Von Sebastian Elsbach
Die Rezension von Benjamin Ziemann zu meiner Dissertation enthält einige kritische Punkte, auf die ich eingehen möchte. Im Zuge einer jeden wissenschaftlichen Auseinandersetzung sind Zuspitzungen sicherlich unvermeidlich und vielfach sogar willkommen. Eine Beschränkung allein auf gewaltsame Aspekte der Organisationsgeschichte des Reichsbanners hätte sicherlich das Buch verkürzt und mir Arbeit erspart, dies hätte aber ein einseitiges, allzu 'blutiges' Bild vom Reichsbanner gezeichnet, das der historischen Realität Unrecht getan hätte.
Das Leitmotiv der Untersuchung ist - wie schon der Untertitel ankündigt - also nicht allein die Gewalt, sondern primär der Republikschutz und dies umfasst vom Saalschutz, Feindbeobachtung und Geländeübungen, über die Lobby-, Erinnerungs-, Wahlkampf-, Jugend-, Bildungs- und Propagandaarbeit die gesamte Tätigkeit des Reichsbanners als überparteilicher Republikschutzorganisation. Dass Ziemann in diesem Kontext mit Formulierungen wie "dem Namen nach" und "offiziell" hantieren zu müssen meint, mag seinem SPD-Milieuzentrierten Forschungsansatz geschuldet sein. Die von Karl Rohe aufgestellte Behauptung, dass das Reichsbanner vom SPD-Parteivorstand gesteuert wurde [1], ist jedenfalls falsch und zeugt von einem naiven Politikverständnis mancher seiner Interviewpartner. Genau ein solches Abhängigkeitsverhältnis drückt aber die Formulierung vom "roten" bzw. "sozialdemokratischen Reichsbanner" aus. Dass das Reichsbanner über dessen Mitglieder im sozialistischen Milieu verankert war, bestreite ich ja nicht (34 f.). Mir geht es um die "organisatorische und geistige Unabhängigkeit von den Parteistrukturen der SPD" (33) und den Umstand, dass zur Mitgliederstruktur eben nur Schätzungen verfügbar sind. Genau benennen lässt sich hingegen die Struktur des Reichsausschusses des Reichsbanners, wo rund 30% bürgerliche Republikaner vertreten waren (32 f.). Auch die von Ziemann genannte Schätzung von 90% sozialdemokratischen Reichsbannermännern würde bedeuten, dass bei 1,5 Millionen Mitgliedern rund 150.000 bürgerliche Republikaner dem Bund angehört haben müssten. Diesen bürgerlichen Beitrag zum Schutz der Republik sollte man nicht dadurch kleinreden, dass man das Reichsbanner zu einer reinen Vorfeldorganisation der SPD erklärt. Ziemann hat sich ja selbst mit prominenten linksliberalen Reichsbannermitgliedern wie Berthold von Deimling befasst [2]. Weitere prominente Demokraten wie Hugo Preuß (DDP) oder Carl Spiecker (Zentrum) könnte man anführen, wobei die biographische Erschließung des Reichsbanners noch am Anfang steht [3]. Erst das Miteinander von Sozialdemokraten, Linksliberalen und Zentrumsanhängern im Geiste der Weimarer Koalition machte das Reichsbanner zu einer zivilgesellschaftlichen Stütze der Republik und ich sehe keinen Grund vom historischen Selbstverständnis des überparteilichen Reichsbanners abzurücken. Auf die Erfolge und Grenzen dieser partei- und milieuübergreifenden Mobilisierung weise ich durchgehend hin (u.a. 163-168, 170-174, 188-191) und arbeite die Wandlung zur sozialdemokratisch dominierten Eisernen Front heraus (405-426). Auch die Geschichte des Reichsbanners sollte nicht (nur) von ihrem Ende her gedacht werden.
