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Barbara Rommé (Hg.): Der Niederrhein und die Alten Niederlande. Kunst und Kultur im späten Mittelalter (= Schriften der Heresbach-Stiftung Kalkar; Bd. 9), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1999, 272 S., ISBN 3-89534-262-9, DM 68,00

Rezensiert von:
Johannes Kistenich
Westfälisches Staatsarchiv, Detmold

Vor wenigen Wochen wurde die St. Nicolai Kirche im niederrheinischen Kalkar nach mehrjähriger Restaurierung wieder eröffnet (vgl. Benedikt Erenz: Das Wunder von Kalkar. Drei Jahre wurde renoviert - jetzt erstrahlt die kleine Stadt am Niederrhein wieder im Glanz ihrer einzigartigen Altäre. In: Die Zeit Nr. 49 (30. November)/2000, S. 51). Zu deren Interieur zählt eine bestaunenswerte Vielzahl hochwertiger Bildschnitzarbeiten bedeutender Werkstätten des niederländisch-niederrheinischen Raums aus Spätmittelalter und Frühneuzeit. Die Ausstattung weckte wiederholt das Interesse der kunsthistorischen Forschung etwa von Fritz Witte, Friedrich Gorissen, Hans Peter Hilger und Guido de Werd. Unter den jüngeren Arbeiten ist insbesondere hervorzuheben die 1997 erschienene Studie von Barbara Rommé über "Henrick Douwerman und die niederrheinische Bildschnitzkunst an der Wende zur Neuzeit". Der von ihr herausgegebene, hier zu besprechende Sammelband umfasst Beiträge zu einer Tagung unter dem Titel "Der Niederrhein und die Niederlande. Kunst und Kultur im späten Mittelalter", die 1997 in Aachen begleitend zur Ausstellung "Gegen den Strom. Meisterwerke niederrheinischer Skulptur in Zeiten der Reformation (1500-1550)" stattfand. Den zentralen Gegenstand des Kolloquiums bildete die Einordnung der in der Ausstellung präsentierten Bildschnitzkunst in Kirchen auf dem Gebiet der alten Herzogtümer Kleve, Jülich und Geldern in die kulturhistorische Entwicklung Belgiens, der Niederlande und des Niederrheins. Einmal mehr dokumentiert der Band dabei für den Nordwesten des Alten Reichs die Notwendigkeit und die Tragfähigkeit einer zeitgenössische wie moderne kirchliche und territoriale Grenzen überwindenden Kulturraumforschung.

Den zwölf kunsthistorischen Beiträgen, die teilweise restauratorische Aspekte mit berücksichtigen, sind zwei Aufsätze zu Aspekten der historischen Rahmenbedingungen vorangestellt. Den Band beschließt die statistische Auswertung einer Besucherbefragung zur Aachener Ausstellung.

Einführend bietet Jutta Prieur-Pohl einen Überblick zur bereits wiederholt behandelten Reformationsgeschichte im Herzogtum Kleve (11-33). Ähnlich wie dies jüngst Wilhelm Janssen herausgearbeitet hat ("Gute Ordnung" als Element der Kirchenpolitik in den Vereinigten Herzogtümern Jülich-Kleve-Berg. In: Rheinische Vierteljahrsblätter, 61, 1997, 161-174), stand auch nach Meinung der Verfasserin die Kirchenpolitik der Herzöge von Jülich-Kleve-Berg unter dem Primat der Innenpolitik im Sinne der Wahrung des inneren Friedens und der Ordnung im Lande. Eine aus der Tradition des spätmittelalterlichen Kirchenregiments fortentwickelte Politik, die berechtigte Reformbestrebungen innerhalb der Kirche unterstützte, bedingt Neuerungen ohne enge theologisch-dogmatische Festlegung Raum bot und eine theologisch vermittelnde Position zwischen den sich herausbildenden Konfessionen einnahm, vermochte die individuelle Gewissensentscheidung in begrenztem Rahmen zu akzeptieren, machte andererseits jedoch den landesherrlichen Eingriff unabdingbar, wann immer öffentlicher Aufruhr und Umsturz ausgehend von religiösen Differenzen zu befürchten standen. Im Ergebnis förderte diese Kirchenpolitik die Herausbildung einer gemischtkonfessionellen Struktur in den vereinigten Herzogtümern. Interessant ist für den Kontext des Tagungsthemas insbesondere der Hinweis, dass es neben Bilderstürmerei auch nach dem Konfessionswechsel einer Bevölkerungsmehrheit zum Protestantismus wie in Büderich oder Wesel weiterhin Kunststiftungen beispielsweise für neues Altargerät und Aufträge zur Verschönerung von Altären oder Heiligenfiguren gab, wenn auch im Vergleich zu überwiegend katholischen Städten wie Kalkar oder Xanten in weit geringerem Umfang.

