James Beck: Die drei Welten des Michelangelo, München: C.H.Beck 2001, 272 S., 58 Abb., ISBN 978-3-406-47193-3, EUR 24,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Kamil Doronyai: "Should the Artist Become a Man of the World?". Der Künstler als Marke, Stuttgart: merz & solitude 2010
Ulrich Rehm: Stumme Sprache der Bilder. Gestik als Mittel neuzeitlicher Bilderzählung, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002
Franz-Joachim Verspohl: Michelangelo Buonarroti und Niccolò Machiavelli. Der David, die Piazza, die Republik, Wien: Manz 2001
Schon der Titel ist irreführend. Die drei Welten des Michelangelo bestehen nicht, wie zu vermuten wäre, in den drei Künsten Skulptur, Malerei und Architektur, die Michelangelo gleichsam zu einem Kosmos vereinte, womit er - gerade in der Rezeption und Instrumentalisierung durch Vasari - entschieden zur Ausdifferenzierung des modernen Systems der Künste als "arti del disegno" und in der Folge als schöne und bildende Künste beigetragen hat. Nein, gemeint sind eher drei "Väter" Michelangelos, die ihn während der ersten Jahrzehnte seines Lebens geprägt haben und deren Anerkennung der Künstler suchte. So flankiert Beck sein zentrales Kapitel über den leiblichen Vater Michelangelos durch die beiden Kapitel über Lorenzo il Magnifico und Papst Julius II. Doch diese Dramaturgie seines Lebens geht nicht ganz auf. Denn auch die religiöse Welt des Dominikaners Savonarola und die politische Welt des Republikaners Piero Soderini fordern ihren berechtigten Platz in der Vita Michelangelos.
Nach eigenen Aussagen gilt das Interesse des Kunsthistorikers James Beck, der an der Columbia University in New York lehrt, weniger dem Werk, als dem Menschen Michelangelo (8). Die von Beck ausdrücklich betonte kunsthistorische Binsenweisheit, dass man nie "den Künstler mit seinen Schöpfungen gleichsetzen" (9) dürfe, wirft nun aber die Frage nach der kunsthistorischen Relevanz einer solchen biografisch orientierten Vorgehensweise auf. Was nützt mir als Kunsthistoriker die von Beck vorgebrachte Vermutung, dass Michelangelo wohl doch, entgegen der Aussagen in den maßgeblichen Biografien Vasaris und Condivis, zunächst von seiner Mutter gestillt worden und erst später einer Amme anvertraut worden sei (26)? Wendet sich Beck hier implizit gegen psychoanalytische Deutungen, die in Michelangelos Beziehung zur früh verstorbenen Mutter einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis mancher seiner Werke sehen? Eine solche Kritik wird jedoch kaum ein Beweggrund für Beck gewesen sein. Denn schließlich greift er selbst auf ein geradezu ins Banale verkehrtes Interpretationsmuster psychoanalytischer Provenienz zurück, wenn er Familiendarstellungen auf dem Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle als "Ausdruck von Michelangelos wehmütiger Erinnerung an die früh verlorene eigene Mutter, an seine Familie und seine Kindheitstage" (215) deutet.
Doch handelt es sich bei dem von James Beck vorgelegten Buch überhaupt um eine wissenschaftliche Arbeit? Erst im Kleingedruckten am Ende des Buches verrät uns der Autor, dass "dieses Buch keine wissenschaftliche Abhandlung im üblichen Sinne ist, sondern eine Deutung der Persönlichkeit Michelangelos zum Ziel hat [...]." Deswegen, so folgert Beck mit anmaßender Kausalität, "wurde darauf verzichtet, die verschiedenen Thesen durch Quellen und Nachweise im Einzelnen zu belegen." (251) Kurzum, es gibt keine Fußnoten in diesem Text und damit keine wissenschaftliche Fundierung im strengen Sinne. Stattdessen werden die wichtigsten Quellen und Texte der Sekundärliteratur als "bibliographischer Hinweis" auf zwei Seiten aufgelistet. Allerdings erfährt man auch an dieser Stelle nichts darüber, wie sich der Autor im Rahmen der umfangreichen biografischen Literatur zu Michelangelo verortet. Da Beck den wissenschaftlichen Anspruch seiner Arbeit nun aber nicht ganz aufgeben möchte - oder um hier noch einmal zu zitieren: "[weil] der Autor sich unwiderstehlich gedrängt fühlte, verschiedene dunkle Punkte zur Sprache zu bringen [...]" (251), verhandelt er "wissenschaftliche Streitfragen und Marginalien" im Anmerkungsteil, der immerhin zwölf Seiten umfasst. Dem wissenschaftlich interessierten Leser kommt Beck jedoch auch hier nicht entgegen. Denn - wie bereits erwähnt - gibt es im Fließtext keinerlei Hinweise auf die im Anhang diskutierten Probleme, die von biografischen Details - zum Beispiel ob Michelangelo wirklich im Haus Lorenzo il Magnificos gelebt hat - bis zu Fragen der Zuschreibung reichen. So behauptet Beck beispielsweise im Haupttext apodiktisch, dass das Holzkruzifix, das Michelangelo laut den frühen Biografien für S.Spirito angefertigt hat, immer noch verschollen sei. Erst im Anmerkungsteil erfährt der Leser, dass Beck mit dieser Behauptung im Rahmen einer kontrovers geführten Debatte um die Zuschreibung des in der Casa Buonarroti in Florenz gezeigten Holzkreuzes Stellung bezieht.
