Fraktionen gehören zu den "wichtigsten Machtfaktoren im deutschen Regierungssystem" und sind wesentliche Struktur- und Steuerungselemente eines Parlaments [1]. Aber wie organisiert sich und wie arbeitet eine Parlamentsfraktion? Wer übernimmt Führungsfunktionen? Und wie kommen diese Personen zu ihrem Amt? Wie verlaufen innerfraktionelle Kommunikations- und Entscheidungsprozesse? Wer redet, wer schweigt in den Fraktionssitzungen? Welche Themen werden in der Vollversammlung kontrovers diskutiert, über welche herrscht Einigkeit? Die vorliegende Edition zeigt exemplarisch, wie wertvoll Fraktionsprotokolle für die Beantwortung solcher Fragen und die (parlaments-)historische Forschung generell sein können, auch wenn die 10. Volkskammer, die am 18. März 1990 erste und gleichzeitig letzte demokratisch gewählte Volksvertretung der DDR, ein eher ungewöhnliches Parlament war.
Mit zu Beginn 167 Abgeordneten waren CDU und Demokratischer Aufbruch (DA), eine Gemeinschaft aus 163 Abgeordneten der CDU und vier Abgeordneten des DA, die größte Fraktion der 10. Volkskammer. Gleichzeitig ist sie die einzige - und das macht diese Edition so besonders -, von der es überhaupt in so großem Umfang Protokolle gibt. Die Volkskammerfraktionen haben in sehr unterschiedlichem Maß schriftliches Material hinterlassen. Wie in einer politischen Umbruchsituation, wie sie im Frühjahr 1990 in Ostdeutschland herrschte, kaum anders zu erwarten, ist es zum Teil disparat, unvollständig und oft nicht besonders umfangreich, wobei die Menge je nach Fraktion differiert. (Verlaufs-)Protokolle sind vor allem noch von der SPD überliefert. Für alle anderen Fraktionen gilt, dass es entweder, wie bei PDS, Liberalen, Demokratischer Bauernpartei Deutschlands/Demokratischer Frauenbund Deutschlands und Deutscher Sozialer Union (DSU), überhaupt keine Protokolle gibt oder dass sie, wie bei Bündnis 90/Grüne, lückenhaft sind. Die zweite Besonderheit ist, dass es sich bei dem CDU/DA-Bestand um Wortprotokolle handelt, genauer: um Transkripte von Tonbandaufzeichnungen, denn die Fraktionssitzungen wurden alle auf Band mitgeschnitten.
Das führt zu einem beeindruckenden Textumfang der Edition: In zwei Bänden von insgesamt 1.512 Seiten werden die Transkripte von 27 Sitzungen präsentiert - und das bei einer Fraktion, die lediglich sechs Monate existierte: von der konstituierenden Sitzung am 27. März bis zum 28. September 1990. Allein das Protokoll der fünfstündigen Sitzung am 27. März 1990 umfasst knapp 70 Seiten. Lediglich von der Sondersitzung am 24. August, an der auch Bundeskanzler Helmut Kohl, Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und Bundeslandwirtschaftsminister Ignaz Kiechle als westdeutsche Gäste teilnahmen, gibt es keine Aufzeichnung.
Die Kommentierung ist relativ knappgehalten, führt vor allem Belegstellen zu einzelnen Plenardebatten und Drucksachen an und weist Personen nach. Ein etwa hundertseitiger Anhang mit Kurzbiogrammen aller Fraktionsmitglieder, einem Personen- und einem ausführlichen Sachregister komplettiert die beiden Bände, die auch als eBook (PDF) erhältlich sind.
