Mit ihrem 2023 erschienenen Werk "Interkulturelle Perspektivität als Potenzial bilingualen Geschichtsunterrichts?", einer überarbeiteten Fassung ihrer Dissertationsschrift, gelingt es Corinna Link eine zentrale Frage der Geschichtsdidaktik neu zu formulieren und empirisch zu beantworten: Wo genau liegt das fachliche Potential, das (womöglich allein) ein bilingualer Geschichtsunterricht aufweisen kann? (16) Im Fokus ihrer Arbeit steht dabei die Kontroversität, die als spezifische Form der interkulturellen Perspektivität und als ein Prinzip bilingualen historischen Lernens gilt (17). Interkulturelle Perspektivität definiert Link als einen dreischrittigen Erkenntnisprozess von Perspektivwahrnehmung, -differenzierung und -koordination mindestens zweier, sprachlich gefasster Geschichtskulturen mit unterschiedlichen Deutungsmustern (46,53). [1]
Das Werk lässt sich inhaltlich in vier große Abschnitte gliedern: Stand der Forschung (21-66), Schulbuchanalyse (73-138), Fragebogenstudie (141-196) und Auswertung und Ergebnisse (199-312). In dem ersten theoretisch-konzeptionellen Teil trägt Link die für ihr Erkenntnisinteresse relevanten Hypothesen der einschlägigen Forschungsliteratur zusammen. Im zweiten Teil, der Schulbuchanalyse, arbeitet sie mithilfe der von ihr erweiterten Concept-Mapping-Methode vergleichend kulturelle Konzepte des Imperialismus heraus. Das Thema Imperialismus wird gewählt, da es eine geteilte historische Erfahrung darstellt, die sich in der deutschen und englischen Geschichtskultur unterschiedlich widerspiegelt (73-76). In einer anschließenden Fragebogenstudie untersucht Link auf Grundlage der Ergebnisse der Schulbuchanalyse Schüler:innenperspektiven zu kulturellen Konzepten. Im vierten Teil ihres Buches wertet sie ihre Daten aus und präsentiert ihre einschlägigen - und zu Teilen auch irritierenden - Ergebnisse.
Mit einer kritischen Auseinandersetzung zum Forschungsgegenstand beginnend, zeigt Link auf, dass bisherige Studien zwar Hinweise auf positive Effekte des bilingualen Geschichtsunterrichts im Bereich des Sprach- und Fachwortschatzes liefern, jedoch keine fachdidaktisch ausgerichteten Erkenntnisse über den Umgang mit Perspektivität (54ff.). Besonders bemerkenswert ist ihre kritische Betrachtung der gängigen Annahme, dass bilingualer Geschichtsunterricht zu einer stärkeren Multiperspektivität führe. Stattdessen argumentiert sie, dass das eigentliche Potential des bilingualen Geschichtsunterrichts in der Auseinandersetzung mit der Kontroversität zweier Perspektiven liege (68).
Die methodische Innovation der Studie liegt in der Weiterentwicklung des Concept-Mapping-Verfahrens zur Analyse kultureller Deutungsmuster in Schulbüchern (18, 70). Link entwickelt ein Analyseinstrument, das es ermöglicht, nicht nur einzelne Begriffe, sondern die gesamte inhaltliche Struktur und Vernetzung von Konzepten in den Darstellungstexten zu erfassen (94-99). Dieses Verfahren wird zunächst auf sechs deutsche und sechs englische Schulbücher der Klassen 8 und 9 für das kulturelle Konzept "Imperialismus" angewandt (73-76). Das Thema Imperialismus in bilingualen Lernsettings wurde unter anderem bereits von Michael Maset [2] untersucht, auf dessen Erkenntnisse Link zurückgreift. Die Analyse ihrer Erhebung zeigt deutliche Unterschiede zwischen den kulturellen Konzepten: Während deutsche Schulbücher den Imperialismus als Prozess der Herrschaftsaneignung und -ausübung mit einer Täter-Opfer-Erzählung darstellen, präsentieren englische Schulbücher eine eher statische, integrative Erzählung, die von "Win-Win-Situationen" und "Doppelgewinnern" spricht (129 f.).
