Das charakterisierende Epitheton spricht Bände. Radulfus Ardens gilt deshalb als "brennend" (ardens), weil man ihm einen feurigen, entfesselten Predigtstil zuschrieb. Wie so vieles in seinem Leben ist auch die Herkunft dieses Beiworts umstritten. Noch schlimmer: selbst bei den 202 Musterpredigten, die Radulf, um 1150 geboren und 1200 gestorben, zugewiesen werden, ist nicht klar, ob sie tatsächlich von ihm stammen. [1] Einige gewichtige Argumente sprechen dann freilich doch dafür: wörtliche Zitate aus den Sermones finden sich im Speculum Universale, dem Hauptwerk Radulfs. Hierbei handelt es sich um eine ursprünglich 15 Bücher umfassende Überblicksdarstellung der im 12. Jahrhundert gültigen theologischen Ethik, ein Werk, das als Bindeglied zwischen der monastischen Tradition und der späteren scholastischen Systembildung fungiert. Zwei Bücher fehlen zwar, doch bieten die verbleibenden 13 libri Stoff genug, um tief in die Welt theologischer Tugend- und dogmatischer Glaubenslehre einzutauchen. Radulfs moraltheologisches Kompendium befasst sich mit Tugenden, Lastern, pastoralem Verhalten und christlicher Ethik und zirkuliert deshalb durchaus nachvollziehbar mitunter auch unter dem mittelalterlichen Hochfrequenztitel Summa de virtutibus et de vitiis. Radulf ist der erste Theologe, der sich in der Einteilung und Untergliederung der vielen Einzeltugenden nicht sklavisch am antiken Vorbild orientiert, "sondern eigenständig aus den verschiedenen Kräften der Seele und ihrer Bedeutung für das Streben nach dem Guten" (VIII) seine originelle Gliederung ableitet und systematisch begründet.
Charakteristisch ist dabei das Prinzip der Komplementärtugenden (virtutes collaterales). Radulf geht davon aus, dass die Mitte zwischen zwei entgegengesetzten Lastern, die ein Zuviel und ein Zuwenig markieren, von jeweils zwei zusammengehörenden Tugenden gebildet werden. So gehört etwa zur Gerechtigkeit (iustitia) die Milde (clementia), damit die Gerechtigkeit nicht in grausame Härte (crudelitas) und die Milde nicht zu bloßer Nachgiebigkeit (laxitas) umschlägt.
Mit dem vorliegenden dritten Band liegt das Speculum universale nun in seiner Gesamtheit kritisch ediert vor. [2] 20 Jahre Editionstätigkeit kommen damit zum Abschluss. Während im ersten Band die allgemeine Tugendlehre behandelt wird, findet sich im zweiten Band der erste Teil der speziellen Tugendlehre, in deren Zentrum die Verstandes-Tugenden (virtutes discretivae) stehen. Der abschließende dritte Band widmet sich nun mit den affektiven Tugenden dem zweiten Teil der speziellen Tugendlehre. Darunter werden die virtutes amativae und oditivae in Buch 11 und die virtutes contemptivae in Buch 12 verstanden. In Buch 13 wird zum Themenkomplex des guten und schlechten Gebrauchs der Sprache, in Buch 14 zum guten und schlechten Gebrauch der Sinne übergeleitet.
Bei den amativen und oditiven Tugenden sind es die Liebe (amor) und der gute Hass (bonum odium), denen die größte Aufmerksamkeit geschenkt wird. Immerhin widmen sich 122 von 172 Kapiteln diesen beiden Grundtugenden, an deren Anfang die Seelenkräfte der amabilitas bzw. odibilitas stehen. In der Tat: auch der Hass kann zur Tugend werden. Unterschieden wird zwischen einem "guten" und "schlechten" Hass, wobei ersterer darin besteht, die Liebe davor zu schützen, das zu lieben, was nicht zu lieben ist, also die Laster und Sünden. Der gute Hass wird so zur Komplementärtugend der caritas. Zum Bereich der caritas gehören auch die Almosen, denen 38 Kapitel gewidmet werden, die von der Bedeutung dieses ethischen Einzelthemas für die Gesellschaft des 12. Jahrhunderts zeugen.
Mit Blick auf die kontemptiven Tugenden wird zwischen vier Arten (distinctiones) des contemptus unterschieden - von der Geringschätzung der Welt und dem Verbot, andere geringzuschätzen, über die Forderung, sich selbst geringzuschätzen bis hin zum Gebot, es geringzuschätzen, wenn man von anderen geringgeschätzt wird. Von Radulfs Ausführungen zur Bedeutung der freiwilligen Armut (ein Teilaspekt des contemptus mundi) dürften nicht zuletzt all diejenigen profitieren, die sich mit der Entstehung und Verbreitung der Bettelorden im 13. Jahrhundert beschäftigen.
Die Tugenden und Sitten des äußeren Menschen werden in den Büchern 13 und 14 abgehandelt. Zunächst wird das Thema der Sprache entfaltet und analysiert. Zur Sprachbeherrschung gehören dabei an zentraler Stelle die Fähigkeit zum guten Schweigen und zum guten Reden. Wenn man redet, so schärft Radulf seinen Lesern immer wieder ein, möge das, was einem von den Lippen perlt, ebenso nützlich wie ehrenhaft, ebenso diskret wie wahr sein. In diesem Zusammenhang finden sich wertvolle Bemerkungen zu allen möglichen Fehlformen der Rede - Beispiele für problematische bzw. gescheiterte Kommunikationen innerhalb der Gesellschaft.
