Lukas Greven erweitert mit seiner Dissertation das Tableau der neuesten geschichtsdidaktischen Forschung zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten [1] um eine "retrospektive Längsschnittstudie" (52), in der das forschend-historische Lernen als das zentrale Konzept des Wettbewerbs im Hinblick auf den Umgang mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen beleuchtet wird. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den Veränderungen, die sich einerseits in den Begleitmaterialien zu ausgewählten Wettbewerbsrunden, andererseits in Wettbewerbsarbeiten über die Zeit beobachten lassen (46).
Den ersten Teil seiner Studie widmet Greven auf breiter Literaturgrundlage den für seine Studie zentralen Theoriekonzepten, wobei insbesondere seine zusammenfassende Definition Ausgangspunkt für die weitere analytische Arbeit ist: Forschend-historisches Lernen versteht er aufbauend auf bereits vorliegenden Charakterisierungen "als ein(en) am historischen Erkenntnisprozess orientierte(n) Lernprozess [...], der im Rahmen einer strukturierten Offenheit selbständig vollzogen wird und auf einen Einblick in den Konstruktionszusammenhang historischer Erkenntnisse [...] zielt" (91). Die Bedeutung der reflektierenden und (selbst-)reflexiven Ansätze im Lernprozess wird für die Ausgangsdefinition ebenso betont wie dessen kreativer und explorativer Charakter in Verbindung mit einer Problem- und Handlungsorientierung (88).
Im zweiten Teil der Studie werden die Wettbewerbsmaterialien im Hinblick auf Veränderungen analysiert, die sich in Bezug auf die gezielt adressierten Denkoperationen im Umgang mit Zeitzeugenberichten niederschlagen. Zusammenfassend lassen sich drei unterschiedliche Schwerpunktsetzungen erkennen: So dominierten in einer ersten Phase (bis ca. 1977) die Hinweise zum entdeckenden Lernen mit Suchen und Collagieren, in Phase 2 (bis 2014) wurden vermehrt die rekonstruktiven Deutungsleistungen und Kontextualisierungen betont (189), was in Phase 3 durch häufigere Verweise auf de-konstruktive Operationen im Umgang mit Zeitzeugenberichten als Darstellungen ergänzt wurde (215).
Im dritten Teil der Studie wird die Realisierung forschend-historischen Lernens in acht sorgfältig ausgewählten Wettbewerbsrunden untersucht. Aus den jeweils eingegangenen Beiträgen wird anhand verschiedener Filter (Bundespreis, 9./10. Klasse und Oberstufe, gymnasiale Schulform, schriftlicher Beitrag unter Einbezug von Zeitzeugenbefragungen) ein Korpus von 168 Texten zusammengestellt (46 Sek I, 122 Sek II) und mit Hilfe eines ausführlich erklärten Kategorienrasters analysiert (240ff.)
Einige Ergebnisse, die in ihrer Grundaussage nicht überraschen, aber in Bezug auf Spezifika und Details beachtenswert sind, sollen kurz zusammengefasst werden: Insgesamt dominieren in den prämierten Beiträgen re-konstruktive Verfahren, bei denen Zeitzeugenberichte vor allem als Quellen, weniger als Darstellungen konzeptualisiert werden. Greven arbeitet drei "überzeitliche Typen forschend-historischen Lernens" (327) heraus, denen er für zukünftige Jurierungsarbeit sogar "diagnostisches Potential" zuordnet (385). Die Beiträge in Cluster I ("Fakten sammeln", N=77) zeigen eine positivistische Grundtendenz auf (339), die abgeschwächt auch in Cluster II (N=62) hineinreicht, aber mit einem deutlich höheren Anteil an Kontextualisierungen verknüpft wird. Das kleinste Cluster (N=29) lässt eine gleichmäßigere Verteilung von re- und (zumindest ansatzweise) de-konstruktiven Annäherungen an die Zeitzeugenberichte erkennen (329). Dabei handelt es sich vor allem um Beiträge aus der Sekundarstufe II (384). Die Verteilung der Typen auf einzelne Wettbewerbe ist breit gestreut, was nur zum Teil aus den Daten heraus erklärt werden kann. Greven verweist hier nachdrücklich auf Limitationen seiner Studie, da beispielsweise die einflussreiche "Jurierungspraxis" im Unterschied zur Normsetzung in Begleitmaterialien nicht mehr rekonstruierbar war (340).
