und die Zerstörungsaktionen der Reichsverteidigungskommissare geht der Autor mit keinem Wort ein. Zerstört und gemordet haben anscheinend nur die US-Truppen und alliierten Bomber. Bei einer Schilderung des 1000-Bomber-Angriffs auf Köln am 30. Mai 1942 (87 ff.) darf die 1992 publizierte Quellenstudie von Martin Rüther [7] auf keinen Fall vergessen werden. Wenn der Autor als wichtiges Referenzwerk die "Bomber Command War Diaries" von Martin Middlebrook und Chris Everitt heranzieht, so befremdet es, dass er die nicht weniger wichtige Einsatzchronik der 8. US-Luftflotte "Mighty Eighth War Diary" von Roger A. Freemann ignoriert. [8] Dass die inhaltlich über Lokalstudien hinausgehenden Arbeiten von Gerd R. Ueberschär über Freiburg und Wilfried Beer über Münster [9] ebenfalls unberücksichtigt blieben, schmälert wie vieles andere mehr die angekündigte "breite Quellenbasis" und damit die historische Genauigkeit der Veröffentlichung erheblich.
Auf Seite 437 erwähnt Friedrich zum Beispiel die Ernennung von Goebbels zum "Reichsinspektor für den zivilen Luftschutz" durch Hitler im November 1943, und zwar im Kontext zur "Fürsorge" durch die NSDAP. Goebbels, der übrigens auch den im Januar 1943 konstituierten Interministeriellen Luftkriegsschädenausschuss (ILA) leitete, war jedoch erst im Dezember 1943 zum Leiter der Reichsinspektion für zivile Luftkriegsmaßnahmen ernannt worden. Ein Amt, das nur am Rande etwas mit "Fürsorge" für Bombengeschädigte zu tun hatte, schon gar nicht mit Propaganda, wie der Autor auf Grund der Personalunion von Goebbels in dieser Funktion vielleicht angenommen hat, sondern vielmehr der Überprüfung von Luftschutzmaßnahmen diente. [10] Sorgfältige Recherchen hätten dieses kleine, aber wichtige Missverständnis leicht ausräumen können. Allerdings scheint der Autor die für den Luftkrieg wichtigen Bände des zweiten Teils der Edition von Goebbels Tagebüchern nicht zu kennen, da er sonst dessen Rolle im Luftkriegsgeschehen anders eingeordnet hätte. [11] Die Fülle der weiteren Auslassungen, Ungenauigkeiten, Fehler und Missdeutungen zu nennen, würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen.
Die völlig unzureichende Reflexion von gerade auch neuerer Forschungsliteratur ist ein großes Manko einer Publikation, die sich in ihren Aussagen überwiegend auf Literatur und nicht auf Primärquellen stützt. Es wirkt seltsam, dass sich der Autor durchaus jüngerer Literatur bedient hat, wie das Werk von Wolfram Wette, Ricarda Bremer und Detlef Vogel über die Stimmungsberichte der Wehrmachtspropaganda 1944-1945 belegt, das übrigens nicht 2002 in Berlin, wie der Autor angibt, sondern bereits 2001 in Essen erschienen ist. Auf den Seiten 545 ff. findet sich ein nach Seitenzahlen und Kapiteln geordnetes Verzeichnis der benutzten "Quellen". Überwiegend handelt es sich dabei um sehr kursorische Verweise auf Literatur. In den Texten der Kapitel sind dagegen einzelne Passagen, Zitate und Verweisstellen nicht explizit ausgewiesen. Diese nicht nur für geschichtswissenschaftliche Veröffentlichungen völlig unübliche Vorgehensweise macht eine notwendige Überprüfung der vorgeblichen Erkenntnisse des Autors und seiner Quellen unmöglich.
Die Neue Züricher Zeitung spricht am 7. Dezember 2002 in einem Artikel über Jörg Friedrichs Werk die "Eindringlichkeit als Geschichtsbuch" an. Gerade bei dieser Publikation sollte man mit dem Begriff "Geschichtsbuch" sehr vorsichtig umgehen. Volker Ullrichs Kritik an Friedrich in der ZEIT vom 28.11.2002 bezüglich seiner subtilen Wortwahl, wie Luftschutzkeller als "Krematorien", Bombenopfer als "Ausgerottete" und die 5. Bombergruppe der Royal Air Force als "Einsatzgruppe", ist beizupflichten. Überhaupt ist die inhaltliche Umsetzung Friedrichs reich an suggestiven und assoziativen Wortschöpfungen. So kam ein siebenjähriges Mädchen aus der "Hölle von Dortmund" (166), in Darmstadt wurden in "Hitze und Gas" aus Schutzräumen "Hinrichtungsstätten" (361). Der Autor stellt einzelne Aspekte und historische Abläufe in den Raum, ohne sie aber mit der gebotenen Ausführlichkeit darzustellen, zu belegen und zu analysieren. Stattdessen weicht er im Stil der "großen Erzähler" auf literarische Umschreibungen aus.
