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Lenka Bobková (Hg.): Exulanti z Prahy a severozápadních Cech v Pirne v letech 1621-1639 [Exulanten aus Prag und Nordwestboehmen in Pirna in den Jahren 1621-1639] (= Documenta Pragensia Monographia; Bd. 8), Praha: Scriptorium 1999, LXIV + 228 S., ISBN 80-86197-05-0, Kc 259,00

Rezensiert von:
Alexander Schunka
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Die anzuzeigende Quellenedition widmet sich einem Gebiet der Geschichte der Frühen Neuzeit, dem in der Forschung zu Unrecht bislang nicht die angemessene Aufmerksamkeit zuteil wurde: der böhmischen Migration nach Sachsen im 17. Jahrhundert. Gemessen etwa am jährlichen Ausstoß im Bereich der Hugenottenforschung ist es geradezu erstaunlich, wie wenig man sich bisher um die sogenannten Böhmischen Exulanten kümmerte, die in Höhe von vermutlich weit mehr als 100.000 Personen nach der Schlacht am Weißen Berg ihr Heimatland verließen, um den habsburgischen Rekatholisierungsmaßnahmen, politischer Verfolgung, wirtschaftlichen Repressalien und sozialen Schwierigkeiten zu entgehen. In mehreren Wellen wandten sich während des 17. Jahrhunderts vor allem die Lutheraner unter ihnen nach Kursachsen. Dies gab der kursächsischen Verwaltung Anlass zu einer regen Erfassungs- und Kontrolltätigkeit mit dem Ziel, die Neuankömmlinge zu überwachen, sie - bedingt - zu integrieren und die Fähigkeiten der Immigranten für den Aufbau des Staates nutzbar zu machen. Kein Wunder, dass in sächsischen Archiven eine beachtliche Masse an Quellen lagert - von administrativem Material bis hin zu Ego-Dokumenten -, mit deren Hilfe sich Zuwanderung, Siedlungsformen, Sozial- und Wirtschaftsleben der Einwanderer, ferner ihre Akkulturation, Kulturtransfer oder Fremdheitserfahrungen rekonstruieren lassen.

Der nötige Aufwand sächsischer Organe, um eine langsame Einbeziehung von Immigranten in politische, rechtliche oder kulturelle 'Teilzusammenhänge' (Klaus J. Bade) voranzutreiben, zeigt sich etwa an einer Quellengattung, die zunächst etwas spröde wirken mag: den Exulantenverzeichnissen, die fuer zahlreiche sächsische Städte existieren, in denen sich die Zuwanderer in größerer Zahl niederließen. Die Verzeichnisse der Stadt Pirna vor den Toren Dresdens aus den Jahren 1629, 1631 und 1636 liegen nun in einer vorbildlichen Edition gedruckt vor. Pirna lag verkehrstechnisch günstig an der Elbe, nahe der Grenze zu Boehmen, und für viele Zuwanderer war es leichter, in Pirna Aufnahme zu finden als in der benachbarten Residenzstadt Dresden, da dort restriktivere Zuzugsbedingungen galten. Dadurch sah sich die Stadt Pirna bald einem Ansturm von böhmischen Zuwanderern gegenüber, die im Jahre 1629 einen Bevölkerungsanteil von ca. 2000 Immigranten gegenüber 4000 Einheimischen ausmachten. Die Exulantenverzeichnisse, die die kurfürstliche Kanzlei beim Pirnaer Magistrat in Auftrag gab, dokumentieren diese Entwicklung, ebenso wie sie die Lebensumstände der Zugewanderten aufscheinen lassen, die selbst zunächst meist keine dauerhafte Emigration erwogen, sondern viel eher auf eine Rückkehr hofften. Die Listen gliedern sich zunächst nach den pirnischen Stadtvierteln und Haushalten. Unter jedem Haushalt sind die dort aufgenommenen Personen mit Namen - vor allem dem Namen des Familienoberhaupts - Angehörigen, Gesinde und Besitz bzw. Vermögensverhältnissen sowie oft mit Herkunftsort, Stand und beruflicher Tätigkeit verzeichnet. In einigen Fällen wurden in einem einzigen Haus mehr als zwanzig Personen aufgenommen, wobei es sich dann oft um eine einzige adelige Familie mit ihrem Gesinde handelte (15). Ärmere Zuwanderer, die einem Handwerk nachgingen oder "umb Lohn" bestimmte Dienstleistungen ausführten, wohnten mitunter zu mehreren Familien bei einem Gastgeber. Die Auswahl des Wirtshaushaltes scheint nicht ganz zufällig vor sich gegangen zu sein, denn oft wohnten Einzelpersonen aus denselben Ursprungsorten auch in Pirna zusammen, so dass eine gemeinsame Flucht, eine Bekanntschaft oder Verwandtschaft in der alten Heimat oder auch nur eine gewisse kollektive Heimatverbundenheit naheliegt - dies trifft im Exulantenverzeichnis von 1631 nicht nur auf die besonders zahlreichen Bewohner von Prag und Leitmeritz (Litomerice) zu, sondern etwa auch auf den Kürschner Ambrosius Richter aus Beroun, der mit acht anderen, offensichtlich nicht nahe verwandten Personen aus demselben Herkunftsort nun in Balthasar Goerbigs Gartenhaus lebte (96). Ein Viertel der Haushaltsvorstände unter den 1631 aufgeführten Zuwanderern waren Frauen - eine erstaunliche Zahl, bei der es sich wohl kaum ausschließlich um Witwen gehandelt haben kann, insbesondere da nur wenige explizit als verwitwet bezeichnet werden. Die meisten Menschen "zehrten umb ihr Geldt", d. h. sie lebten von ihren Ersparnissen. So wäre es interessant, aus weiter reichenden Quellen zu erfahren, inwieweit die Zuwanderer zu einem wirtschaftlichen Aufschwung Pirnas beitrugen, indem sie die Nachfrage nach Konsumgütern ankurbelten, und wie die Immigranten von der ortsansässigen Bevölkerung gesehen wurden.