Aufmerksamkeit verdienen die Ergebnisse zu einzelnen Wettbewerbsrunden, beispielsweise jener von 1974/75, bei der einige Beiträge "Sensibilität für den darstellenden Charakter" der Zeitzeugenberichte aufweisen, zu einer Zeit, als der Fokus im geschichtsdidaktischen Diskurs auf "re-konstruktiven Operationen und Verfahrensweisen" lag. Greven spricht hier von "Pionierarbeit", die insbesondere in Beiträgen aus der Oberstufe geleistet wurde (363). Deutlich wird auch die Bedeutung von strukturierenden Hilfestellungen, beispielsweise in den Wettbewerbsmaterialien von 1994/95 zur Retrospektivität, für die Förderung fachlich-historischer Analyseprozesse (308). Vor diesem Hintergrund sind die "Konsequenzen für die Praxis" zu verstehen, die Greven aus seiner Studie ableitet und die vor allem auf das Überwinden positivistischer Grundtendenzen im Umgang mit Zeitzeugenaussagen ausgerichtet sind. So wird im Abwägen zwischen Offenheit und Strukturierung der Aufgabenstellung eine "umsichtige Hinwendung" zu letzterem favorisiert und zusätzlich zu einer Einführung in die fachliche Erkenntnislogik eine gewisse "Schwerpunktsetzung methodischer oder medialer Art" empfohlen, die durch eine "adressatenorientierte Optimierung der Begleitmaterialien" entsprechend unterstützt werden sollte (376f.).
Angesichts der Sorgfalt, mit der hier analytische Entscheidungen und empirische Grundlagen diskutiert werden, haben die Gravamina geringe Bedeutung. Das umfangreiche Buch ist nur in Teilen leserfreundlich. So bremsen Querverweise zu späteren Relativierungen von Analyseergebnissen den Lesefluss oder beeinträchtigen vereinzelt die argumentative oder konzeptionelle Stringenz (276). Die "Zwischenzusammenfassungen" zu den Großkapiteln geraten zu knapp und werden den erzielten Ergebnissen nicht gerecht (215). Demgegenüber steht allerdings ein gelungenes Schlusskapitel, in dem die Ergebnisse entlang von sieben Thesen geordnet und die Arbeitsdefinition forschend-historischen Lernens zu einer empirisch fundierten Beschreibung weiterentwickelt werden, die beispielsweise deutlich macht, dass der explorative Erkenntnisprozess der Jugendlichen in erster Linie auf den Beitrag als Produkt (mit "endgültigen Ergebnissen", 369), und erst nachgeordnet auf die individuelle historische Orientierung und Sinnbildung ausgerichtet wird. "Erwartungen und Erfahrungen in ein realistisches Verhältnis" zu bringen (386), ist das besondere Verdienst dieser Studie. Die vertiefenden Detailbetrachtungen zu jenen Wettbewerbsrunden, in denen Typus 3 häufiger aufscheint, sind zukunftsweisend und zeigen die diffizile Vernetzung von Faktoren auf, die forschend-historisches Lernen in Bezug auf alle Denkoperationen fördern.
Anmerkung:
[1] Moritz Heitmann: Historische Orientierung in der Vereinigungsgesellschaft. Eine Studie über den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 1994/1995, Berlin u.a. 2024; Saskia Handro / Kirsten Pörschke (Hgg.): Mehr als Faktencheck! Perspektiven auf historische Forschung von Schüler:innen, in: LaG-Magazin 3 (2024).
Lukas Greven: Mehr als »Reisen in die Vergangenheit«. Forschendes Lernen im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, 1973-2013 (= Public History - Angewandte Geschichte; Bd. 21), Bielefeld: transcript 2024, 458 S., ISBN 978-3-8376-7265-7, EUR 65,00
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