In diesem Buch geht es um den "Charakter der Stoarezeption in der frühchristlichen Theologiebildung" (10). Daraus ergibt sich die Auswahl der Autoren (Justinus Martyr, Tatian, Athenagoras, Theophilus, Irenäus, Tertullian und Hippolyt). Aufgezeigt werden soll nicht Abhängigkeit, sondern der bewusste Gebrauch des Stoizismus als "vom Autor intendierte (affirmative oder abgrenzende) Übernahme bzw. Aneignung fremden Gedankenguts" (6). Apologeten benutzen Stoisches, um "das Christentum [zu] verteidigen und plausibilisieren" sowie seine Überlegenheit auch als Philosophie aufzuweisen (58). Im innerchristlichen Diskurs dient Stoarezeption "zur Abwehr der Häretiker" (9). Für jeden Autor identifiziert Charlotte Kirsch-Klingelhöffer ein individuelles Rezeptionsprofil. Sie beobachtet aber auch Gemeinsamkeiten und Entwicklungslinien, z. B. die zunehmende Vereinnahmung stoischen Vokabulars in eine nicht-deterministische christliche Auffassung von verantwortlicher Handlungsmacht mit Wahlfreiheit oder die Christianisierung des Weltenbrands der stoischen Physik zu einem reinigenden Weltgericht.
Das Gesamtergebnis ist ernüchternd, wenn man die Kirchenväter als Quellen zum Stoizismus liest. Kirsch-Klingelhöffer sieht in ihnen deutlich weniger Stoisches als Michel Spanneut (Le stoïcisme des Pères de l'Église, Paris 1957). Theophilus etwa rezipiere stoische Kosmologie höchstens "über das hellenistische Judentum und möglicherweise Philo von Alexandrien" (280). Trotzdem sind die Ergebnisse bereichernd, da die Originalität und Eigenständigkeit der Patres deutlich wird. Kirsch-Klingelhöffer arbeitet Feinheiten im theologischen Denken und der rhetorischen Leserführung heraus. Was man zunächst als Fehler oder Uninformiertheit abgetan hätte, wird als Aneignung und bewusste Umformung, nicht selten auch als kreative Manipulation bis hin zur freien Erfindung erwiesen. So kann Kirsch-Klingelhöffer wahrscheinlich machen, dass in Hippolyts Refutatio (1.21.3) das Bild von einem Hund, der freiwillig oder gezogen hinter dem Schicksalswagen herläuft, eine Erfindung Hippolyts selbst ist. In doxographischen Berichten geht es den Patres nicht um die aufgeführten Lehrmeinungen selbst, sondern darum, eine christliche Idee im philosophischen Stil der Zeit zu vertreten.
Die Arbeit ist leserfreundlich. Methodik, Grundbegriffe und Themen stoischer Philosophie, die für die christliche Theologie von Interesse (allgemeine Begriffe, die alle Menschen teilen; Vorsehung) und auch bei nicht-christlichen Philosophen Gegenstand der Kritik waren (die körperliche Immanenz Gottes im Kosmos und damit - so die Kritiker - Zerstörbarkeit und Verantwortung für das Böse; Determinismus und damit - so die Kritiker - das Fehlen von Willensfreiheit und moralischer Verantwortung), werden kurz vorgestellt.
Im Hauptteil bespricht Kirsch-Klingelhöffer die einzelnen Autoren getrennt nach den beiden Gattungen in chronologischer Folge. Die Primärtexte sind abgedruckt, zuverlässig übersetzt und hilfreich kommentiert. Am Anfang werden die für die Fragestellung relevanten Merkmale des Autors und der jeweiligen Schrift effektiv umrissen. Erst wird explizite Rezeption (mit ausdrücklicher Nennung der Stoa oder eines Stoikers), dann mögliche implizite Rezeptionen diskutiert. Zuverlässige Zusammenfassungen des Erarbeiteten ermöglichen eine rasche Orientierung. Einzelne Kapitel sind für sich verständlich.