Im Anschluss gibt Klaus Militzer einen Überblick zur Rolle von Laienbruderschaften als Auftraggeber für Kunsthandwerker, vornehmlich am Beispiel der Stadt Köln (35-51) und kann dabei maßgeblich auf eigene Vorarbeiten zurückgreifen (v.a. "Quellen zur Geschichte der Kölner Laienbruderschaften vom 12. Jahrhundert bis 1562/63", Düsseldorf 1997). Nach begrifflichen Erläuterungen des Terminus "Laienbruderschaft", werden deren Entstehung, Entwicklung, Aufgaben und Organisation umrissen. Militzer erklärt den sprunghaften Anstieg solcher Bruderschaften seit der Mitte des 14. Jahrhunderts mit der Intensivierung der Spiritualität auch in der Laienwelt vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Schwarzen Todes: Totengedächtnis und Fürbitte für Lebende und Verstorbene boten Möglichkeiten, sein Seelenheil im Jenseits zu sichern. Genau dasselbe Motiv stand auch hinter den Stiftungen von Altären und liturgischem Gerät, deren Herstellung die Bruderschaften oder einzelne ihrer Mitglieder in großer Zahl bei Kunsthandwerkern in Auftrag gaben.

Diese beiden einführenden Beiträge stehen insgesamt wenig angebunden neben den folgenden kunsthistorischen Aufsätzen, die teilweise vorreformatorische Entwicklungen und Phänome behandeln und die Fragen des konfessionellen Zustands der Orte, für die Kunstwerke angefertigt wurden, oder nach den Auftraggebern zuweilen wenig oder gar keine Beachtung schenken.

In vorbildlicher und höchst anregender Weise gelingt es freilich Barbara Rommé durch eine Kombination kunsthistorischer und restauratorischer Befunde mit der Auswertung der umfassenden schriftlichen Überlieferung im Stadt- sowie im Pfarrarchiv die komplizierte Entstehungsgeschichte des Marienleuchters der Kalkarer Nicolai-Kirche geradezu minuziös aufzuklären bzw. plausible Thesen zu entwickeln und dabei den einzelnen Auftraggebern und den Künstlern (Henrick Bernts, Kerstgen van Rijngenberck, Henrick Douwerman, Arnt van Tricht) im Detail einzelne Entstehungsphasen und Elemente zuzuweisen (69-97). Dabei werden weitreichende Einblicke in Zeitgeschmack und Fertigungstechnik geboten.

Am Beispiel der spätgotischen Altäre der Nicolai-Kirche in Kalkar behandelt Christa Schulze-Senger die Verbreitung monochromer Fassungen (Holzsichtigkeit bzw. einfarbige Oberflächenbehandlung) von Bildwerken seit etwa 1500 auch am Niederrhein (99-109), während die ältere Forschung darin ein Phänomen des süddeutschen Raums gesehen hat. Noch bis in die 1490er Jahre hinein sind ursprünglich differenzierte farbige Fassungen nachzuweisen, wohingegen sich im folgenden Jahrzehnt die monochrome Ausführung durchsetzte.