Verdienstvoll an "Der Brand" ist die Zusammenfassung von Inhalten aus den zahlreichen verstreuten Publikationen, besonders auch der darin enthaltenen Zeitzeugenberichte. Als Dokumentation der Erinnerungskultur des Bombenkriegs hat Friedrichs Buch sicherlich einen Wert. Eine Diskussionsgrundlage bieten die provozierenden Thesen des Autors allemal. Doch eine bisher fehlende "umfassende zeitgeschichtliche Darstellung" kann das Buch nicht ersetzen. Dazu überwiegen die zahlreichen inhaltlichen Fehler und methodischen Unzulänglichkeiten. Die Veröffentlichung verdeutlicht vielmehr eindringlich die bisherige Absenz der deutschen Zeitgeschichtsforschung im Bereich des Luftkriegs und seiner Rezeption. Das Thema war in den vergangenen Jahren mehrheitlich "Heimatforschern" und Hobby-Historikern auf einer regionalen und lokalen Ebene sowie Autoren wie Jörg Friedrich vorbehalten. Für professionelle Historiker sollte das kommende Jahr 2003, das nicht nur die 60-jährige Wiederkehr der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad, sondern auch zahlreiche "Jahrestage" im Bereich des Luftkriegs bringen wird, eine Chance sein, hier ebenfalls Stellung zu beziehen.
Anmerkungen:
[1] Wie man eine Stadt anzündet, in: Die Welt v. 23.11.2002. Vgl. auch Michael Jeismann: Der Mann, der über den Bombenkrieg schreibt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.11.2002.
[2] Volker Ullrich: Weltuntergang kann nicht schlimmer sein, in: Die ZEIT 49/2002
v. 28.11.2002; Christian Gerlach: Das Mahlwerk, in: Berliner Zeitung v.
9.12.2002; Ralph Bollmann: Im Dickicht der Aufrechnung, in: die tageszeitung
Nr. 6926 v. 10.12.2002, 14.
[3] Hierzu auch Lothar Kettenacker: Wollen sich die Deutschen etwa als Opfer sehen. Die britische Debatte um den Luftkrieg, in: Die ZEIT 50/2002 v. 5.12.2002.
[4] Hierzu Klaus Naumann: Der Krieg als Text. Das Jahr 1945 im kulturellen Gedächtnis der Presse, Hamburg 1998, 33ff.
[5] Zur KLV siehe Gerhard Kock: "Der Führer sorgt für unsere Kinder..." Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg, Paderborn u. a. 1997; Michael Krause: Flucht vor dem Bombenkrieg. "Umquartierungen" im Zweiten Weltkrieg und die Wiedereingliederung der Evakuierten in Deutschland 1943-1963, Düsseldorf 1997. Zum Bunkerbau siehe vor allem Michael Foedrowitz: Bunkerwelten. Luftschutzanlagen in Norddeutschland, Berlin 1998; Henning Angerer: Flakbunker. Betonierte Geschichte, Hamburg 2000; Silke Wenk (Hg.): Erinnerungsorte aus Beton. Bunker in Städten und Landschaften, Berlin 2001.
[6] Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995 [= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 17]; Willi Mues: Der große Kessel. Eine Dokumentation über das Ende des Zweiten Weltkrieges zwischen Lippe und Ruhr/Sieg und Lenne, Erwitte 1984.
[7] Martin Rüther: Köln, 31. Mai 1942. Der 1000-Bomber-Angriff, Köln 1992 [= Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur 18].
[8] Roger A Freeman: Mighty Eighth War Diary, London 1981.
[9] Gerd E. Ueberschär: Freiburg im Luftkrieg 1939-1945, Freiburg/Würzburg1990; Wilfried Beer: Kriegsalltag an der Heimatfront. Alliierter Luftkrieg und deutsche Gegenmaßnahmen zur Abwehr und Schadensbegrenzung, dargestellt für den Raum Münster, Bremen 1990.
[10] Führererlaß zur Bildung einer Reichsinspektion der zivilen Luftkriegsmaßnahmen vom 21.12.1943; BA Berlin, R 43 II/669d; Die Tagebücher von Joseph Goebbels, T. II (Diktate 1941-1945), hg. v. Elke Fröhlich im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und in Verbindung mit dem Bundesarchiv und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Russlands, München/New Providence/London/Paris 1993-1996, hier Bd. 10, 515 [Eintrag v. 20.12.1943], S. 523 [Eintrag v. 21.12.1943] u. 547 [Eintrag v. 25.12.1943]; Erich Hampe: Der zivile Luftschutz im Zweiten Weltkrieg. Dokumentation und Erfahrungsberichte über Aufbau und Einsatz. Frankfurt/Main 1963, hier 251f.
[11] Friedrich bezieht sich unverständlicherweise nur auf den 1987 publizierten Teil I der von Elke Fröhlich herausgegebenen Tagebuch-Edition. Die seit 1997 neu erschienene Überarbeitung dieses Teils, der die Aufzeichnungen von 1923 bis 1941 enthält, ist am Autor vorübergegangen.
Ralf Blank