Zum Thema der Gewaltkultur muss ich wohl erneut hervorheben, dass Gewaltkultur, Gewaltstrategie und physische Gewalt sich zwar gegenseitig bedingen (23-27), aber analytisch zu trennen sind (Gefühl, Bewusstsein und Tat). Ersteres beschreibt in wertneutraler Absicht jene kulturellen Praktiken, die Gewalttaten legitimieren bzw. emotional ermöglichen und oft ihrerseits das Ergebnis von gewaltsamen Erfahrungen sind. Jede Organisation (egal ob Armee, Polizei oder Wehrverband), die erfolgreich Gewalt ausübt, verfügt zwingenderweise über eine Gewaltkultur, die sich beispielsweise im Korpsgeist oder einer martialischen Außendarstellung manifestieren kann. Mit "Gewaltkultur" meine ich also nicht, wie Ziemann es darstellt, dass das Reichsbanner einer offensiven Gewaltstrategie verpflichtet gewesen sei oder reihenweise Nationalsozialisten 'ermordet' hätte. Auch eine defensive Gewaltstrategie, wie sie vom Reichsbanner verfolgt wurde (21-23), setzt selbstverständlich voraus, dass Organisationsmitglieder bereit und in der Lage waren, physische Gewalt auszuüben, die in extremen Ausnahmefällen (<1%) tödlich verlaufen konnte (460 u. 581). Die defensive Grundhaltung des Reichsbanners wurde ja bereits von Dirk Schumann überzeugend herausgearbeitet [4], doch möchte ich hinzufügen, dass es auch "aggressive Gewaltopfer und defensive Täter" geben kann (580), wofür ich einige Fallbeispiele anführe (286 u. 450 f.). Bei den Auseinandersetzungen zwischen dem Reichsbanner und der SA kamen meiner statistischen Erhebung zufolge, die Ziemann komplett unerwähnt lässt, rund 90 Reichsbannermitglieder und 60 Nationalsozialisten zu Tode (278, 460 u. 554). Hinzu kommen schätzungsweise mehrere Tausend Verletzte auf beiden Seiten (38 f. u. 460). Die Nachweise zu den Geländeübungen des Reichsbanners, die Ziemann in seiner Rezension vermisst, finden sich auf Seite 230 und nicht auf Seite 232. "Geländespiele", "Alarmübungen", "Nachtübungen" und verwandte Formulierungen weisen in diesem Kontext immer auf eine paramilitärische Tätigkeit hin. Dass die Berliner Schufo nur 600 Mann umfasst haben soll, ist eine fragwürdige Aussage, die Ziemann von Detlef Schmiechen-Ackermann übernommen hat [5], der GStA PK, I. HA, Rep. 219/28, Bl. 60 anführt, aber aus mir unerfindlichen Gründen Bl. 66 übersieht, wo diese Zahl auf 8.-9.000 Mann nach oben korrigiert wird. Auf der Berliner Gauebene gab es hieraus abgeleitet wahrscheinlich drei- bis viermal, also 24.-36.000 Schufos, was grob meiner Angabe von 103.000 Reichsbannermännern im Berliner Gau entspricht (118). Auch ohne dieses Quellenwissen könnte man leicht feststellen, dass bei einer geschätzten Gesamtstärke der Schufo von 250.000 Mann [6] die Berliner Ortsgruppe nicht aus 600 Mann bestanden haben kann und eine Organisation, die in der Reichshauptstadt nur ein kleines Häufchen Bewaffneter hätte zusammenrufen können, wäre für die "Entscheidungsschlacht" um die Republik völlig irrelevant gewesen. Insofern ist Ziemanns knappe Würdigung meines V. Abschnitts (479-566) nicht schlüssig, da das Verhalten des Reichsbanners nach dem Preußenschlag eben nur deswegen interessant ist, weil ich von einem erheblichen republikanischen Gewaltpotential ausgehe, welches Ziemann ja abstreitet. Dass auch die SA in der Öffentlichkeit mit überhöhten Stärkeangaben arbeitete und ein Unterschied zwischen aktiven und passiven SA-Männern bestand, stelle ich hier mal unkommentiert in den Raum, weil mir scheint, dass dies in der NS-Forschung noch zu wenig beachtet wird [7]. Dem Nachrichtendienst des Reichsbanners zufolge umfasste die SA im Herbst 1931 nur 80.-100.000 aktive Mitglieder, was offenkundig weniger ist als bei der Schufo (118).