Reinhard Karrenbrock stellt dem Leser in seinem Aufsatz den in der Forschung bislang wenig beachteten und in Kleve ansässigen Bildhauer Dries Holthuys vor (111-133). Trotz spärlicher Archivquellen gelingt dem Verfasser auf der Basis des Stilvergleichs die Zuweisung verschiedener in Holz- und Sandstein gearbeiteter Kunstwerke an Holthuys, wodurch dessen Oeuvre neu umrissen und bewertet werden kann. Demnach handelt es sich bei Dries Holthuys um einen der künstlerisch herausragenden Bildhauer am Niederrhein, dessen Wirken zwischen 1492 und 1505 nachweisbar ist.

Drei Beiträge stellen Christophorusstatuen in den Mittelpunkt der Ausführungen. Dabei bietet Ellen Wagner nach einer instruktiven Einführung in die Heiligenlegende, deren Entwicklung und Ausstrahlung einen Überblick über die Verbreitung solcher Statuen am Niederrhein (177-191). Zudem arbeitet die Autorin heraus, welche Aspekte der Legende von den Künstlern betont wurden. Fragen nach den Vorlagen für die Darstellungen, wie sie Wagner ebenfalls aufgreift, untersucht auch Henri L. M. Defoer in seinem Beitrag (135-145). Dabei verweist er hinsichtlich einer Christophorusstatue Henrick Douwermans aus Oud-Zevenaar auf die signifikante Ähnlichkeit mit Darstellungen in Handschriften bzw. Druckgrafiken des ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhunderts. Hier wie auch bei Antoniusdarstellungen habe Douwerman nachweisbar auf ältere Vorlagen zurückgegriffen. Mit derselben Christophorusdarstellung aus Oud-Zevenaar beschäftigt sich auch der Aufsatz von Marieke van Vlierden, in dem sie die Figur beschreibt und deren Restaurationsgeschichte schildert (146-161).

Ulrich Schäfer setzt sich zum Ziel, durch die stilistische Untersuchung des Gehäuses der Renaissance-Orgel der Kempener Propsteikirche dessen Entstehung aufzuklären (163-175). Dabei gelingt es ihm, interessante Aussagen über die Arbeitsweisen der Werkstatt herauszuarbeiten. Das Gehäuse wurde von der Konstruktion her als Möbelstück gebaut und zeigt deutliche stilistische Unterschiede zur zeitgenössischen sakralen Skulptur. Die Holzarbeiten am Gehäuse wurden demnach einem sehr guten Möbeltischler übertragen. Mindestens zwei Schnitzer arbeiteten an der Fassade, die einen geringen Bestand an Grundmustern verwendeten, die sie möglicherweise als Vorzeichnung auf dem Holz vorfanden. Die Schnitzereien waren in den für den Betrachter besser sichtbaren unteren Teilen deutlich sorgfältiger ausgearbeitet als in den oberen. Schäfer spricht in diesem Zusammenhang von "effektvoller Sparsamkeit".

Jan W. Klinckaert gelingt in seiner Abhandlung über den Schnitzer Jan Eerstenss van Schayck, dessen Wirken für den Zeitraum 1494-1527 in Utrecht archivalisch belegt ist, durch die Kombination kunsthistorischer Befunde und archivischer Überlieferung diesem Künstler die Anfertigung von vier Medaillons mit Abbildungen der Symbole der Evangelisten sowie von drei Kirchenvätern und schließlich einer Gottvaterdarstellung aus dem Victoria and Albert Museum London, aus dem Centraal Museum Utrecht bzw. aus dem Museum Catharijnenconvent in Utrecht zuzuweisen und ihre ursprüngliche Anbringung an der Sakristeitür der St. Martins Kathedrale in Utrecht zu klären (193-205).

Hinsichtlich der räumlichen Perspektive etwas anders orientiert ist der Beitrag von Sibylle Groß, die am Beispiel von Kreuzigungsreliefs die niederrheinisch/niederländischen Einflüsse auf den oberrheinischen Raum anhand einer Untersuchung des Muggensturmer Retabels (53-67) untersucht. Ergänzend zur bisherigen Forschungsmeinung, wonach solche Einflüsse v.a. in der Zeit des Wirkens von Niclaus Gerhaert van Leyden in Straßburg seit Beginn der 1460er-Jahre nachgewiesen sind, kann die Autorin Entsprechendes bis ins 16. Jahrhundert hinein nachverfolgen.

