Anne-Margarete Brenker: Aufklärung als Sachzwang. Realpolitik in Breslau im ausgehenden 18. Jahrhundert (= Hamburger Veröffentlichungen zur Geschichte Mittel- und Osteuropas; Bd. 8), München / Hamburg: Dölling und Galitz 2000, 367 S., ISBN 978-3-933374-73-8, DM 48,00
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Was Aufklärung ist, wissen wir alle seit Immanuel Kant. Wie man aber Aufklärungsgeschichte schreibt, kann immer wieder eine Herausforderung sein, zumindest dann, wenn man nicht bei den aufklärerischen Ideen stehen bleiben möchte, sondern an der Frage interessiert ist, welche gesellschaftlichen Auswirkungen die Reformdiskurse hatten. Anne Brenker hat sich diese Aufgabe anhand der schlesischen Stadt Breslau gestellt, deren Habsburger Ära mit dem Einmarsch der Truppen Friedrichs II. 1741 beendet wurde, und die schließlich in den Rang der dritten Haupt- und Residenzstadt Brandenburg-Preußens erhoben wurde.
Die Stadt hatte um die Mitte des 18. Jahrhunderts rund 60.000 Einwohner, betrieb intensiven Handel (mit Tuche, Wolle, Tabak, Wachs, Talg) vor allem mit östlichen und südöstlichen Ländern, war aber durch Oder und Elbe als Handelswege auch mit dem Westen verbunden. Konfessionell gesehen, lebten in der Stadt mindestens zwei Drittel Lutheraner, der Rest setzte sich aus Katholiken, Reformierten und Juden zusammen. Anders aber war das Verhältnis auf dem Land, wo die habsburgische Rekatholisierungspolitik weitestgehend gefruchtet hatte. Auch eine polnische Minderheit war in der Stadt so präsent, dass Polnisch in den Schulen unterrichtet wurde und es polnische Gottesdienste gab. Nach der Machtübernahme musste also auf mehreren Ebenen Überzeugungsarbeit geleistet werden, erstens auf konfessioneller Ebene (hier wurde versucht, städtische Verwaltungseinrichtungen gemischtkonfessionell zu besetzen), zweitens auf Regierungs- und Verwaltungsebene (durch Auflösung vor allem der städtischen Behörden, unter denen insbesondere der Magistrat eine starke Instanz bildete sowie durch die allmähliche Durchsetzung der preußische Reformen) und drittens auf der Ebene der Identifikation mit dem neuen Landesherrn bzw. mit dem Staat, die nach Einschätzung Brenkers aber eher gescheitert ist, da sich nicht zuletzt auf Grund der geografisch abseitigen Lage Schlesiens und der großen Entfernung von der preußischen Zentralverwaltung in Berlin ein ausgeprägtes Regionalbewusstsein herausgebildet habe.
Warum eine Untersuchung über eine Stadt, in die im 18. Jahrhundert eine absolutistische Verwaltung eingepflanzt wurde, für die in früheren Abhandlungen (Rudolf Ritscher 1912; Hellmut Eberlein 1957) religiös bedingte Grenzen der Aufklärung konstatiert wurden, und in der der Popularphilosoph Christian Garve um 1800 sich über Einsamkeit und mangelnden Austausch beklagte? Brenker geht es darum, zu zeigen, dass auch eine Stadt im Kräftespiel des aufgeklärten Absolutismus Gestaltungsmöglichkeiten haben konnte und dass der Breslauer Magistrat bis zu einem gewissen Grad eine eigenständige Politik betreiben konnte (275). Die Autorin versucht deshalb in einem genuinen Ansatz, Verwaltungsgeschichte mit Aufklärung zusammenzubringen, indem sie in den vier zentralen Bereichen Bildungswesen, Medizinalwesen, Armenwesen und in der Debatte um die Emanzipation der Juden untersucht, wessen Vorstellungen sich mit welchen Argumenten durchsetzen konnten.
Dem Hauptteil der Arbeit über diese "Realpolitik" (133-272) vorangestellt ist nach der Entwicklung der Fragestellung und einem Überblick über die deutsche und polnische Forschung sowie die Quellen (11-28) je ein Kapitel über die Foren der Öffentlichkeit in Breslau (37-78) und die städtischen Verwaltungsebenen (79-132). Der deutschen Zusammenfassung folgt eine weitere in polnischer Sprache (279-286), ein vierzigseitiges Personenverzeichnis mit Kurzbiographien über die (durchweg männlichen) Trägerschichten der Aufklärung innerhalb der städtischen Bevölkerung sowie ein Verzeichnis der Quellen, deren ungedruckte Teile aus dem Staatsarchiv und der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Breslau und dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin stammen. Ein Literaturverzeichnis (338-366) bildet den Abschluss.
Um einen Eindruck von dem öffentlichen Leben in der Stadt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu gewinnen, analysiert Brenker zunächst die reformorientierten Zirkel und Gesellschaften, die sich in Breslau insgesamt eher pragmatisch orientiert als aufgeklärt diskursivierend ausnehmen (78). Die aufklärerische Öffentlichkeit - so wird der Begriff seit Habermas verwendet - wurde gebildet durch ein gelehrtes Bürgertum, das sich in vorwiegend privatem Rahmen ohne - zumindest ohne ständisch begründete - Zugangsbeschränkungen traf, und das sich über eine ganze Bandbreite sozialer, politischer, religiöser, naturwissenschaftlicher und kultureller Fragen unterhielt. Zudem strebten diese Aufklärungsgesellschaften auch soziale Veränderungen an.
