Der Text, um dessen Übersetzung und Kommentierung es hier geht, stammt aus der Feder des katalanischen Karmeliten Felip Ribot, der 1379 zum Provinzialprior der Ordensprovinz Katalonien ernannt wurde. Er starb im Jahr 1391 und hinterließ drei Werke, von denen der Liber de Institutione et Peculiaribus Gestis Religiosorum Carmelitarum am bekanntesten ist. Es handelt sich bei diesem Opus um eine Kompilation verschiedener Texte aus der Ordenstradition, die den Beginn und die Fortentwicklung des Ordens beschreiben.
Seit dem ersten Druck des Werkes im Speculum Carmelitanum des Daniel a Virgine Maria (1680) sind eine Reihe von Textausgaben und Übersetzungen in moderne Sprachen erschienen.[1] Der Herausgeber listet sie in seiner Bibliographie auf (547-553). Eine zuverlässige textkritische Edition der ersten sieben Bücher des insgesamt in zehn Bücher gegliederten Werkes, das in der Literatur oft nur als Decem libri genannt wird, hat Paul Chandler 1991 mit seiner Dissertation vorgelegt.[2] Sie bildet die Grundlage für die anzuzeigende französische Übersetzung und auch für die Übertragung der Institutio ins Englische durch Richard Copsey. Er hat darüber hinaus die ersten sieben Bücher um die Bücher 8 bis 10 ergänzt und damit die erste vollständige Übersetzung der Decem libri zur Verfügung gestellt.[3] Diese Ergänzung um die letzten drei Bücher haben die beiden Bearbeiter der französischen Edition in ihre Textausgabe aufgenommen.
Die Karmeliten, deren kanonischer Status im 13. Jahrhundert wegen des Fehlens einer approbierten Ordensregel noch unsicher war und die nach ihrer Übersiedlung aus dem Heiligen Land nach Europa als ursprünglich eremitische Gemeinschaft einen tiefgreifenden Wandel zum Mendikantenorden durchliefen, versuchten durch Legendenbildung, ihre Identität in einer Abstammung von dem alttestamentlichen Propheten Elija als dem Gründer ihres Ordens zu verwurzeln. Das lässt sich in den Dokumenten nachvollziehen, die sie vom Ende des 13. Jahrhunderts an über sich selbst verfassten. Mit dem Narrativ "unser Vater ist Elija" versuchten die mittelalterlichen Geschichtsschreiber des Ordens, sich historisch und spirituell zu definieren, wie es insbesondere in der großen Synthese dieser Tradition, Felip Ribots Decem libri, zum Ausdruck kommt. Ribot übernahm und überarbeitete frühere Werke, um eine neue Synthese der verschiedenen Versuche der Karmeliten zu schaffen, sich selbst und anderen eine Darstellung ihrer Gemeinschaft zu geben. Damit sollten nicht nur ihre institutionelle Identität und die Veränderungen, die sie in den ersten Generationen durchlaufen hatten, gerechtfertigt, sondern auch den Ordensangehörigen eine Erklärung der grundlegenden Elemente ihres besonderen spirituellen Charakters und ihrer religiösen Verpflichtung geliefert werden. Kurz gesagt: Es handelt sich um eine Form der legendären Geschichte im Dienste der Identitätsbildung.
Tatsächlich liegen die Anfänge des Karmelitenordens im Dunkeln. Er entstand aus einer Gruppe lateinischer Eremiten, die sich an einer Quelle versammelten, die als Quelle des Elija im Wadi 'ain es-Siah auf dem Berg Karmel im Palästina der Kreuzfahrerzeit bekannt war. Diese Gemeinschaft hat weder einen namentlich genannten Gründer noch eine Gründungserzählung. In ihrer späteren Geschichtsschreibung setzten die Karmeliten an die Stelle eines charismatischen Gründers dann die biblischen Gestalten des Elija und der Maria. Ihren Namen haben sie von Anfang an von einem Ort: Sie sind die Eremiten vom Berg Karmel. Der Berg wurde in der jüdisch-christlichen Tradition unauslöschlich mit dem Propheten Elija in Verbindung gebracht. Zum ersten Mal tauchen die Eremiten vom Berg Karmel in der Geschichte auf, als der lateinische Patriarch von Jerusalem, Albert von Vercelli, zwischen 1206 und 1214 eine Formula vitae für sie schrieb.