Laut der Liste von 1629 hatten nur 11 Personen das pirnische Buergerrecht erhalten (54). Weitere 21 Personen mit Buergerrecht werden im Verzeichnis des Jahres 1636 aufgeführt: Zehn von ihnen hatten sich "alhier ankaufft", elf hatten "das Burger Rechtt gewonnenn, aber nicht ankaufft" (130). Vergleicht man die Exulantenlisten von 1629 und 1631, so scheint es nur wenige personelle Verschiebungen gegeben zu haben. Im Vergleich dazu zeigt das Verzeichnis von 1636, dass sich die Anzahl der Boehmen insgesamt von etwa 2000 auf 1600 reduziert hatte - die Gründe lagen wohl vor allem in den Remigrationsversuchen zahlreicher Menschen im Zuge der Kriegswirren sowie in der zwischenzeitlichen Pestepidemie. Verändert hatte sich auch die Wohnsituation: Die Menschen lebten nun oft bei anderen Wirten und in anderen Stadtvierteln. Probleme und Umwälzungen innerhalb der böhmischen Gemeinde in Pirna sowie im Hinblick auf die örtliche Bevölkerung und die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges spiegeln sich allerdings nur indirekt in den Quellen wider.

Das Buch enthält eine ausführliche tschechische Einleitung, die Ereignisgeschichte, Forschungsstand und Auswertungsmöglichkeiten der Exulantenverzeichnisse aufzeigt, sowie eine deutsche Zusammenfassung. Zur Erschließung des Materials dienen ferner verschiedene Indizes, mit deren Hilfe sich einzelne Personen hinsichtlich der Ursprungsorte, ihrer Hauswirte in Pirna und der Erwähnung in den einzelnen Exulantenverzeichnissen verfolgen lassen. Zudem wird dort unter den Einträgen der einzelnen Zuwanderer auf Archivalien und Sekundärliteratur verwiesen, in denen sich weitere Hinweise zur jeweiligen Person befinden. Damit liegt ein genealogisch und sozialgeschichtlich vorzügliches Hilfsmittel vor, dessen Erschließbarkeit durch die genannten Indizes dem Benutzer Respekt vor der Leistung der Herausgeberin abverlangt. Leider besitzt das Buch keine Bibliographie.

Insgesamt stellt diese Edition ein interessantes Werk zur Erforschung der boehmischen Zuwanderung in Sachsen sowie für die Migrationsgeschichte der Frühen Neuzeit dar. Sein Wert in sozial- und mentalitätshistorischer Hinsicht dürfte sich zudem im Abgleich mit weiterem Quellenmaterial zur Thematik noch erhöhen.

Empfohlene Zitierweise:

Alexander Schunka: Rezension von: Lenka Bobková (Hg.): Exulanti z Prahy a severozápadních Cech v Pirne v letech 1621-1639 [Exulanten aus Prag und Nordwestboehmen in Pirna in den Jahren 1621-1639], Praha: Scriptorium 1999, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 2, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=98>

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