sehepunkte 25 (2025), Nr. 12

Sergey Radchenko: To Run the World

Gesamtgeschichten des Kalten Krieges gibt es mittlerweile viele. Sergey Radchenko, Professor an der Johns-Hopkins-Universität, bemerkt dies selbst in der Einleitung des zu besprechenden Werkes. Für sein Buch nimmt er in Anspruch, eine radikale Neuinterpretation der Motive zu liefern, die der Außenpolitik der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) zugrunde lagen. Ins Zentrum seiner Untersuchung stellt er die Narrative, aus denen die sowjetische Führung die Legitimität ihres Handels ableitete. Diese Narrative sieht er nicht als festgefügt an, sondern in einem konstanten Prozess des Aushandelns befindlich, bei dem sich die Zielsetzungen der sowjetischen Politik an der Zustimmung oder Ablehnung anderer politischer Akteure messen lassen mussten. Dies habe dem Wesen des Kalten Krieges entsprochen, den Radchenko als Großmachtkonflikt um die beste Methode zur Gestaltung der Gesellschaft und Kampf um den richtigen Weg in die Moderne deutet.

Während er das Streben des Kreml nach Anerkennung ins Zentrum seiner Untersuchung stellt, billigt er der sowjetischen Ideologie, dem Marxismus-Leninismus, keine große Bedeutung für die Erklärung der Politik der UdSSR zu. Problematisch daran ist, dass Radchenko die ideologischen und theoretischen Fundamente der sowjetischen Außenpolitik keiner Analyse unterzieht. Zumindest für die Breschnew-Ära kann man jedoch anhand zahlreicher Quellen zeigen, dass der außenpolitische Diskurs des Marxismus-Leninismus keineswegs so abgehoben und weltfremd war, wie es die Lektüre Radchenkos erscheinen lässt. Die außenpolitische Theorie der UdSSR besaß vielmehr große Ähnlichkeit mit dem politischen Realismus, wie er etwa in der Politikwissenschaft von John Mearsheimer vertreten wird. Ausgehend von einem prinzipiellen Feindverhältnis zwischen Kapitalismus und Sozialismus, suchte die Theorie empirisch die Rolle zu bestimmen, welche die UdSSR in dem von ihr postulierten revolutionären Weltprozess zu spielen hatte.

Es ist hingegen eine Stärke von Radchenkos Buch, dass es nicht die in vielen anderen Gesamtdarstellungen anzutreffende Fixierung auf die Perspektive Washingtons aufweist, sondern die Sichtweise Moskaus ins Zentrum stellt. Damit macht Radchenko deutlich, dass die UdSSR ihre Politik nicht nur bezogen auf den amerikanischen Hauptfeind betreiben konnte, sondern eben auch in wachsendem Maße die Interessen und Meinungen anderer kommunistischer oder revolutionärer Akteure zu berücksichtigen hatte.

Zu Beginn des Kalten Krieges war dies indes noch nicht so. Nach den Säuberungen der 1930er Jahre und dem Sieg im Zweiten Weltkrieg konnte der sowjetische Diktator Stalin über eine einigermaßen monolithische kommunistische Bewegung gebieten und sein Augenmerk vor allem auf die zunächst noch kooperativen Beziehungen zu den amerikanischen und britischen Alliierten richten. Die vom Krieg zermalmten oder stark geschwächten kontinentaleuropäischen Staaten schienen dagegen der UdSSR als einzig verbliebener Landmacht hoffnungslos unterlegen zu sein. Es war daher naheliegend, dass Stalin sich darum bemühte, für die Konkursmasse des Krieges einvernehmliche Lösungen mit den beiden anderen Hauptsiegermächten zu finden und seine neugewonnene Machtsphäre auf diese Weise vertraglich abzusichern. Dies geschah zunächst recht erfolgreich in Jalta. Radchenkos Schilderung der Konferenz bleibt erfreulicherweise nicht bei den europäischen Fragen Deutschland und Polen stehen. Er zeigt vielmehr, wie Stalin Roosevelts Wunsch nach einem sowjetischen Kriegseintritt gegen Japan, mit dem die UdSSR im April 1941 einen Nichtangriffspakt geschlossen hatte, für seine Machtpolitik gegenüber China nutzte.

Radchenko geht ebenso auf die nicht verwirklichten Ambitionen Stalins ein und arbeitet dessen Agieren als Geopolitiker mit globalen Ansprüchen gut heraus. Ausführlich schildert das Buch den sowjetischen Versuch, ein Mandat über die italienische Kolonie Libyen zu erlangen. Außerdem erhob die UdSSR Ansprüche auf die Inselgruppe Dodekanes und knüpfte damit an Forderungen an, die der sowjetische Außenminister Molotow schon während seines Berlin-Besuchs im November 1940 bezüglich der türkischen Meerengen erhoben hatte. In der unmittelbaren Nachkriegszeit zeigte sich Stalin jedoch als vorsichtiger Taktierer, der die starken kommunistischen Parteien in Frankreich und Italien zur Zusammenarbeit mit den Westalliierten anhielt. Im August 1946 erklärte er gegenüber einer Delegation der britischen Labour Party, dass es nicht nur den gewaltsamen Weg zum Sozialismus gebe, wie er von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) beschritten worden sei, sondern auch den langsameren, dafür weniger blutigen Weg über die Parlamente. Offenbar wies er 1947 einen Vorschlag aus der Italienischen Kommunistischen Partei zurück, in Italien den militärischen Machtkampf zu wagen. Ende 1947 habe Stalin dann aber laut Radchenko begriffen, dass die USA in Europa verbleiben würden und mit Erfolgen auf dem parlamentarischen Weg zur Macht nicht mehr zu rechnen war.