Zur Wacht über das Reden und Sprechen gehört auch das Bewachen der Sinne, die Gegenstand von Buch 14 sind. "Für den, der sie gut bewacht, werden sie zu Pforten des Heils, für den, der sie schlecht bewacht, zu Pforten des Todes." (XXIV) Radulf behandelt nacheinander alle fünf Sinne des Menschen, beginnend mit dem im Mittelalter wichtigsten Sehsinn. Seh- und Hörsinn nehmen dabei den Löwenanteil der Ausführungen ein, doch auch mit Blick etwa auf das Riechen erhält man Einblick in vielerlei, das Zusammenleben der Menschen mitbestimmende olfaktorische Erscheinungsformen, die einiges über Reinheitsvorstellungen, Gefühlswelten und Krankheitskonzeptionen verraten. Bemerkungen zur Bedeutung von Enthaltsamkeit finden sich interessanterweise in den Kapiteln zum Geschmackssinn.
Die Edition selbst beruht auf einer in der Pariser Nationalbibliothek verwahrten, aus der Kartause von Liget stammenden und im Übergang vom 12. zum 13. Jahrhundert entstandenen Leithandschrift (ms. lat. 3240). Bei der Konstituierung des Textes wurden darüber hinaus bis zu sechs weitere Handschriften berücksichtigt. Der kritische Apparat stützt die Stellung der Pariser Leithandschrift, an deren Stelle bei den wenigen Beispielen von Textverlust ein Lissaboner Codex tritt (Biblioteca Nacional de Portugal, Fondo Iluminado 88). Einigen Raum nimmt die Beschreibung eines in der Universitätsbibliothek Iowa neu aufgefundenen, zumindest noch im 18. Jahrhundert im Kloster St. Pierre de Chezal-Benoît gehüteten Handschriftenfragments ein (xMMs.Misc.4), dessen Platz innerhalb des bestehenden Handschriftenstemmas lokalisiert wird. Die Orthografie der Leithandschrift wird grundsätzlich beibehalten. Sie zeugt davon, dass noch nicht alle morphologischen Veränderungen vom klassischen Latein hin zum Mittellateinischen vollzogen worden waren, anders ausgedrückt: ein- und dieselben Wörter können in direkter Nachbarschaft unterschiedlich geschrieben werden. Da Radulf im Text selbst auf bereits behandelte Inhalte hinweist, wurden am Rand die entsprechenden Kapitel angegeben. Charakteristisch für die Bücher 11-14 sind die arbores - 40 der insgesamt 56 über das Werk verteilten finden sich in diesen vier libri.
Die drei wichtigsten Handschriften warten im Anschluss an Buch 14 mit einem alphabetisch gegliederten Sachwörterverzeichnis (Tabula Speculi univeralis secundum ordinem alphabeti) auf, durch das der Inhalt des Speculum erschlossen werden sollte - von "Ablativus modalis vel formalis" über "Intelligentia, quid est" bis hin zu "Zelus quid est" (777-826). Die tabula ersetzt zwar kein modernes Sachwörterverzeichnis, ermöglicht jedoch einen Eindruck davon, welche Lemmata den mittelalterlichen Schreiber und Leser interessierten.
Erschöpfende und überaus zuverlässige Indices der Bibelstellen (829-874) und der Quellen (875-917) ermöglichen eine zusätzliche Durchdringung des Textes.
Ein geisteswissenschaftliches Langzeitprojekt hat mit vorliegendem Band sein glanzvolles Ende gefunden. Endlich steht nun ein in seiner philologischen Gestalt über jeden Zweifel erhabener Text zur Verfügung - ein Text, ohne den Diskussionen über Moral und Ethik im 12. Jahrhundert (und weit darüber hinaus) nur schwer zu führen sind. Nicht nur Theologen und Wissenschaftshistoriker, sondern grundsätzlich alle, die sich mit der Geistes- und Kulturgeschichte des hohen und ausgehenden Mittelalters beschäftigen, werden von der Lektüre profitieren.
Anmerkungen:
[1] Radulfus Ardens: Homiliae in epistolas et evangelia sanctorum et de tempore, ed. J.-P. Migne (= Patrologia latina; 155), Paris 1880, Sp. 1299-2118.
[2] Radulfus Ardens: Speculum Universale. Libri I-V (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis; 241), edd. Claudia Heimann, Stephan Ernst, Turnhout 2011; Radulfus Ardens: Speculum Universale. Libri VII-X (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis; 241A), edd. Claudia Heimann / Stephan Ernst, Turnhout 2020.
Radulfus Ardens : Speculum universale. Libri XI-XIV. Ed. by Claudia Heimann / Stephan Ernst adiuvante Anette Löffler (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis; 241B), Turnhout: Brepols 2025, LXX + 924 S., 1 Farb-Abb., ISBN 978-2-503-58673-1, EUR 630,00
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