Da das Buch von Beck auch nicht als Essay oder als literarischer Text aufgefasst werden kann, muss man doch den Maßstab für eine wissenschaftliche Arbeit zu Grunde legen und zu dem Schluss gelangen, dass Beck diesem in formaler Hinsicht nicht genügt. Wie sieht nun der Inhalt aus? Legt Beck seiner Abhandlung eine These zu Grunde? Explizit formuliert er nur das bereits erwähnte Anliegen, dem Menschen Michelangelo näher kommen zu wollen. Dieses von vornherein zum Scheitern verurteilte Projekt kulminiert im Abdruck der Inventarliste, die kurz nach dem Tod des Künstlers von den Habseligkeiten in seinem Haus in Rom erstellt wurde. Diese Liste, die über Michelangelos sparsamen Umgang mit Möbeln und Kleidung Auskunft gibt, soll nun endlich den "authentischen Michelangelo" (238) näher bringen und wird von Beck am Ende seines Buches als "unbeabsichtigtes Prosagedicht" (239) gefeiert. Doch entgegen dem Wunsch des Autors, der den aufgeführten Objekten den Status von imaginierten Reliquien zu verleihen scheint, kündet gerade die Inventarliste vom Tod Michelangelos und vom endgültigen Entzug seiner Existenz. Gerade diese Einsicht müsste dazu führen, den Konstruktionscharakter jeglicher biografischen Darstellung zu untersuchen. Dies gilt freilich in besonderem Maße für die grundlegenden Biografien Vasaris und Condivis, auf die sich auch Beck implizit stützt. Doch die rhetorisch fundierte topische Verfasstheit dieser Quellentexte, die ja auch in der kunstgeschichtlichen Forschung hinreichend bekannt ist, scheint für Beck keine Rolle mehr zu spielen. Welches Bild des "authentischen Michelangelo" konstruiert nun aber James Beck? Es fällt auf, dass am Anfang und am Ende der biografischen Studie Michelangelo als Visionär geschildert wird. Und dies nicht in künstlerischer Hinsicht zur Demonstration seines Ingeniums, sondern in geradezu prophetischer Manier. So referiert Beck ohne weitere quellenkritische Stellungnahme ausführlich den Bericht Condivis von Michelangelos Traum, in dem ihm der bereits verstorbene Lorenzo il Magnifico erschienen sei, um seinen Sohn Piero de Medici vor einer Vertreibung aus Florenz zu warnen. Am Ende seines Buches zitiert Beck aus den weniger bekannten Schriften Fra Benedetto Luschinos, der Michelangelo die Vision eines Kometen zuschreibt, der als himmlisches Zeichen die Prophezeiungen Savonarolas bestätigen soll. Mit anderen Worten, Beck liefert hier noch einmal Argumente für den alten Topos vom Genie als außergewöhnlichem Individuum, wenngleich er andererseits darum bemüht ist, die "Normalität" des Künstlers herauszustellen. So erfahren wir, dass Michelangelo entgegen dem von Vasari begründeten Topos - der freilich in der Verschränkung von künstlerischer Manier und persönlichem Charakter kunsttheoretisch fundiert war - nicht als "terribile" gelten dürfe, sondern "als Mensch ein sanftes und mitfühlendes Temperament besaß" (187). Dies zeigt sich für Beck vor allem darin, dass Michelangelo zeit seines Lebens um das Wohlergehen seiner Familie und vor allem seines Vaters bemüht war.
Allen selbst ausgesprochenen Warnungen zum Trotz, zwischen Mensch und Werk streng unterscheiden zu wollen, nutzt Beck nun doch die Ergebnisse seiner Charakterstudie, um die Kunstwerke Michelangelos zu deuten. Dabei nimmt die Interpretation des Deckenfreskos der Sixtinischen Kapelle den größten Raum ein, denn - so lautet die These - "durch kritische Auswahl soll ein bislang nicht gefundener Zugang zur Vorstellungswelt des Künstlers eröffnet werden" (198). Konkret heißt dies, dass Beck eine neue Gliederung der neun zentralen Freskenfelder vorschlägt: Im Zentrum stehe demnach das Fresko von der Erschaffung Evas, gerahmt von zwei Vierereinheiten. Als Präfiguration Marias verweise Eva auf die Tatsache, dass die Kapelle der Himmelfahrt Mariae geweiht ist. Doch vor allem ist Beck auch hier an einer biografischen Deutung interessiert. Denn - wie bereits erwähnt - verweise die Urmutter nicht nur auf die Mutter Christi, sondern auch auf Michelangelos eigene Mutter. Besonders problematisch ist diesbezüglich die Interpretation des Freskos der Sintflut. Die Figurengruppe des älteren Mannes, der einen jüngeren trägt, wird hier auch entgegen jeglichem Augenschein als "Illustration von Michelangelos Liebe zum eigenen Vater" (218) gedeutet. Unterschwellig scheint Beck hier gegen komplexe ikonographische und ikonologische Interpretationen zu opponieren und dies scheint auch die mitgeführte implizite These seiner Arbeit zu sein.
Gegen eine "biographie intellectuelle", die auch die intellektuellen Milieus mit berücksichtigt, in denen sich Michelangelo bewegte, wäre nichts einzuwenden gewesen. Im Gegenteil. Doch die biografische Deutung von James Beck greift eindeutig zu kurz.
Gerald Schröder