Ein wichtiger Bestandteil der sowjetischen Entscheidungsfindung war die Analyse des jeweiligen Kräfteverhältnisses. Der Schlüsselbegriff 'internationales Kräfteverhältnis' kommt bei Radchenko leider nicht vor. So war Stalin durchaus bereit, bewaffnete Gewalt dort zu veranlassen, wo er ein entsprechend günstiges Kräfteverhältnis voraussetzen konnte. In Korea war dies der Fall. Den im März 1949 erstmals vorgetragenen Bitten des nordkoreanischen Regierungschefs Kim Il Sung, einen Angriff auf Südkorea zu erlauben, versagte er zunächst die Zustimmung. Dies änderte sich aber, nachdem Mao Zedong den chinesischen Bürgerkrieg gewonnen und die UdSSR einen erfolgreichen Atomtest durchgeführt hatte. Überdies rechnete Stalin nicht mit einem Eingreifen der USA. Die Schleusen der Gewalt konnten also geöffnet werden. Nachdem die USA dann doch interveniert hatten, informierte Stalin Mao darüber, dass ein langwieriger Abnützungskrieg in Korea den Chinesen erlauben würde, sich mit moderner Kriegführung vertraut zu machen, während er gleichzeitig das Machtprestige der USA untergraben würde.

Die auf Stalins Tod folgende Phase des Kalten Krieges erzählt Radchenko vor allem aus der Perspektive der zunehmend eskalierenden Rivalität zwischen dem neuen KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow und Mao Zhedong, der für sich die Rolle des Strategen der Weltrevolution beanspruchte. Vor dem Zerwürfnis stand jedoch zunächst eine enge Kooperation beider kommunistischen Mächte, bei der die UdSSR für China ein enormes Industrialisierungsprogramm auf die Beine stellte. Gleichzeitig traten in der durch die Dekolonisierung entstandenen 'Dritten Welt' neue politische Akteure auf den Plan, die zum Teil über eigenständiges revolutionäres Prestige verfügten und dadurch zu einer für das Prestige der UdSSR als revolutionärer Führungsmacht wichtigen Klientel wurden. Doch während Chruschtschow verstanden hatte, dass die von den Kernwaffen ausgehende Bedrohung für die Existenz der Menschheit ein gewisses Maß an friedlicher Koexistenz mit dem amerikanischen Hauptgegner unausweichlich machte, schmähte Mao die Atombombe als Papiertiger und regierte sein Land nach stalinistischem Vorbild; Millionen Tote waren die Folge.

Bei der Schilderung der Breschnew-Ära fällt Radchenko sehr stark in die gewohnten Erzählmuster der Geschichtsschreibung über den Kalten Krieg zurück: Im Mittelpunkt stehen die Interaktionen zwischen den sowjetischen Hauptakteuren und ihren jeweiligen Gegenspielern in Washington. Dabei hätte gerade für diese Periode ein stärkerer Fokus auf die sogenannte kommunistische Weltbewegung interessante Aufschlüsse über die sowjetische Strategie liefern können. Mit einer Reihe internationaler Partei-Konferenzen suchte die KPdSU, die kommunistische Bewegung für die nächste Phase der globalen Auseinandersetzung mit dem nach dem Vietnam-Krieg politisch angeschlagenen Klassengegner zu einen. Ihr diesbezügliches Programm legte sie im Juni 1969 in Moskau auf der Internationalen Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien vor. Im Juni 1976 kam es jedoch bei der Ost-Berliner Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas zum offenen Zerwürfnis mit den sogenannten eurokommunistischen Parteien, die den vom hochgerüsteten sowjetischen Partei-Militär-Komplex gewiesenen Weg zum Sozialismus so nicht mehr mitbeschreiten wollten. Radchenkos Leser erfährt von all dem leider nichts. Bei aller Kritik bleibt sein Buch jedoch eine sehr empfehlenswerte Einführung in die Epoche des globalen Kalten Krieges, die viele interessante Schlaglichter auf die Zeit und ihre Akteure wirft.

Rezension über:

Sergey Radchenko: To Run the World. The Kremlin's Cold War Bid for Global Power, Cambridge: Cambridge University Press 2024, VIII + 760 S., ISBN 978-1-108-47735-2, GBP 30,00

Rezension von:
Michael Ploetz
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Michael Ploetz: Rezension von: Sergey Radchenko: To Run the World. The Kremlin's Cold War Bid for Global Power, Cambridge: Cambridge University Press 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 12 [15.12.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/12/39425.html


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