Die Chronik Wilhelms von Tyrus ist das bedeutendste Geschichtswerk, das im sogenannten Ersten Königreich Jerusalem entstand. Gegen dessen Ende, in den 1180er Jahren, verfasste sie ein hochrangiger Kleriker, der unmittelbaren Zugang zur königlichen Kanzlei hatte und den innersten Machtzirkeln des Reiches angehörte. Wer auch immer sich mit den Orientkreuzzügen des 12. Jahrhunderts und der aus ihnen hervorgegangenen Kreuzfahrerherrschaften beschäftigt, zieht diese Chronik mit Gewinn heran. Seit fast 40 Jahren liegt sie in einer mustergültigen Edition von R. B. C. Huygens vor. Noch viel älter ist die erste Übersetzung ins Deutsche: Bereits 1840 erfolgte sie durch E. und R. Kausler. Spätere Übertragungen waren bestenfalls Aktualisierungen dieses Werkes, keine wirklichen Neuübersetzungen. Eine solche ist nun durch Wolfgang Fels erstellt worden. Dies ist grundsätzlich sehr zu begrüßen, nicht zuletzt deshalb, weil solche jüngeren Übertragungen bedeutender Quellen die Wissenschaft beflügeln können, wie der Fall der englischsprachigen Kreuzzugsforschung zeigt, die von der Übersetzung dieser Chronik durch E. A. Babcock und A. C. Krey im Jahre 1943 starke Impulse erhielt.
Trotz der intensiven Beschäftigung mit dem Text kann man keineswegs sagen, dass er ausgeforscht wäre. Der Erzbischof von Tyrus war ein hochgelehrter Kleriker mit einem wachen Gespür für Politik, aber auch für Militärwesen, Glaube und Kultur. Sein Werk ist daher eine Fundgrube für die Diplomatie-, Kultur-, Kriegs- und Politikgeschichte, aber auch für weitere Felder und Zugänge der Geschichtswissenschaft. Wer sich für die Geschichte der orientalischen Christen interessiert, für christlich-muslimische Beziehungen, für Identitätsstiftung in neu entstandenen Siedlergesellschaften oder für die Spezifika hochmittelalterlicher Kriegsführung - sie alle werden durch die Lektüre dieses Textes reich belohnt. Er ist seit Jahrhunderten unter neuen Fragestellungen stets mit Gewinn konsultiert worden, und dies dürfte auch in Zukunft so bleiben.
Die 25-seitige Einführung des Werkes liefert Basisinformationen zu Autor, Inhalt, Stil und Überlieferung des Werkes, angereichert durch knappe Auswertungen und Anekdoten zu ausgewählten Themen (Geographie, einzelne Ereignisse, Kriegstaktik, Naturkatastrophen). Die knappe Hinführung offenbart, dass der Übersetzer kein Historiker mit umfassender Kenntnis der internationalen Kreuzzugsforschung ist. Die Literaturübersicht ist sehr übersichtlich und nicht auf dem letzten Stand, über Einzelfragen ließe sich streiten - etwa darüber, ob Kreuzfahrer des 12. und 13. Jahrhundert ihre Fahrt nicht als Kreuzzug verstanden, weil es diesen Begriff zu jener Zeit noch nicht gab (VII), oder ob erst im 19. Jahrhundert "die Welt, veranlasst vom islamischen Morgenland [!], Anstoß an den Kriegszügen, die von Europa aus in den Nahen Osten unternommen worden waren," nahm (VIII).
Aber beim vorliegenden Buch handelt es sich nicht um eine geschichtswissenschaftliche Studie über die Kreuzzüge und die Kreuzfahrerherrschaften, sondern um eine Übersetzung. Diese, und dies ist letztlich entscheidend, ist sehr gut gelungen. Das gelehrte Latein des Autors ist in ein flüssig zu lesendes, gut verständliches und zeitgemäßes Deutsch übertragen worden. Sicher kann man über die eine oder andere Entscheidung streiten. Ob etwa die cives belagerter muslimischer Städte stets als "Bürger" übersetzt werden sollten oder ob der Verfasser nicht eher Stadtbewohner gemeint hat, wäre zu diskutieren. Aber über Einzelfragen lässt sich stets streiten. Insgesamt liegt hier eine zeitgemäße und verlässliche Übertragung eines grundlegenden Textes des 12. Jahrhunderts vor, der man eine breite Nutzung in der universitären Lehre und möglicherweise auch in der Schule wünschen würde.
Allerdings wird die Erreichung dieses Zieles durch zwei Umstände beeinträchtigt. Zum einen ist auf Kommentierungen, Nachweise der Bibelstellen etc. weitgehend verzichtet worden. Dies hat zur Folge, dass man für ein angemessenes Verständnis des Textes notgedrungen auf die Edition von 1986 zurückgreifen muss. Das ist beschwerlich, hat allerdings zur Folge, dass interessierte Lesende auf sanfte Weise gezwungen werden, die Übersetzung zusammen mit dem Original zur Kenntnis zu nehmen. Zum anderen wird das große Potenzial dieses Geschichtswerks für Studium und Lehre durch den horrenden Preis von knapp 400 Euro konterkariert. Hier ist es versäumt worden, ein grundlegendes Werk des hohen Mittelalters einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen, denn es steht zu erwarten, dass fast ausschließlich Fachbibliotheken die finanzielle Ausgabe tätigen werden. Die Preisgestaltung des Verlags ist aber wissenschaftlich - und aus Sicht dieses Rezensenten auch wirtschaftlich - kurzsichtig. Der englischsprachige Markt zeigt, dass mit preiswerten Übersetzungen gute Erträge zu machen sind, wenn es sich (wie hier) um einen für die universitäre Lehre grundsätzlichen Text handelt. Insofern steht zu befürchten, dass es sich bei dieser gelungenen Neuübersetzung um eine verpasste Chance handeln wird - zumindest so lange keine preiswertere Lizenzausgabe auf den Markt kommt.
Wilhelm von Tyrus: Die ersten Kreuzzüge und das Königreich Jerusalem. Eine Chronik. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Wolfgang Fels (= Bibliothek der Mittellateinischen Literatur; Bd. 17 und 18), Stuttgart: Anton Hiersemann 2024, 2 Bde., XXXIV + 976 S., ISBN 978-3-7772-2335-3, EUR 396,00
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