sehepunkte 25 (2025), Nr. 12

Jan Gerber: Das Verschwinden des Holocaust

Das Gedenken an die Shoa sieht sich seit einigen Jahren vermehrt Angriffen aus unterschiedlichen politischen Lagern ausgesetzt. Die neue Publikation von Jan Gerber, Leiter des Forschungsressorts Politik am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig, kommt daher wie gerufen. Sie widmet sich der Geschichte der Erinnerung an die Shoa und des Bewusstseins seiner Singularität und diagnostiziert ein gegenwärtiges "Verschwinden" dieses Wissens. Dafür wird ausdrücklich das Essay als Form der Darstellung gewählt, da es "nicht für Vollständigkeit, eine makellose Bibliografie und endgültige Antworten, sondern für eine Suchbewegung" (9) stehe.

Der Hauptteil des Buches setzt damit ein, wie bereits während des Zweiten Weltkrieges das Wissen um die geplante Vernichtung sämtlicher Juden durchsickerte und zu einer wenig beachteten Verurteilung durch zwölf alliierte Regierungen führte. Das geringe Interesse begründet Gerber mit dem allgemeinen Unglauben der Zeitgenossen und mit der Schwierigkeit, einen solchen Vorgang als Narrativ wiederzugeben. Das tatsächliche Ausmaß und die Bedeutung des Holocaust als singulärer, präzedenzloser Zivilisationsbruch sei während und unmittelbar nach dem Krieg nur von wenigen Menschen erfasst worden.

Dennoch wurde der Holocaust nach Kriegsende thematisiert und diskutiert, verschwand aber nach 1948 aus dem kollektiven Gedächtnis. Freilich waren die Gründe für dieses "große Vergessen" (107) unterschiedlich, wie Gerber überzeugend nachzeichnet. In den Tätergesellschaften wurde die Shoa etwa aktiv verschwiegen. Globalgeschichtlich waren andere Faktoren entscheidend: Die allgegenwärtige Drohung eines Atomkrieges ließ den Holocaust als Phänomen ohne aktuelle Relevanz erscheinen, und der technologisch geprägte Fortschrittsoptimismus erschwerte eine Auseinandersetzung mit dunklen Kapiteln der Vergangenheit.

Die Situation änderte sich nachhaltig erst mit der Ausstrahlung der Fernsehserie "Holocaust" 1978/79, die auch in der Bundesrepublik intensiv rezipiert wurde. Gerber führt zahlreiche Gründe an, weshalb diese Serie im Vergleich zu früheren filmischen Verarbeitungen ein deutlich größeres Echo hervorrief: Die Entspannungspolitik ließ die Gefahr eines Atomkriegs zurücktreten; eine allgemeine Liberalisierung der Gesellschaft hatte eingesetzt und die kritische Auseinandersetzung mit der Shoa ermöglicht; verschiedene Krisenerfahrungen diesseits wie jenseits des Eisernen Vorhangs dämpften den Fortschrittsoptimismus und ermöglichten den Blick in die Vergangenheit.

Den Höhepunkt dieser Entwicklung sieht Gerber nach dem Ende der Blockkonfrontation in den 1990er Jahren, als Steven Spielbergs "Schindlers Liste" dem Thema einen zusätzlichen Popularisierungsschub bescherte und in zahlreichen Ländern Holocaust-Gedenktage eingeführt wurden. Zugleich führte diese Entwicklung zu einer "Universalisierung" und "Entkernung" (247) des Holocaust, der zunehmend als Chiffre für Kriegs- und Menschheitsverbrechen aller Art benutzt wurde. Dieser Vorgang löste ihn aus seinem historischen Kontext und beraubte ihn seiner Singularität. Hauptverantwortlich für diese Entwicklung sind laut Gerber postkoloniale Denkansätze, die Leiderfahrungen anderer Opfergruppen trotz offensichtlicher Unterschiede an die Shoa heranführen und angesichts ihrer Fixierung auf die Color Line als einer Art gesellschaftlichem Hauptwiderspruch blind für ihre Spezifika bleiben. Der Holocaust droht also nicht nur durch Angriffe auf die Gedenkkultur zu verschwinden, sondern auch durch seine inflationäre Verwendung zur Skandalisierung verschiedenster Verbrechen und Leiderfahrungen, die in keinem Zusammenhang zu seiner historischen Realität und Bedeutung stehen.