Auf Ziemanns pauschale Kritik meiner Ausführungen zum Nationalrepublikanismus möchte ich nur knapp eingehen, da ja praktisch alle Arbeiten zum Reichsbanner eine Mischung aus demokratischer und nationalistisch-großdeutscher Ausrichtung in der Propaganda der Organisation festgestellt haben. In jüngerer Zeit sprach etwa Nadine Rossol vom "republican nationalism" und Erin R. Hochman richtete ihre Dissertation an diesem Begriff aus [8]. Mir ist es wichtig zu betonen, was ebenfalls von anderen Autoren bereits bemerkt wurde (122, Anm. 39), dass der starke Zusammenhang von Nationalismus und der Legitimation von Gewalt prinzipiell auch für das Reichsbanner und dessen demokratische Spielart des deutschen Nationalismus gilt. Aber ich verurteile dies nicht pauschal, sonder begreife den Nationalrepublikanismus im Kontext der aufgeheizten Weimarer Innenpolitik als integralen und notwendigen Bestandteil des Reichsbanners. Selbst die Weimarer Kommunisten kamen ja nicht ohne nationalistisches Gedankengut aus und wenn ich in meinem Kapitel zur Einheitsfront von "Chancen" schreibe, heißt dies nicht, dass diese Chancen groß waren. Sie waren aufgrund der ideologischen Differenzen und der (statistisch betrachtet sehr seltenen) Gewalt zwischen Reichsbanner und KPD lokal eng begrenzt. Hinzu kam, dass die Kommunisten im Hinblick auf ihre geringeren paramilitärischen Kapazitäten auf Reichsebene kein attraktiver Partner für das Reichsbanner sein konnten (442-447). Wie schon im Falle der SA sollte die Aggressivität der Kommunisten nicht automatisch als Gewaltkompetenz interpretiert werden. Und abschließend noch zum Vorwurf der "problematischen Präsentation": ein Sach-, Personen- und Ortsregister, das Literaturverzeichnis, der ausführliche Anhang und das detaillierte Inhaltsverzeichnis ermöglichen eine schnelle Orientierung in meinem Buch.
Anmerkungen:
[1] Karl Rohe: Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur der politischen Kampfverbände zur Zeit der Weimarer Republik, Düsseldorf 1966, 337 f.
[2] Benjamin Ziemann: Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918-1933, Bonn 2014, 233-239.
[3] Michael Dreyer: Hugo Preuß. Biografie eines Demokraten, Stuttgart 2018; Claudius Kiene: Karl Spiecker, die Weimarer Rechte und der Nationalsozialismus. Eine andere Geschichte der christlichen Demokratie, Berlin [u.a.] 2020.
[4] Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918-1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001.
[5] Detlef Schmiechen-Ackermann: Nationalsozialismus und Arbeitermilieus. Der nationalsozialistische Angriff auf die proletarischen Wohnquartiere und die Reaktion in den sozialistischen Vereinen, Bonn 1998, 401.
[6] So auch Schmiechen-Ackermann (ebd., 399).
[7] Daniel Siemens: Sturmabteilung. Die Geschichte der SA, München 2019, 79-81 u. 208.
[8] Nadine Rossol: Performing the Nation in Interwar Germany. Sport, Spectacle and Political Symbolism, 1926-36, Basingstoke [u.a.] 2010, 80-84; Erin R.Hochman: Imagining a Greater Germany. Republican Nationalism and the Idea of Anschluss, Ithaca / London 2016.
Anmerkung der Redaktion: Benjamin Ziemann hat auf eine Replik verzichtet.