Brenker konnte für Breslau die Namen von über fünfhundert Bürgern zusammentragen, die in wenigstens einer der folgenden Gesellschaften tätig waren, - in der Ökonomischen und Patriotischen Societät und der schlesischen Provinzial-Ressource (als staatstragende Gesellschaften); im orthodox ausgerichtete Freundeskreis um Hermann Daniel Hermes, der sich vor allem schulpolitischen Themen widmete; im konservativen Kreis um den Rektor des Elisabethengymnasiums, Johann Caspar Arletius; ferner in mehreren Lesegesellschaften, der 1765 gegründete Ressource, in den Kreisen um Christian Garve, Johann Gottlieb Schummel, Wilhelm Gottlieb Korn sowie in der Klubgesellschaft auf der Taschengasse als aufklärerischen Gesellschaften und schließlich zwei revolutionären Kreise, deren Engagement aber nicht primär der Stadt galt. Bezeichnenderweise waren hierunter kaum Ratsmitglieder vertreten, sondern eher die Verwaltungsbeamten, ferner aber auch Lehrer, Ärzte, Chirurgen, Apotheker, Kaufleute und einige Handwerksälteste (im Großen und Ganzen männlich und protestantisch, wenngleich die Konfession in manchen Zirkeln keine Rolle mehr gespielt haben soll). Politischen Einfluss gewannen die Aufklärer vor allem über Gutachter- und Beratertätigkeiten sowie im Rahmen der Ausübung von Ehrenämtern.
Aufklärung, realpolitisch betrachtet, heißt aber auch zu fragen, wie und durch wen Reformen in eminent städtischen Bereichen betrieben wurden. Hier geht es in der Tat zuerst einmal darum, die Instanzen der Politik und Verwaltung zu beschreiben. Es gab auch nach den friderizianischen Reformen noch einen Magistrat, der aber im Vergleich zu der Zeit vor 1740 weitaus weniger Kompetenzen hatte und in eine Art Verwaltungseinrichtung umgewandelt wurde. Abgrenzungsprobleme gab es immer wieder mit den staatlich-preußischen Behörden, die dem Magistrat übergeordnet waren, wie der Oberamtsregierung (Landesjustiz) sowie der Kriegs- und Domänenkammer (oberste Finanzbehörde, die aber zugleich für militärische und polizeiliche Angelegenheiten sowie für die administrative Jurisdiktion zuständig war). Trotz dieser zentralistischen Verwaltungsorganisation, in der lange Zeit ein Grund für Preußens Aufstieg gesehen wurde, wurde Reformpolitik aber nicht nur "top down" gemacht, indem eine dem preußischen Generaldirektorium unterstellte Kammer die Richtlinien vorgab. Der Weg konnte, insbesondere wenn es um städtische Belange ging, über die auch die Aufklärer der Stadt debattierten, auch ungekehrt verlaufen, indem der Magistrat eine Vorlage machte und ein Gesuch an die Kammer richtete. Daraus ergab sich nicht selten ein reger Schriftwechsel über die Ausgestaltung der beantragten Sache. In den exemplarisch vorgestellten vier Bereichen beabsichtigte die staatliche Zentralgewalt ihre schwache Position auszubauen, stärker zu vereinheitlichen oder Sonderrechte aufzulösen.
Andererseits deckten sich die Ansichten der Breslauer Aufklärer nicht unbedingt mit den preußischen Reformvorstellungen. Große Widerstände gab es bei den Schulreformen, größeren Erfolg hatte die staatliche Beeinflussung dagegen durch Gründung neuer Institutionen (statt komplizierter Reformen) im Medizinalwesen. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit dem "fürsorgenden" und "vorsorgenden" Umgang mit Armut. Die preußische Judenpolitik schließlich zielte auf den Eingriff in die jüdische Gemeindeautonomie ab, während die Stadt ihre angestammten Rechts- und Finanzinteressen vertrat.
Ein Blick auf die französische Forschung zur Aufklärung (Daniel Roche, Michel Vovelle) hätte der Studie meines Erachtens sicher nicht geschadet; Claus Altmayers Buch sollte zu Christian Garve herangezogen werden; weniger Tipp- und Zeichensetzungsfehler würden das Auge leichter über den Text gleiten lassen. Insgesamt aber handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine gelungene lokalgeschichtliche Studie, die die Politik der Aufklärung mit all ihren Sachzwängen unter die Lupe nimmt und einen lesenswerten, flüssig geschriebenen Beitrag zur Geschichte einer frühneuzeitlichen Stadt darstellt, in die ein Reisender des 18. Jahrhunderts von Berlin aus zwar drei bis vier Tage unterwegs war (29), die uns aber mit heutigen Kommunikationsmitteln viel näher liegen müsste, als es die derzeitige Forschungslage widerspiegelt.
Susanne Rau