Zur Illustration des Hauptteils greife ich zwei Autoren heraus. Der früheste Stoarezipient ist Justin. Er selbst berichtet, für einige Zeit bei einem Stoiker studiert zu haben (dial. 2,3). Neben Heraklit, den er als Stoiker bezeichnet, nennt Justin Musonius Rufus (2 apol. 7,1) als Philosophen, die wie Christen zu Justins Zeit wegen ihrer Überzeugungen unschuldig verfolgt wurden (65). Justin präsentiert so das Christentum als die bessere Philosophie, deren Verfolgung ungerecht sei. Schon bei ihm sieht Kirsch-Klingelhöffer die Christianisierung stoischen Vokabulars. Stoische Termini werden gebraucht und inhaltlich neu besetzt: Der Weltenbrand (ἐκπύρωσις) wird abgelehnt, aber zugleich mit christlichen Vorstellungen von strafendem Feuer und Endgericht in Verbindung gebracht. Der stoische Ausdruck λόγος σπερματικός wird zur der Person immanenten Fähigkeit zur "bruchstückhaften Gotteserkenntnis in der Zeit vor der Inkarnation" (157). Dabei geht es Justin darum, die Verantwortung und ggf. Strafwürdigkeit auch derjenigen zu begründen, die vor Christus' Erscheinen geboren wurden. Originell an Justins Benutzung platonistischer Stoakritik mit ihrem hypothetischen Schicksalsbegriff sei, dass Justin so die Berechtigung des göttlichen Strafgerichts erweisen will und die hypothetische Kausalität auf das menschliche Entscheiden und Gottes Strafe beschränkt. Außerdem führt er "göttliche πρόγνωσις als vom Schicksal unabhängiges Prinzip" (160) ein. Die alttestamentarischen Prophezeiungen - die für Justin einzig wahre Philosophie, von der die griechisch-römischen Philosophien degenerieren - sind damit auch ohne Determinismus möglich und als Beweis für die Maßgeblichkeit des Christentums gesichert.
Hier wäre eine genauere Diskussion der stoischen Position sinnvoll gewesen, zumal des Zusammenhangs zwischen Schicksalslehre und Bivalenzprinzip. Ein weiterer Punkt ist die Unterscheidung zwischen notwendigem Gesamtschicksal und einzelnem vom Schicksal Determinierten. Menschliches Handeln ist nämlich in Chrysipps modallogischen Begriffen "möglich" und eben nicht notwendig. Beide Probleme sind Justin offensichtlich nicht bewusst. Die Ausdrücke "gemäß dem Schicksal" (καθ' εἱρμαρμένην) und "gemäß der Notwendigkeit des Schicksals" (καθ' εἱρμαρμένης ἀνάγκην) gebraucht er jedenfalls wie gleichbedeutend (1 apol. 43,1 und 2).
Bei Tertullian unterscheidet Kirsch-Klingelhöffer sinnvollerweise neben expliziter und impliziter noch die Rezeption Senecas. In der expliziten Rezeption beobachtet sie dieselben Verfahren wie bei anderen Patres: Tertullian benutzt existierende Doxographien, gestaltet aber auch eigene doxographische Passagen. Kirsch-Klingelhöffer will Soran als Quelle für Doxographie in De anima nicht ausschließen, vermutet aber auch direkten Zugriff auf Aëtius oder eine verwandte Quelle. Charakteristisch für Tertullian seien die Auswahl der Meinungen nach Zweckdienlichkeit für die eigene Argumentation sowie extreme Verkürzung auf den Kerngedanken ohne Referat etwaiger Gründe. Von der Doxographie bleibt nur "deren 'äußeres Gerüst'", das "praktisch keinen Informationswert mehr" hat (529). Tertullian interessiert sich nicht für Meinungen, die nicht mit christlichen Überzeugungen übereinstimmen. Sie werden nur zitiert, um die Inkonsistenz paganer Philosophie zu beweisen oder die Abhängigkeit eines Häretikers zu demonstrieren. Eine mögliche implizite Stoarezeption sieht Kirsch-Klingelhöffer bei der stoischen These, dass alles aus Körpern bestehe (wobei Tertullian den Körperbegriff allerdings anders fasse als die Stoiker und Gott als Körper sui generis ansieht), in Anleihen an stoische Logik sowie möglicherweise bei der Gotteserkenntnis aus Allgemeinbegriffen. Eine Rezeption der stoischen Mischungslehre in adv. Prax. 27 bestreitet sie. Ebenso ist sie skeptisch, was Seneca als Quelle stoischer Philosophie betrifft. Neben anderen lateinischen Klassikern rezipiere Tertullian Seneca wegen seiner stilistisch-rhetorischen Qualitäten sowie als Ethiker. Dabei seien die Inhalte philosophisch-kulturelles Gemeingut. Die ideologische Ausformung und vor allem auch die Begründung der Prinzipien sei aber ganz Tertullians eigene christliche.
