Christa Tuczay bietet in ihrem Buch ein umfassendes Bild des komplexen Beziehungsgeflechts von Inspiration und Prophetie, das sie von der Spätantike über das gesamte Mittelalter hinweg bis in die Frühe Neuzeit hinein nachzeichnet. Ihre nahe an den Quellen operierende und detailgenaue Darstellung verfolgt die miteinander verflochtenen Begriffe von Inspiration und Prophetie durch die verschiedenen historischen Epochen, wobei sie die Historizität einerseits der Begriffe selbst und andererseits ihrer Beziehung zueinander verdeutlicht. So stützten sich Prophetien in vorchristlicher Zeit auf andere Inspirationsquellen, als diejenigen des christlichen Europas. Auch die Modi, in denen Propheten inspiriert wurden, wandelten sich im Laufe der Zeit und in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen. Christa Tuczay zeigt auf, in welcher Weise vorchristliche Vorstellungen von der Inspiration der Propheten in die christlichen Deutungen der Quellen von Prophetien Eingang fanden. Für die mittelalterliche Bewertung von Prophetien waren diese Inspirationsquellen äußerst bedeutsam, da sie erstens in einer aufsteigenden Hierarchie bis zur göttlichen Offenbarung die Aussagen der Propheten legitimierten und zweitens Anhaltspunkte der für die Zeitgenossen wichtigen Unterscheidung von richtigen und falschen Propheten liefern konnten. Eine Stärke der Untersuchung von Christa Tuczay ist die stets auf den Textquellen basierende feingliedrige Argumentation, mit der sie die Leserschaft durch die lange Beziehungsgeschichte von Inspiration und Prophetie führt, Entwicklungen veranschaulicht und Traditionsstränge herausarbeitet, die teils bis in die jüngere Gegenwart weisen.
Zehn Kapitel, denen eine kurze Einleitung mit einem Aufriss zentraler Themen der Untersuchung vorangestellt ist, gliedern das Werk. Zunächst widmet sich die Autorin im ersten, sehr ausführlichen Kapitel notwendigen Begriffsklärungen, um die Grundlage für die folgenden acht Kapitel zu schaffen, in denen sie einzelne historisch-thematische Abschnitte und deren Protagonisten beleuchtet. Ein abschließender Kommentar im zehnten Kapitel, der eine Zusammenschau der Erkenntnisse der Studie bietet, dabei Traditionslinien und Neuerungen aufzeigt, rundet das Werk ab. Der Anhang enthält neben dem Abbildungsverzeichnis, das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis als auch ein Sach- und Namensregister.
Das erste Kapitel führt in die Thematik ein, indem Christa Tuczay die zentralen Begriffe von Inspiration und Prophetie erläutert und zugleich einen Überblick über deren historische Entwicklung und Bedeutungsvielfalt liefert. Des Weiteren stellt sie die unterschiedlichen Modi der Kommunikation in den Transfermedien Traum, Vision und Audition vor sowie das Verhältnis von Ekstase und prophetischer Rede, die Glossolalie und andere mit dem Empfang und der Verkündigung der göttlichen Worte verbundene Themen. Über die Präzisierung der Begrifflichkeit hinaus, geht dieses mit 75 Seiten zweitlängste Kapitel des Buches bereits auf die Kernthemen der folgenden acht Kapitel ein, die jeweils bestimmte Aspekte des Verhältnisses von Inspiration und Prophetie in den Blick rücken. In der Zusammenschau tritt die über Zeitepochen und Genres erfolgende weitere Ausdifferenzierung des Inspirationsbegriffs und seine jeweilige Bedeutung für die Propheten hervor.
