sehepunkte 25 (2025), Nr. 11

Ulrich Raulff: Wie es euch gefällt

Eine frühe Konsumkritik kulminiert in dem expressiven Ausruf: "Oh, welche Welt ist dies, wenn das, was herrlich, den, der es hat, vergiftet!" [1] Er stammt aus William Shakespeares Bühnenstück "Wie es euch gefällt", das wiederum Ulrich Raulffs Buch den Titel gibt, und führt direkt in dessen Thema: die Welt der Herrlichkeiten in Form einer Geschmacksgeschichte. Schon diese Titelwahl ist eine Entscheidung mit Konsequenzen, denn andere Begriffe, die der Autor gleich eingangs diskutiert, hätten zur Wahl gestanden: Ästhetik, Gefallen, Kennerschaft, Konsum, Urteilskraft, Schönheitssinn oder Stil. Besonders auf die etablierte Kategorie Ästhetik kommt Raulff immer wieder zurück, versucht sich aber auch an eigenen Definitionen: "Im positiven Modus des 'Gefallens' organisiert der Geschmack mobile und kurzlebige Verbindungen von Dingwelt und Lebenswelt." (27)

Auf 480 Seiten nähert sich Raulff in kreisenden Suchbewegungen dem Diskursfeld - in Form eines versuchshaften Langessays, wie der Autor gewichtiger Studien fast defensiv einräumt. Spät, auf Seite 378, formuliert er Methodisches: "Wer eine Geschichte des Geschmacks schreiben will, muss sich entscheiden. Zwei Wege tun sich vor ihm auf". Einer führe zu den ästhetischen Theorien, der andere zu den materiellen Quellen: Bildbänden, Interior Designs, Kochbüchern, Kostümgeschichten. Er entscheidet sich allerdings keineswegs für einen dieser Wege, sondern beschreitet alle beide.

In drei Großkapiteln mit den eher assoziativen Überschriften "Making Taste", "Kaufhaus des Westens" und "Durchsichtige Dinge" versammelt Raulff Diverses: Kleider- und Tischmoden, Gips- und Marmorbilder, fayencen à la porcellana, Kolonialwaren, Coffee to go. Gerade das Kunstgewerbliche, von der strengen kunstwissenschaftlichen Observanz oft mit einem abwertenden Unterton in die Sphäre des Dekorativen verwiesen, nimmt Raulff ästhetisch ernst.

Hinzu gesellen sich Exkurse in die ästhetischen Theorien: von Alexander Gottlieb Baumgartens grundlegenden Vorlesungen zur Zeit der lumière über die gut abgehangenen Klassiker von Burke, Diderot, Hume, Kant, Lessing, Moritz und anderen, die er, nicht ohne Sprachwitz, als eine "lange europäische Lichterkette des 18. Jahrhunderts" bezeichnet (42), bis hin zu den neueren, auch schon klassischen Studien von Roland Barthes, Vilèm Flusser oder Pierre Bourdieu.

Mit "Kaufhaus des Westens" ist die dominante Himmelsrichtung auf dem Reise-Kompass bezeichnet: Raulff schreibt nicht nur über die grand tour zu den Kulturstätten des Alten Europa, die im 19. Jahrhundert der Geschmacksbildung vermögender Bürgerssprösslinge diente; er begibt sich selbst auf eine solche. Seine Route durch Raum und Zeit ist weitverzweigt, reich an Umwegen und Verweilpausen. An manchen Orten wie den subversiven Gegenästhetiken von Camp (Susan Sontag) und Bad Taste hastet er eher vorüber, zu anderen etablierten Geschmackszentren kehrt er immer wieder zurück: in das von Johann Joachim Winckelmann (auch kolloquial "JJW" genannt, 22) ersehnte Rom, das London der Tudors und des Kaufhauskönigs Arthur Lasenby Liberty. Besonders oft zieht es ihn nach Paris: das der Schriftstellerin Marie-Madeleine La Fayette oder des Moderschöpfers Christian Dior. Zwar unternimmt Raulff auch Ausflüge in den Orientalismus und zum chinesischen Porzellan, doch bleibt seine Geschmacksgeschichte eher (west)eurozentrisch.

Unterwegs sammelt er einige Preziosen. Die Stilepoche des Louis Seize etwa, mit ihren Chaiselonguen und pompösen Polstermöbeln "ein Nymphäum der Bequemlichkeit und der Galanterie", benennt der in Sachen Koselleck äußerst sattelfeste Autor augenzwinkernd als "Sesselzeit" (304). Bei alledem formieren weder Chronologie noch Topografie ordnende Prinzipien: Betrachtungen zum britischen oder italienischen Geschmack bleiben Exkurse. Ein wiederkehrendes Element des von einem Bildessay aus teils doppelseitigen Farbtafeln opulent durchzogenen Bandes ist die Identifizierung sogenannter Geschmacks-Agenten. Als solche tastemakers benennt Raulff Designerinnen, Kuratoren, Regisseure, Schauspielerinnen, aber auch Institutionen wie das Museum, den Salon, den Katalog, den Laufsteg, die Vitrine und nicht zuletzt den Markt. All dies ist stark am Visuellen, manchmal auch am Taktilen orientiert; literarische oder musikalische Geschmacksbildung kommt so gut wie gar nicht vor.