Die Ergebnisse der Schulbuchanalyse wurden in Meta-Concept-Maps zusammengefasst und bilden die Grundlage für die anschließende Fragebogenstudie mit 787 Schüler:innen (70, 193). Diese untersucht, ob bilingual unterrichtete Schüler:innen kulturelle Perspektiven stärker wahrnehmen, bewusster zwischen ihnen differenzieren und zwei Perspektiven erfolgreicher koordinieren als deutschsprachig unterrichtete (17). Die Ergebnisse sind überraschend und aufschlussreich: Bilingual unterrichtete Schüler:innen erinnern sich signifikant besser an die deutschen Konzepte (233), produzieren keine höheren Anteile an englischen Propositionen und zeigen keinen beträchtlichen Vorteil bei der Koordination beider Konzepte (293). Die Annahme, dass bilingual unterrichtete Schüler:innen sprachlich-kulturell "fremde" Konzepte besonders gut abbilden können, kann somit empirisch nicht bestätigt werden.
Ein zentrales Ergebnis ist die hohe Interferenzrate bei den bilingual unterrichteten Schüler:innen. Sie mischen deutsche und englische Konzepte deutlich häufiger und stärker als die Vergleichsgruppen (240). Dies deutet daraufhin, dass die erste konzeptuelle Welt (die deutsche) besonders tief verankert ist, während die zweite (die englische) noch nicht ausreichend vertraut ist. Die Untersuchung bestätigt, dass der Einsatz der Fremdsprache allein nicht ausreicht, um englische Konzepte zu vermitteln (265).
Damit belegt die Studie, dass bilingualer Geschichtsunterricht nicht automatisch zu einer stärkeren interkulturellen Perspektivität führt, sondern dass dies nur dann gelingt, wenn die zweite Kultur bewusst gegenübergestellt wird. Link betont: "Bilingualer Geschichtsunterricht muss der ersten konzeptuellen Welt zunächst eine zweite gegenüberstellen, um so interkulturelle Konzepterkenntnis, -differenzierung und -koordination zu initiieren. Tut er das, scheinen die Chancen auf einen geschichtsdidaktischen Erkenntnisgewinn gut" (305).
Zusammenfassend zeigt die Arbeit, dass das Potential des bilingualen Geschichtsunterrichts nicht in der Sprache selbst liegt, sondern in der bewussten Auseinandersetzung mit interkultureller Kontroversität. Corinna Link leistet mit ihrem Werk einen wissenschaftlich fundierten und praxisrelevanten Beitrag zur Forschung des bilingualen Geschichtsunterrichts. Ihre Arbeit eröffnet neue theoretische Perspektiven, adressiert bisher unzureichend bearbeitete Fragestellungen und liefert nachvollziehbare Befunde, die eine solide Grundlage für Folgestudien bilden. Besonders hervorzuheben ist das von ihr entwickelte Concept-Mapping-Verfahren zur Eruierung kultureller Deutungsmuster, das sowohl für die Forschung als auch für die Unterrichtspraxis von großem Nutzen ist. Link positioniert ihre Analyse zudem bewusst im Kontext des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses und verweist wiederholt auf relevante Forschungsarbeiten, wie etwa die Untersuchung von Franziska Clemen und Michael Sauer zur Förderung von Perspektivdifferenzierung und -übernahme [3], was die wissenschaftliche Relevanz und Kontextualisierung ihres Beitrags unterstreicht. Insgesamt stellt das Buch daher einen unverzichtbaren Forschungsbeitrag dar, der nicht nur aktuelle Fragestellungen beantwortet, sondern auch zukünftig relevante Forschungsfragen anregt. Es ist ein zentraler Impulsgeber für alle, die sich für eine reflektierte Geschichtsbildung im bilingualen Geschichtsunterricht engagieren.
Anmerkungen:
[1] Siehe auch Modell zur Perspektivität in drei Erkenntnisschritten (47) und Modellerweiterung (48).
[2] Michael Maset: Bilingualer Geschichtsunterricht. Didaktik und Praxis, Stuttgart 2015.
[3] Franziska Clemen / Michael Sauer: Förderung von Perspektivdifferenzierung und Perspektivübernahme? Bilingualer Geschichtsunterricht und historisches Lernen - eine empirische Studie, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007), H. 12, 708-723.
Corinna Link: Interkulturelle Perspektivität als Potenzial bilingualen Geschichtsunterrichts? Eine empirische Studie (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; Bd. 30), Göttingen: V&R unipress 2023, 336 S., 66 Farb-Abb., ISBN 978-3-8471-1561-8, EUR 60,00
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