Die einzelnen Teile von Ribots komplexem Werk werden unterschiedlichen Autoren zugeschrieben. Die innere Struktur der "compilation bien organisée" erschließt Jonathan Kocan minutiös und arbeitet dabei die "triple trilogie" der "trilogie juive, trilogie byzantine, trilogie latine" in ihrer historischen Abfolge heraus (41-63). Ribot selbst behauptet, wenig Eigenes zu den Decem libri beigetragen zu haben, die er als eine Zusammenstellung bereits existierender Werke aus dem 5. bis 13. Jahrhundert darstellt.
Die Decem libri sind in zehn Bücher zu je acht Kapiteln gegliedert. In sieben der zehn erhaltenen Handschriften ist das Werk auf das Jahr 1370 datiert. Es enthält fünf Teile, die fünf verschiedenen Autoren zugeschrieben werden:
1) Der Liber de institutione (1.1-7.8), als dessen Verfasser Johannes XLIV., Bischof von Jerusalem, angesehen wird. 2) Der Brief von Kyrill, einem legendären Einsiedler auf dem Berg Karmel, an Bruder Eusebius (8.1-8.3), der die Abfassung der Institutio erklärt und die Geschichte des Ordens bis zur Zeit des hl. Albert erzählt. Als Verfasser dieses Abschnitts wird im allgemeinen Ribot angenommen. 3) Ein Kommentar zur Regel (8.5-8.6), ein kurzes Werk, das die Änderung der Regel im Jahr 1247 erläutert. 4) Die Chronik des Wilhelm von Sandwich (9.1-9.8), der auf dem Generalkapitel von 1287 Definitor der Provinz des Heiligen Landes war. Er beschreibt den Verlust der Klöster im Heiligen Land und die Gründung des Ordens in Europa. 5) Buch 10 ist eine von Ribot herausgegebene Sammlung von päpstlichen Bullen und Privilegien.
Neben der formula vitae des hl. Albert ist Ribots Werk vielleicht das bedeutendste Einzelwerk für unsere Kenntnis der frühen karmelitanischen Spiritualität. Ribot entwickelte die legendäre Erzählung über die Entstehung des Ordens zur Zeit des Elija zu einer symbolischen Geschichte, die viele der großen Themen der Spiritualität des Ordens behandelt: die Verwandlung in Christus, die Reinheit des Herzens, die Offenheit für das Wort, die Stille und die Einsamkeit, die zentrale Bedeutung der Liebe, das liturgische Gebet, der Aufbau einer friedlichen und liebevollen Gemeinschaft. Durch die gelungene Kooperation von Sr. Cécile de Jésus-Alliance OCD (Übersetzung 115-407) und Fr. Jonathan (Kocan) de Jesus Marie Joseph OCD ("Présentation", 17-114, "Étude. Élie et Marie au Carmel", 409-526), die den aktuellen Stand der Forschung zur Historiographie des Karmelitenordens reflektiert, wird ein bedeutendes Werk aus der spirituellen Tradition des Karmel in einer modernen Sprache zugänglich gemacht.
Anmerkungen:
[1] Daniel a Virgine Maria: Speculum Carmelitanum. 4 Bände, Antwerpen 1680. Bd. 1, Teil 2, 1-114, Nr. 14-498.
[2] Paul Chandler: The Liber de Institucione et Peculiaribus Gestis Religiosorum Carmelitarum in Lege Veteri Exortorum et in Nova Perseverancium ad Caprasium Monachum by Felip Ribot, O.Carm. (d. 1390). A Critical Edition with an Introduction. Ph.D. thesis, Toronto 1991.
[3] Richard Copsey: The Ten Books of the Way of Life and Great Deeds of the Carmelites, Faversham und Rom 2007.
Philippe Ribot: L'Institution des premiers moines. Volume 1. éd. Jonathan Kocan (= Institutum Carmelitanum. Textus et Studia Historica Carmelitana; 58/1), Roma: Edizioni Carmelitane 2025, 579 S., ISBN 978-88-7288-242-9, EUR 48,00
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