Zwei Beiträge führen die Bedeutung der Antwerpener Werkstätten für die Sakralkunst insbesondere am Niederrhein vor Augen. Ria de Boodt entwickelt aus der Zusammenschau von 76 auf Grund von Marken eindeutig der Antwerpener Produktion zugeschriebenen Retabelschreinen aus dem Zeitraum 1500-1560 eine fünf Gruppen umfassende Typologie der Schreinskästen und untersucht deren Einteilungsschemata (207-220). Es zeigt sich, dass es eine regelrechte Standardisierung der Antwerpener Schnitzretabel im Untersuchungszeitraum gab, deren Merkmale definiert und deren Entstehungszeit eingegrenzt werden können.

Godehard Hoffmann bietet einen Überblick zur Verbreitung Antwerpener Retabeln am linken Niederrhein (222-241). Ausgeführt werden für die quantitativ bedeutende Zahl aus dieser südniederländischen Metropole die Handelsbeziehungen und die große Produktionsrate, wurden dort doch nach standardisierten Vorgaben schnell und nicht selten von untergeordneten Werkstattmitgliedern nicht nur Einzelstücke für die individuellen Ansprüche der Auftraggeber, sondern zeitweise sogar ohne Auftrag (vorwiegend standardisierte Passions- und Marienretabel) kostengünstig für den Markt produziert. Auch dieser Beitrag gewährt instruktive Einblicke in die Arbeitsweise der Werkstätten: Die Auswertung von Infrarotaufnahmen ergibt, dass die Werkstattleiter häufig nur noch Unterzeichnungen (Vorzeichnungen) schufen und Hinweise auf die farbliche Ausgestaltung gaben, die dann von nicht selten mehreren Mitarbeitern an einem Objekt ausgeführt wurden.

Die Reihe der kunsthistorischen Beiträge beschließt eine Untersuchung von Klaus Leukers über den ursprünglichen Zustand und Ergänzungen am Franziskusretabel in der Skulpturensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin (243-253). Der Verfasser arbeitet heraus, dass es sich um ein Pasticcio handelt, für das Reliefs des Brüssler Bildschnitzers Pasquier Borman mit speziell angefertigten weiteren Skulpturen in einem ergänzten Schrein zusammengestellt wurden. Zur Ermittlung dieses Befundes wurden die kunsthistorischen Beobachtungen mithilfe dendrochronologischer Untersuchungen bestätigt und präzisiert.

Abschließend bietet die Auswertung einer Erhebung über die sozialdemographische Struktur der Ausstellungsbesucher von Mona Anette Schieren eine methodisch wie hinsichtlich der Ergebnisse anregende Fallstudie für Befragungen im Kulturbereich (254-265). Die Erhebung umfasst Alter, Geschlecht, Wohnort, Bildungsabschluss und Motive der Ausstellungsbesucher sowie deren Stellungnahmen zur Ausstellungsdidaktik und -präsentation.

Der Band ist insgesamt sorgfältig redigiert. Lediglich bei den Grafiken des letzten Aufsatzes sind einige Fehler unterlaufen. So fehlt bei Abbildung vier die Skalierung der x-Achse, bei Abbildung fünf sind die Zeilen der Tabelle verschoben, bei Abbildung sechs sind Wörter ineinander geschrieben. Erfreulich sind Auswahl und Qualität der Abbildungen sowie deren Platzierung in den Beiträgen. Ein Orts- und Personennamenregister wäre zur Erschließung wünschenswert gewesen. Dessen ungeachtet eröffnet der insgesamt ansprechend gestaltete Band aus kunsthistorischer, historischer, restauratorischer und museumsdidaktischer Sicht wichtige Einblicke in Methoden und Stand der Forschung zum niederrheinisch-niederländischen Kulturraum am Beginn der Frühneuzeit.

Empfohlene Zitierweise:

Johannes Kistenich: Rezension von: Barbara Rommé (Hg.): Der Niederrhein und die Alten Niederlande. Kunst und Kultur im späten Mittelalter, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1999, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 2, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=111>

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