Gerbers Auseinandersetzung mit der Geschichte des Shoa-Gedenkens ist lesenswert und anregend; seine Versuche, die verschiedenen Phasen zu kontextualisieren und zu erklären, überzeugen. Umso mehr erstaunt, wie blass, plakativ und bisweilen sachlich falsch die Darstellung jenes Ereignisses ist, um dessen Erinnerung es geht: "Die Vernichtung der Juden besaß gegenüber dem militärischen Erfolg absolute Priorität." (18) In dieser Zuspitzung ist die Aussage nicht haltbar. Gerber behauptet, dass die Mittel, Juden in die Lager zu transportieren, für den Nachschub gefehlt und die Deutschen damit "den drohenden eigenen Untergang" (18) in Kauf genommen hätten. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, wie die jüngere Forschung herausgearbeitet hat: Militärische Transporte hatten immer Vorrang vor Deportationen; gegenteilige Behauptungen bilden schlicht einen überholten Mythos. Auch die Aussage, "in betriebswirtschaftlicher Hinsicht" sei "die Vernichtung ein Zuschussgeschäft" gewesen, da die "Enteignungen, der Raub und die Sklavenarbeit [...] kaum die Kosten der Lager und des logistischen Aufwands" gedeckt hätten (17), bleibt fraglich. Eine solche Aufrechnung wurde nie vorgenommen und dürfte kaum zu leisten sein; Gerber selbst verzichtet in diesen Passagen auch auf Literaturhinweise. Stattdessen polemisiert er gegen "einige Historiker", die "geradezu obsessiv" auf 'Arisierungen' und Zwangsarbeit verweisen würden. Tatsächlich ist es in der aktuellen Holocaustforschung weitgehend Konsens, ökonomische Interessen und ideologische Prämissen in der Wirtschafts-, Kriegs- und Vernichtungspolitik nicht mehr dergestalt zu dichotomisieren, wie es ältere Arbeiten noch getan haben, auf die sich Gerber stützen dürfte. Vielmehr waren auch die Kriege gegen die Sowjetunion oder die USA ideologisch motiviert und wurden gegen das sogenannte 'Weltjudentum' geführt. Auch scheinbar zweckrationale Nachschubtransporte an die Front folgten dem Ziel der Vernichtung des Judentums, nur eben mit anderen Mitteln. Und umgekehrt gab es durchaus Unternehmen, die von den 'Arisierungen' und der Zwangsarbeit profitierten, für die sich die nationalsozialistische Judenpolitik also lohnte.

Zur Begründung der Präzedenzlosigkeit des Holocaust sind die von Gerber reproduzierten Mythen und Simplifizierungen auch nicht nötig. Er bleibt ein ideologisch motiviertes singuläres Ereignis, das vorhandene technische und logistische Mittel umfassend nutzte, um aus reinem Selbstzweck in kürzester Zeit beinahe eine ganze Bevölkerungsgruppe auszulöschen. Allerdings bildete er auch einen hochkomplexen Vorgang, der Profiteure hervorbrachte, in seiner Ausführung von instrumentellen Erwägungen geprägt, angetrieben oder gebremst wurde, und in keinem Kontrast zum Krieg stand, sondern mit ihm zusammenhing. Dass Gerber hier hinter den Forschungsstand zurückfällt, lässt sich nicht mit der Wahl des Essays als Gattung entschuldigen.

Zwar legt der Autor kein Buch über die Shoa als solche vor, doch bildet sie den Ausgangspunkt seiner Darstellung über die Erinnerung daran und verdient daher auch eine wissenschaftlich fundierte Würdigung. In dieser Form läuft das Buch durch die Mystifikation und Komplexitätsreduktion des Holocaust allerdings Gefahr, selbst ungewollt zu seinem Verschwinden beizutragen.

Trotz dieser Kritik, die hauptsächlich den Prolog betrifft, stellt das Buch eine wichtige und empfehlenswerte Intervention gegen den Zeitgeist dar, der die Erinnerung an den Holocaust wahlweise für politische Kampagnen aller Art instrumentalisieren oder ganz beseitigen will.

Rezension über:

Jan Gerber: Das Verschwinden des Holocaust. Zum Wandel der Erinnerung, Berlin: Edition Tiamat / Verlag Klaus Bittermann 2025, 331 S., ISBN 978-3-89320-330-7, EUR 28,00

Rezension von:
Andreas Rentz
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Rentz: Rezension von: Jan Gerber: Das Verschwinden des Holocaust. Zum Wandel der Erinnerung, Berlin: Edition Tiamat / Verlag Klaus Bittermann 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 12 [15.12.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/12/40581.html


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