Der Kulturkampf bezeichnet in der deutschen Geschichte den öffentlichen politisch-rechtlichen Konflikt zwischen dem Staat und der Katholischen Kirche, dem Liberalismus und dem Katholizismus sowie dem Protestantismus und dem Katholizismus zwischen 1871 und 1878. Der Ausdruck wird spezifisch dafür, aber auch allgemeiner verwendet. Der Hamburger Soziologe Stefan Breuer verwendet den Begriff auch darüber hinaus für völkische Interventionen in Kunst und Literatur vor 1914. Der Autor versteht unter "Kulturkämpfen" nicht nur den ursprünglichen historischen Konflikt in den 1870er Jahren, sondern vielmehr eine Reihe von nachfolgenden und oft noch schärferen Auseinandersetzungen um kulturelle Hegemonie im Deutschen Kaiserreich. Der Begriff "Kulturkampf" wurde nun auf neue "Feinde" übertragen, die als "Reichsfeinde" galten: Liberale und Juden. Ins Visier geriet nicht mehr nur der Ultramontanismus, sondern generell der "kirchliche Romanismus" und alles Römische, was dem deutschen Wesen angeblich nicht entsprach. Die Polemik gegen das Römische Recht und seine praktisch enorm folgenreiche Theoriefigur des Privateigentums verband Katholiken, Juden und Liberale zu einer einheitlichen Feindbild-Masse. Unter römischem Einfluss sei aus Grund und Boden Stückgut zum Verkauf geworden, dabei sei es aber "ein integrierender Teil der nationalen Wert- und Wohnstätte auf Erden", schrieb 1889 der Schriftsteller Ottomar Beta (6). Zehn Jahre zuvor hatte der Schriftsteller in liberalen Freiheiten "bloße Börsenfreiheiten und Judenprivilegien" gesehen. Die Folge seien die Entchristlichung des Volkes, Materialismus und Sozialismus (6f.).
Die Kulturkämpfe, die Stefan Breuer zwischen 1880 und 1914 nachzeichnet, richteten sich nicht mehr gegen die katholische Kirche, sondern gegen das, was völkische Autoren "Entchristlichung der Gesellschaft", Romanismus und Materialismus nannten. Diese Autoren engagierten sich im künstlerischen und literarischen Feld. Die Kulturkämpfe nach dem Kulturkampf fanden an spezifischen Orten und in einem spezifischen literarisch-künstlerischen Milieu statt. Dazu zählen der "Bayreuther Kreis" um Cosima Wagner, das Hausblatt der Wagner-Gemeinde, die "Bayreuther Blätter" (ab 1878), die antisemitische monatliche "Zeitschrift des 20. Jahrhunderts" (1890-1896) und der 1896 gegründete Eugen Diederichs Verlag in Jena. In Bayreuth und Jena verdichtete sich die radikal antiliberale und antisemitische Kulturkritik.
In neun quellengesättigten, schlaglichtartigen Detailstudien werden die kulturkämpferischen Interventionen präzise ausgeleuchtet und eingebettet. Sie beschäftigen sich mit den Publikationsorten völkischer Interventionen - der Zeitschrift "Das 20. Jahrhundert" und dem Eugen-Diederichs-Verlag - sowie mit schriftstellerischen Eskalationsunternehmern wie dem völkischen Antisemiten Ottomar Beta, der Teil des "Bayreuther Kreises" war, dem Radikalantisemiten und Pionier der Freikörperkultur sowie Musik- und Kunstschriftsteller Heinrich Pudor, mit Heinrich Driesmans, der das völkisch-antisemitische Profil des Eugen Diederichs Verlags schärfte, und mit dem völkischen Jugendbewegungsaktivisten Wilhelm Kotzde(-Kottenrodt). Sie alle verband der "Bayreuther Kreis" und der Eugen Diederichs Verlag, der Gegenstand eines eigenen Beitrags ist. Die beiden letzten Texte beschäftigen sich systematischer mit der Wiederkehr des Erhabenen in der völkischen Kulturkritik und mit den Träumen von einem Dritten Reich. Ihr gemeinsames Ziel waren, so die These des Buches, die neuen Kulturkämpfe, in denen völkische und zunehmend radikal-antisemitische Ideologien den Ton angaben und auf eine grundlegende Umgestaltung der deutschen Kultur im Sinne einer rassisch definierten nationalen Identität zielten. Abgeschlossen wird das Buch mit einer Bibliografie der Texte völkischer Autoren und der Forschungsliteratur.
Der Autor deutet in seiner Einleitung bereits an, dass man das völkisch-literarische Feld auch mit anderen Begriffen wie Zivilisationskritik, Modernekritik, Antimodernismus oder "Konservative Revolution" umschreiben kann. Er entscheidet sich für den logisch sperrigen Begriff der "Kulturkämpfe nach dem Kulturkampf". Anklänge an die Gegenwart mit ihren kulturellen Anfeindungen von rechts dürften nicht unbeabsichtigt sein. Und doch bleibt der Begriff analytisch eher vage. Schließlich bezeichnete der Kulturkampf ebenso wie die "Culture Wars" (Christopher Clark und Wolfram Kaiser) im Kern die Dimension der politischen und juristischen Auseinandersetzung um die Rechte der katholischen Kirche in den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts. Im Zentrum standen immer wieder die Schule und das geistliche Personal. Die in diesem Buch vorgestellten Autoren, Zeitschriften und der Diederichs-Verlag setzten diese "Culture Wars" jedoch nur sehr bedingt fort. Sie eröffneten vielmehr einen ideologischen Frontalangriff auf die Träger der modernen Industriegesellschaft. Ihre Zukunftsvision hatte wenig mit der Politik Adalbert Falks, des preußischen Kultusministers der Kulturkampfzeit, zu tun.
Die hier dargestellten literarischen Kulturkämpfe fanden ihr Publikum ganz besonders in der studentischen Jugend. Überhaupt fällt die Nähe zwischen Lebensreform, Freikörperkultur und radikal-antisemitischen Schriftstellern auf. Wer sich für diese irritierenden Ambivalenzen zwischen Reform und Reaktion - selbst ein alter literarischer Topos - interessiert, findet in diesem Buch eine lohnende Lektüre.
Stefan Breuer: Kulturkämpfe nach dem Kulturkampf. Völkische Interventionen im literarisch-künstlerischen Feld des Deutschen Kaiserreichs (= Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien; Bd. 26), Wiesbaden: Harrassowitz 2024, 228 S., ISBN 978-3-447-12216-0, EUR 58,00
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