Kirsch-Klingelhöffer macht deutlich, wie wenig Tertullian an den Theoremen paganer Philosophie selbst gelegen ist, und zeigt, dass er sein Material sehr großzügig manipuliert, verfälscht oder ergänzt, etwa um in anim. 14-15 eine möglichst hohe Zahl an Seelenteilen zu erreichen (423). Je nach Argumentationskontext bezeichnet Tertullian Marcions Charakterisierung Gottes als gelassen (tranquillitas) einmal als stoisch, dann wieder als epikureisch (375). Es ist daher nicht vollkommen auszuschließen, dass Tertullian auch den Vergleich von Gott, der die Materie durchdringe wie "Honig durch die Waben" (SVF I 155) selbst erfunden hat, wie Kirsch-Klingelhöffer vermutet. Allerdings ist ihr Argumentum ex silentio kein hinreichender Beleg.
Generell schreibt Kirsch-Klingelhöffer in ihrem Bestreben, die rhetorischen und theologischen Intentionen der Patres herauszuarbeiten, ihnen manchmal zu viel Vorsatz und Kontrolle über ihr Material zu. Man mag sich z. B. schon fragen, was das wohl für ein Stoiker war, bei dem Justin gar keine Theologie hören konnte, und Kirsch-Klingelhöffers Versuch, Justins Einordnung Heraklits in die Stoa plausibel zu machen, überzeugt nicht. Auch die schreienden Widersprüche in Tertullians Doxographien sind wohl nicht alle bewusste Entstellung, wie etwa Tertullians Behauptung (apol. 47.7), dass die Stoiker Gott "außerhalb des Kosmos" (extra mundum) verorteten, die Platoniker aber "innerhalb des Kosmos" (intra mundum), die Kirsch-Klingelhöffer als bewusste Provokation interpretiert (357f.), die Tertullian mit den von ihm selbst hinzugefügten, aber in der jeweiligen Schule belegten Vergleichen vom Steuermann (Platoniker: er ist im Schiff) und Töpfer (Stoiker: außerhalb des Tongefäßes) untermauere. Wie passt das zum Bild von Gott, der die Materie, d.h. den Kosmos, wie Honig die Waben durchdringt und der in praescr. 7,3,4 referierten Gleichsetzung von Gott und Materie durch Zeno (373)?
Kirsch-Klingelhöffer legt eine beachtliche Nachwuchsarbeit vor. Sie vertieft unser Verständnis für die Argumentation, Rhetorik und Theologie der untersuchten Autoren. Methodisch ist ihr Ansatz vorbildlich für Quellenforschung. Über das Thema "Rezeption" hinaus gibt sie neue Impulse zur Rhetorik der Doxographie, die auch auf andere doxographische Texte übertragbar sein könnten.
Charlotte Kirsch-Klingelhöffer: Frühchristliche Stoarezeption. Zur Rezeption einer philosophischen Schule in den apologetischen und antihäretischen Schriften des 2. und frühen 3. Jahrhunderts (= Seraphim - Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs; 21), Tübingen: Mohr Siebeck 2024, XIII + 663 S., ISBN 978-3-16-163317-1, EUR 119,00
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