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Roger Chartier: Au bord de la falaise. L'histoire entre certitudes et inquiétude, Paris: Albin Michel 1998, 293 S., ISBN 2-226-09547-0, FF 140,00

Rezensiert von:
Bettina Dietz
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München

"Au bord de la falaise" - ein Zitat (Michel de Certeaus, der so das Denken Foucaults charakterisierte) als Titel eines Buches voller Zitate, Referenzen und Anspielungen, die Chartier in drei Themenblöcken um einen Krater anordnet: den schleichenden Verlust des Vertrauens in die Allmacht eines seit mehreren Generationen identitätsstiftenden historiographischen Ansatzes. Chartier, selbst Exponent der Annales-Tradition, diagnostiziert Zweifel und Unsicherheit vor allem bei denjenigen, die im Bereich der "histoire intellectuelle" und der "histoire culturelle" an die Grenzen dessen stoßen, was sich mit Hilfe der vertrauten Instrumente und der eingeübten Verfahren beantworten lässt. Er konstatiert Risse in den Gewissheiten des Quantifizierens, das Verblassen von Interpretationsmodellen (vor allem des strukturalistischen, marxistischen und demographischen), die lange Zeit die französische Geschichtsschreibung dominiert hatten, die Auflösung etablierter begrifflicher Gegensatzpaare (wie zum Beispiel Produktion/Rezeption, Hochkultur/Volkskultur) und das Infragestellen scheinbar elementarer Kategorien (z.B. des so oft vorausgesetzten sozio-professsionellen Rasters oder des Klassenbegriffs im Allgemeinen).

In einem ersten Teil, "Parcours", durchläuft Chartier Regionen des historiographischen Feldes, in denen sich begrifflich und konzeptuell die Schwerpunkte verschoben haben: die Ansätze der französischen Mentalitätsgeschichte, die ihren Gegenstand als Rekonstruktion eines epochenspezifischen "outillage mental" oder einer "vision du monde" ursprünglich im Unbewussten, Automatischen und Kollektiven suchte, um dann auf konkrete Sinnstiftungs- und Aneignungsphänomene umzuschwenken (zum Beispiel im Bereich der Buch- und Leseforschung); oder, im Rückgriff auf Michel de Certeau (L'ecriture de l'histoire, 1975) und Paul Ricoeur (Temps et récit, 1983-85), das Bewusstwerden der Differenz zwischen vergangener Realität und ihrer Repräsentation im historiographischen Text - bei gleichzeitigem Festhalten an einem wahrheitsorientierten Erkenntnisanspruch; oder die Einsicht in die Tatsache, dass "ce qui est réel, en effet, n'est pas seulement la réalité visée par le texte, mais la manière même dont il la vise, dans l'historicité de sa production et la stratégie de son écriture" (59) und, daraus hervorgehend, das wachsende Interesse für zeit- und konstellationsbedingte formale Charakteristika von Repräsentationen der Vergangenheit in Texten, kulturellen Praktiken u.a.

Ein zweiter Teil greift die bereits zur Diskussion gestellten Diagnosen, Thesen und Anregungen noch einmal auf unter der leicht veränderten Perspektive eines neuen Darstellungsmodus. "Lectures" bietet Lesarten dreier Autoren, mit deren Oeuvre einige für die "histoire culturelle" und "intellectuelle" richtungsweisende Fragestellungen und Verfahren identifiziert werden: Michel Foucault und Le pouvoir, le sujet et la vérité, Michel de Certeau und Les arts de faire, Louis Marin und Pouvoirs et limites de la représentation.

Der dritte Teil verfolgt die Auflösung eindeutiger disziplinärer Grenzverläufe: den zwischen Geschichte einerseits, Geographie und Soziologie andererseits, bedingt durch das Schwinden der lange unangefochtenen Autorität der in der französischen Geschichtsschreibung triumphierenden Regionalgeschichte; den zwischen Geschichte und Philosophie angesichts des akuten Definitionsbedarfes grundlegender historiographischer Größen wie Raum, Zeit, Erkenntnis und Wahrheit (konkret diskutiert an der aktuellen Kontroverse um "history" versus "story" und den in diesem Spannungsfeld aufrechtzuerhaltenden Wahrheitsanspruch); den zwischen Bibliographie und (Kultur-)geschichte am Beispiel der Arbeiten Donald McKenzies an einer "analytical bibliography", die, in Abgrenzung zu rein semantisch orientierten Ansätzen, mit ihrem Postulat "form effects meaning" die materiellen Charakteristika eines Druckwerkes zum Gegenstand der Interpretation erhebt; und zuletzt - in dem einzigen Essay dieses Bandes, der nicht bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurde - den Grenzverlauf zwischen Geschichte und Literatur bzw. zwischen Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft.

"Chartier ist ein hervorragender Verwerter seiner selbst" - wie neulich jemand im Gespräch sagte. Trotzdem: "Au bord de la falaise" ist eine Fundgrube.

Empfohlene Zitierweise:

Bettina Dietz: Rezension von: Roger Chartier: Au bord de la falaise. L'histoire entre certitudes et inquiétude, Paris: Albin Michel 1998, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 2, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=100>

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