Zwar ist es auch nicht Raulffs erklärtes Ziel, eine Geschichte des gustatorischen Geschmacks, also des Schmeckens oder überhaupt der Sinneswahrnehmung zu schreiben. Dennoch erwähnt er verschiedentlich den sensory turn, bezeichnet damit aber ausgerechnet das Wahrnehmungsverständnis Gottfried Leibniz'. Dass es gerade dessen passiv-mechanistischer Begriff der Perzeption ist, von dem sich die auf ein aktives, sozial und historisch spezifisches sensing abzielende gegenwärtige Sinnesgeschichte dezidiert abhebt, findet leider keine Erwähnung. [2]

Auch das mehrfache Aufrufen Hans-Georg Gadamers als Kronzeuge für den Geschmack "als 'eine Art Sinn'" hat einen Preis (181). Denn Gadamer war auf geradezu anachronistische Weise der aristotelischen Pentatonik von fünf Sinnen verhaftet, die auch Raulff immer wieder bemüht. Spätestens seit Ernst Machs Forschungen zum Innenohr um 1900 könnte man aber wissen, dass der Mensch über weit mehr Sinnesmodalitäten verfügt - eine für das Gleichgewicht, weitere für Schmerz, Temperatur und einige andere mehr.

Ein weiteres Fragezeichen lässt sich hinter der Relevanz der untersuchten Phänomene notieren. Mit seinen gelehrten Betrachtungen der Ruinenveduten von Clérisseau, des blassblauen Wedgewood-Porzellans bis hin zu neueren Stilikonen wie dem Kleinen Schwarzen oder dem an Dieter Rams orientierten Apple-Design bewegt sich Raulff vornehmlich im gehobenen Segment. Zwar erwähnt er recht kursorisch einige Punk-Alben, die aber auch schon Klassiker-Status haben, doch gerät das "Massenschöne", wie es Kaspar Maase nennt, kaum in seinen Fokus. [3] Die Frage, ab wann Geschmack fluide Identitäts-Konstrukte begründet, die sich als Wegwerf-Mode mühelos wechseln lassen wie heute eine Einrichtung von Ikea oder eine Garderobe von H&M, wäre historisch doch von einiger Bedeutung - bleibt aber weitgehend unbeantwortet.

Beide Leerstellen zeigen sich exemplarisch in einem ansonsten sehr instruktiven Exkurs zum Weingeschmack. Raulff konstatiert amüsiert die Indignation der französischen Önologie, als sich 1976 bei einer Blindverkostung kalifornische Weine jenen aus dem Bordeaux gegenüber als gustatorisch überlegen erweisen. Doch hätte sich gerade an diesem Beispiel die hohe Konstruiertheit des normierten Weingeschmacks problematisieren lassen: Welche ökonomischen, nationalen und erzieherischen Faktoren hatten den "Adel des französischen Weins" überhaupt erst etabliert (311)? Zwar referiert Raulff den classement von 1855, geht aber nicht hinreichend auf dessen Kultürlichkeit ein. Für die Allermeisten war und ist zudem der Unterschied zwischen einem Grand Cru Classé und einem Cru Bourgeois oder auch nur einem Vin de Pays gerade nicht gustatorisch wahrnehmbar. Daher ist diese Finesse für eine Gesellschaftsgeschichte des Geschmacks im Grunde nur eine Petitesse.

Doch das sind Einwände gegen ein Buch auf hohem, man darf sagen: exquisitem Niveau. Wie alle Bücher von Ulrich Raulff glänzt auch dieses nicht nur durch weitgespanntes Detailwissen, einen überaus eleganten Schreibstil und zahlreiche geistreiche Bonmots, sondern vermag auch weitere Forschungen anzuregen. Raulffs Forderung jedenfalls, Historiker müssten "von der Mode lernen. Studien in Vergänglichkeit treiben" (244), sollte gehört werden. Über Geschmack lässt sich weiterhin streiten - und besonders trefflich über den vergangenen.


Anmerkungen:

[1] William Shakespeare: Wie es euch gefällt!, Dritte Szene, Projekt Gutenberg, online: https://www.projekt-gutenberg.org/shakespr/gefaellt/geflt23.html [Abruf 20.10.2025].

[2] Vgl. David Howes / Constanze Classen: Ways of Sensing. Understanding the Senses in Society, London 2014.

[3] Vgl. Kaspar Maase: Ästhetische Wahrnehmung als Grundelement menschlichen In-der-Welt-Seins - Zu einigen Forschungsansätzen (2024), in: Kulturelle Bildung Online: https://www.kubi-online.de/artikel/aesthetische-wahrnehmung-grundelement-menschlichen-welt-seins-einigen-forschungsansaetzen [Abruf 20.10.2025]. Kaspar Maase: Schönes alltäglich erleben. Über die Ästhetisierung der Kultur, Bielefeld 2022.

Rezension über:

Ulrich Raulff: Wie es euch gefällt. Eine Geschichte des Geschmacks, München: C.H.Beck 2025, 480 S., 52 Farbabb., ISBN 978-3-406-83730-2, EUR 36,00

Rezension von:
Bodo Mrozek
Berliner Kolleg Kalter Krieg am Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Bodo Mrozek: Rezension von: Ulrich Raulff: Wie es euch gefällt. Eine Geschichte des Geschmacks, München: C.H.Beck 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 11 [15.11.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/11/40742.html


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