Kapitel II und III befassen sich vornehmlich mit den antiken Wurzeln und der mittelalterlichen Rezeption des Inspirationsbegriffs, der schon in den antiken Kulturen des Mittelmeerraums, in den Religionen Ägyptens und im Judentum in Dichtung und Prophetie eine bedeutende Rolle spielte. Dabei galten der in Ekstase von den Musen inspirierte Dichter der griechischen Antike oder der von Gott berufene Prophet im Judentum als Sprachrohr der göttlichen Eingebung. Nach dieser Auffassung trat der Anteil der Dichter und Propheten am schöpferischen Prozess hinter dem göttlichen Wirken zurück. Das im Neuen Testament verbreitete Bild von Propheten und Aposteln als Instrumenten zur Vermittlung der durch den Heiligen Geist vermittelten Botschaften, die sie in den biblischen Texten niederschrieben und weitergaben, betont ebenfalls die Dominanz der göttlichen Inspiration vor dem Eigenanteil derjenigen, die sie abfassten. Das vierte Kapitel untersucht, wie der Begriff der Prophetie und die Erkenntnis durch göttliche Inspiration in theologischen und philosophischen Texten von der Spätantike bis in die Renaissance weiterentwickelt wurde.
Über das gesamte Mittelalter hinweg wurden die unterschiedlichen Kommunikationsformen für den Empfang göttlicher Inspiration erörtert und sind somit in allen Kapiteln des Buches Gegenstand der Diskussion. Vor allem die Ekstase als Zustand, in dem das Bewusstsein des Menschen weitgehend ausgeschaltet ist, wurde kontrovers diskutiert und von mehreren Autoren abgelehnt. Zwar bedeutete die getreue Wiedergabe der auf solche Weise inspirierten Mitteilungen, dass diese nicht durch Interpretationen oder anderes Zutun eigenständig handelnder Autoren verfälscht wurden, jedoch verwiesen Kritiker auf die Gefahr, die in ekstatischer Verzückung empfangenen Botschaften könnten gar nicht göttlichen Ursprungs, sondern vielmehr dämonischer Herkunft sein. Im fünften Kapitel über die politische Dimension der Prophetien wird die Brisanz der Frage deutlich, wie göttliche von dämonischer Inspiration und berufene von falschen Propheten unterschieden werden können. Besonders in Phasen auflebender Endzeiterwartung kam prophetischen Botschaften große Bedeutung in der politischen Kommunikation zu.
In den folgenden drei Kapiteln tritt die Verschriftlichung der göttlichen Botschaften in den Vordergrund, da die meisten mittelalterlichen Propheten mit dem Empfang göttlicher Inspiration einen Schreibauftrag verbanden. Während sich das sechste Kapitel um die inspirierte geistliche und weltliche Dichtung dreht, behandelt das mit 80 Seiten längste siebte Kapitel des Buches Prophetie und Mystik. Obgleich die Ekstase in der Mystik eine große Rolle spielte, betont Christa Tuczay, dass die Autorinnen nicht bloßes Instrument des Gottesdiktats waren, sondern auch Eigenverantwortlichkeit und Eigeninteresse zeigten. Kapitel VIII thematisiert Propheten und Prophezeiungen in der mittelalterlichen weltlichen Literatur und das neunte Kapitel stellt Propheten des Reformationszeitalters vor.
Im zehnten Kapitel fasst die Autorin abschließend die wichtigsten Erkenntnisse ihrer Untersuchung zusammen und verdeutlicht die immense Bedeutung des Begriffspaars Inspiration und Prophetie für die Entwicklung europäischer Wissenskulturen, insbesondere der Theologie, Historiographie und Literatur sowie die große Rolle, die Prophetien bisweilen in der Politik spielten.
Insgesamt ist Christa Tuczay eine dichte Darstellung der faszinierenden Thematik gelungen, die der Leserschaft ein facettenreiches Bild vermittelt. Qualitativ sehr gute Illustrationen veranschaulichen die auf dem neuesten Forschungsstand basierende Argumentation. Das Buch bietet gleichermaßen für Fachpublikum wie für interessierte Laien eine anregende Lektüre.
Christa Agnes Tuczay: Inspiration und Prophetie in der Vormoderne (= Standorte in Antike und Christentum; Bd. 12), Stuttgart: Anton Hiersemann 2024, IV + 489 S., ISBN 978-3-7772-2217-2, EUR 49,00
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