In der Einleitung schlägt Stefan Marx einen weiten Bogen, indem er zuerst den Reformprozess der Block-CDU bis 1990, die Neugründungen von DSU und DA und die Entwicklung bis zur Bildung des gemeinsamen Wahlbündnisses "Allianz für Deutschland" nachzeichnet und dann über die Aufschlüsselung des Wahlergebnisses und die Fraktionsbildung zur Sozialstruktur der Fraktion kommt. Es folgen Abschnitte zur Wahl der beiden Fraktionsvorsitzenden, Lothar de Maizière (bis zur Wahl zum Ministerpräsidenten) und Günther Krause, zu den komplizierten Arbeitsbedingungen, zur schwierigen Koalitionsbildung mit der SPD, zu den einzelnen Gremien und den Vertretern bestimmter Interessengruppen in der Fraktion, zur Zusammenarbeit mit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und schließlich zu den Karrieren der Abgeordneten nach 1990. Exemplarisch greift Marx zwei aus der großen Menge der zwischen April und Oktober 1990 behandelten Themen heraus: die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch und die mögliche Stasi-Vergangenheit von Abgeordneten. Daran lassen sich die Konfliktlinien in der Fraktion verdeutlichen.
Jenseits davon bieten die Protokolle allerdings noch eine Fülle weiterer Informationen aus diesem ostdeutschen Transformationsparlament. So sind Parlamentsfraktionen in der Regel eingespielte organisatorische Einheiten, und die mit jeder Wahl hinzukommenden Neulinge werden von den bereits Erfahreneren integriert. Bei der 10. Volkskammer war das jedoch anders, weil sie nur aus Neulingen bestand. Dementsprechend begannen auch die Fraktionen bei Null. Dieser spannende Prozess der Fraktionswerdung lässt sich mithilfe der Protokolle nachvollziehen, beginnend mit den ersten Tagen, in denen man sich noch nach Block-CDU-Tradition mit "Unionsfreund" beziehungsweise "Unionsfreundin" anredete. Erst allmählich wurde vielen klar, dass sie ihren neuen Abgeordneten-"Beruf" nun für unbestimmte Zeit hauptamtlich würden ausüben müssen.
Hier lässt sich auch nachlesen, wie eine Fraktion sich Stück für Stück mit parlamentarischen Regeln und Verfahren vertraut macht, welche Folgen es haben kann, wenn Fraktionsdisziplin geringgeschätzt und Abstimmungen in Plenarsitzungen nicht gut vorbereitet werden, aber beispielsweise auch, wie es zur Kandidatur Sabine Bergmann-Pohls für das Amt der Volkskammerpräsidentin kam - diese von der Fraktionsmehrheit getroffene Personalentscheidung bedeutete für ihren damals Noch-Vorsitzenden Lothar de Maizière eine herbe Niederlage.
Zu den materiellen Aspekten der Edition hätte man in der Einleitung gerne noch mehr erfahren. Leider verzichtet der Bearbeiter darauf, etwas zu den Tonbändern selbst (z. B. Gesamtumfang, Qualität), den Umständen der Aufnahmen und sich möglicherweise daraus ergebenden Problemen für die Edition zu sagen. Wer das Originalmaterial kennt, weiß, dass sich einzelne Beiträge nur schwer bestimmten Personen zuordnen lassen, nicht nur wegen der zum Teil schlechten Aufnahmequalität, sondern auch, weil es im Fraktionssaal wohl zu wenige Mikrofone gab und Wortmeldungen aus dem hinteren Teil des Raums manchmal kaum bis gar nicht zu verstehen sind. Dennoch ist es offensichtlich gelungen, fast alle Beteiligten namentlich zu identifizieren - bei einer derart großen Fraktion sicherlich kein ganz leichtes Unterfangen. Dieses kleine Monitum ändert allerdings nichts daran, dass mit der Edition der CDU/DA-Protokolle nicht nur der Parlamentarismusforschung nun eine einmalige zeithistorische Quelle aus der Zeit des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses zur Verfügung steht.
Anmerkung:
[1] Mit Bezug auf die Fraktionen des Bundestags: Hans-Peter Schwarz: Die Fraktion als Machtfaktor, in: Die Fraktion als Machtfaktor. CDU/CSU im Deutschen Bundestag 1949 bis heute, hg. von ders., München 2009, 277-314, hier 277.
Lothar de Maizière: "... es geht um die Ablösung einer geschichtlichten Epoche.". Die Protokolle der CDU/DA-Fraktion in der Volkskammer der DDR (März-September 1990). Eingel. u. bearb. v. Stefan Marx (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 75), Freiburg: wbg Academic 2025, 2 Bde., LXIV + 1512 S., ISBN 978-3-534-64228-1, EUR 120,00
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