Das Handbook Ideologies in National Socialism ist auf drei Bände ausgelegt. Der erste Teilband "Ideology and Individuals" liegt jetzt vor, der zweite Band "Ideology and Institutions" ist angekündigt. Der Erscheinungstermin von "Ideas and Concepts" ist noch offen.
Die Fragestellungen für das ganze Projekt, besonders aber für den ersten Teilband, entstanden aus Forschungen seiner beiden Herausgeber. Der Historiker Julien Reitzenstein hat sich bereits in mehreren Publikationen mit der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe im Kontext der SS, auseinandergesetzt. Dabei fiel ihm auf, dass seine treibende Kraft, Reichsgeschäftsführer Wolfram Sievers, sein Handeln nicht ausschließlich ideologisch begründete, sondern auch pragmatisch, unter opportunistischen Karriere- oder Effektivitätsgesichtspunkten.
Der Historiker Darren M. O'Byrne beschäftigte sich eingehend mit Johannes Krohn, einem deutschen Sozialpolitik-Experten und Ministerialbeamten. Sein beruflicher Werdegang führte ihn vom preußischen Finanzministerium des Kaiserreichs bis ins Reichsarbeitsministerium des nationalsozialistischen Staates. Der konservative Nationalist war für die Idee einer nationalen Erneuerung, aber auch die Lösung der angeblichen 'Judenfrage' zu gewinnen.
Deshalb gehen Herausgeber und Autoren des ersten Teilbandes davon aus, dass es nicht nur eine einzige, geschlossene nationalsozialistische Ideologie gab, sondern die Nationalsozialisten und ihre Unterstützer von einer Mischung unterschiedlicher Motive - beispielsweise völkischer Nationalismus, Antisemitismus, Sozialdarwinismus -, aber auch von persönlichen Interessen getrieben wurden. Solchen Motiv-Mischungen wird in 70 Biogrammen so genau wie möglich nachgegangen.
Auch die Vorgeschichte des Nationalsozialismus wird, etwa mit einem Portrait Houston Stewart Chamberlains, in den Blick genommen. Außerdem werden Förderer und Unterstützer der Bewegung außerhalb des Deutschen Reichs, etwa in Dänemark und Norwegen, aber auch in Polen, mit einbezogen. Vom gescheiterten dänischen Führer Frits Clausen, dürfte der deutsche Leser bislang kaum etwas gehört haben. Darüber hinaus finden ideologische Nebenlinien, wie zum Beispiel der Nationalbolschewist Ernst Niekisch oder Reichsbischof Ludwig Müller, Beachtung.
Mit der präzisen Bestimmung der jeweils individuellen Motive soll, so beteuert Julien Reitzenstein in der Einleitung, der Zivilisationsbruch nicht aus dem Blick geraten, schließlich sollten nicht nur die europäischen Länder unter deutsche Kontrolle gebracht, sondern sämtliche Juden der Erde vernichtet und alle Demokratien der Welt zum Einsturz gebracht werden. Hitler, so argumentiert der Herausgeber, habe schon in "Mein Kampf" geschrieben, es sei nicht nötig, dass jeder, der für die nationalsozialistische Weltanschauung kämpfe, alle Ideen und Gedanken des Führers kenne. Die Kenntnis ihrer wichtigsten genüge vollkommen.
Ein großer Mangel des Bandes ist, dass eine rechtliche Beurteilung des ideologisch und persönlich motivierten Handelns der beschriebenen Menschen in den Handbuchartikeln meist ausbleibt. Eine Folge des deutschen Zivilisationsbruchs war, dass Regeln, die bis 1945 lediglich religiöse Geltung hatten, oder als nicht strafbewehrtes internationales Recht (Haager Abkommen, Genfer Konventionen) galten, mit dem Nürnberger Prozess und den dann 1950 von der UNO verabschiedeten Nürnberger Prinzipien in strafbewehrtes Internationales Recht überführt wurden. Angriffskriege, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten seither als individuell zu verantwortende Straftatbestände.
Dabei spielt es keine Rolle, ob die Verantwortlichen Staatslenker, Soldaten oder nur Ideologen sind. Damit wird praktizierter Antisemitismus, Rassismus und ethnischer Nationalismus strafbar. In welcher Weise die Portraitierten an diesen Verbrechen teilgenommen, sie initiiert oder zu ihnen beigetragen haben, wird im Handbuch kaum erläutert.
Adolf Hitler erscheint zum Beispiel im Biogramm des Historikers Thomas Weber als ein "politischer Akteur", der eine von ihm angenommene "größte existenzielle Krise Deutschlands" zu überwinden suchte und nach "nachhaltiger Sicherheit" strebte (202). Dass er mit der NSDAP, die Demokratie zerstörte, im Deutschen Reich gegen Minderheiten und politische Gegner brutal vorging, einen globalen Krieg gegen Juden und angeblich jüdisch unterwanderte Staaten initiierte, gegen die Sowjetunion einen Vernichtungskrieg führte und große Teile der deutschen Gesellschaft und alle relevanten Institutionen zur Mitwirkung an seinen Angriffskriegen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewann, findet sich in dem Kurzportrait mit keinem Wort. Wikipedia berichtet mehr über die von Hitler zu verantwortenden Verbrechen als das Biogramm.
Ein ärgerlicher Mangel ist außerdem, dass der Band über kein Autorenverzeichnis mit Kurzbiografien und wesentlichen Veröffentlichungen der Autorinnen und Autoren verfügt. Nach den Personenlexika von Ernst Klee [1] ist der erste Teilband dieses Handbuchs dennoch der bisher ambitionierteste Versuch, sich dem Personal des Nationalsozialismus und seinen Vorläufern in Europa zu nähern. Man darf deshalb auf die Veröffentlichung der beiden kommenden Bände gespannt sein. Alle Bände dieses Großprojekts entstanden aus Beiträgen zu wissenschaftlichen Konferenzen, die in den Jahren 2021, 2023 und 2025 im Bundesarchiv Berlin und an der University of Cambridge durchgeführt wurden. Die fertigen Bände sind als Print-Versionen, aber auch als Online-Datenbank verfügbar. [2]
Anmerkungen:
[1] Vgl. Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2001; Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945?, Frankfurt am Main 2003; Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945?, Frankfurt am Main 2007; Ernst Klee: Auschwitz. Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon, Frankfurt am Main 2013.
[2] Vgl. https://ns-ideologies.org/about/.
Julien Reitzenstein / Darren M. O'Byrne (eds.): Handbook Ideologies in National Socialism. Volume 1: Ideology and Individuals, Berlin: De Gruyter 2025, XVI + 588 S., ISBN 978-3-11-071254-4, EUR 120,95
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